Kitabı oku: «M o n d o r a», sayfa 2

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„Also, was bedeutet ‚in der Sache Lhost’?" fragte ich noch einmal. Er aber ging ohne zu antworten hinter den Ladentisch, raffte einen Holzperlenvorhang zur Seite und bat mich, ihm in die Stube dahinter zu folgen. „Braucht ja nicht jeder gleich zu sehen, dass ich doch da bin" erklärte er mit einem Grinsen. „Bitte seien Sie so freundlich und setzen Sie sich." Dabei wies er auf einen Tisch in der Mitte des Raumes, der nur durch ein schmales Fensterband über der Tür zum Laden hin dürftiges Licht empfing. Ich setzte mich auf einen der vier Stühle, deren Sitzpolster genau so abgeschabt waren, wie die grüne Plüschdecke auf dem Tisch. „Also, wieso haben Sie Kenntnis von meinem Hiersein?" fragte ich zum dritten Mal und entleerte den Inhalt meiner Pfeife in einen großen Aschenbecher, der vor meinem Platz stand. Der Tabakmann schien Zeit zu brauchen, um einen Anfang zu finden. Er schaltete eine Tischlampe mit geschnörkeltem Messingfuß und Pergamentschirm ein und sagte dann: „Man hat so seine Verbindungen zum Rathaus.“

Das also war's, mein Anruf im Bürgermeisteramt! „Die scheinen dort drüben nicht ganz dicht zu sein", bemerkte ich und sah ihm dabei in seine dunklen Kinderaugen in einem doch schon von den Jahren gezeichneten Gesicht. War er fünfzig, sechzig, oder noch älter? Bei einem Mann ohne Haare wie er, kann man das nur schlecht feststellen. „Meine Nichte arbeitet im Vorzimmer des Bürgermeisters", sagte er endlich. „Ich weiß, das ist nicht ganz in Ordnung. Aber in so einem Fall – hier ist doch fast jeder von der Geschichte betroffen." – „Von was für einer Geschichte?" wollte ich wissen. „Na die mit dem jungen Herrn Lhost oder Benjamin, wie er genannt wurde." Er sah mich an und fragte jetzt anscheinend im Zweifel: „Wissen Sie davon gar nichts?" Ich war nicht gewillt, meine Karten sofort auf den Tisch zu legen, sondern antwortete nur: „Das, was in der Zeitung stand damals." – „In der Zeitung?" – „ Ja, im hiesigen Tagblatt." Er runzelte die Stirn und man konnte den Stafettenlauf der Gedanken dahinter direkt mitlesen. „Ach, dann sind Sie gar nicht von der Polizei?" wollte er jetzt wissen. Ich verneinte durch langsames Kopfschütteln. „Ja aber – weswegen interessieren Sie sich sonst dafür?" – „Benjamin ist mein Freund." Er sah mich an und nickte dabei ganz langsam. „Ihr Freund. Und weswegen sind Sie hier?" – „Ich dachte, er sei vielleicht auch wieder in Mondora." – „Der Lhost?" – „Ja, Benjamin."

Jetzt schien mein Gegenüber vollends ins Grübeln zu geraten. Endlich fragte er: „Wollte er tatsächlich wieder herkommen?" – „Warum nicht? Er war doch gern hier." – „Gern?" fragte er richtig perplex. „Soviel ich weiß, ja." Ich hielt es für angebracht, ein paar Nebelkerzen zu werfen. „Er hat mir damals zwei Postkarten geschrieben, und wie ich denen entnehmen konnte, war er ganz angetan von Mondora." – „Angetan, aha. Na da können wir uns hier aber wirklich freuen. Hat sich ja auch jeder die erdenklichste Mühe gegeben. Und sonst hat er Ihnen nichts geschrieben, oder nachher erzählt?" – „Um ehrlich zu sein, nein. Wir hatten nach seinem Aufenthalt hier kaum noch Kontakt miteinander. Benjamin ist beruflich viel unterwegs, und da ergab sich keine Gelegenheit weiter." – „Und Sie sind nur so hergekommen, weil es Benjamin auf unserem Berg gefallen hat, und weil Sie meinten er sei wieder hier?" – „Genau so." antwortete ich, er aber sah mich nun erst recht misstrauisch an. „Dann wissen Sie also gar nichts“, sagte er sehr gedehnt und wischte dabei in großem Bogen mit der Hand über die Tischdecke. „Nur, wie gesagt, was in der Zeitung stand, und das war doch eine ganz lustige Geschichte mit diesem Irrtum." – „Ja, das war lustig, richtig komisch war das; wir haben uns damals alle sehr amüsiert, auch später noch", und während er das sagte, gab er sich den Anschein, als beutelte ihn ein tief inneres Vergnügen, das am Ende sogar noch ein gequältes Gelächter hervorbrachte. Doch dann kam sofort wieder der Rückfall in sein lauerndes Interesse: „Und weswegen müssen Sie mit Fido Madera, dem Bürgermeister sprechen? – Ich meine", bedauerte er sofort diese Plumpheit, „im Grunde geht mich das ja überhaupt nichts an. Entschuldigen Sie, ist mir nur so rausgerutscht." – „Macht nichts, macht gar nichts“, antwortete ich in so guter Laune, wie nur möglich, „das kann jeder ruhig wissen. Es geht ganz einfach darum: Nachdem Benjamin so von Mondora geschwärmt hat, will ich mich nach einer Möglichkeit erkundigen, hier auf die eine oder andere Weise immer mal ein paar Sommerwochen zu verbringen. Vielleicht ist sogar eine Immobilie frei, die ich kaufen oder zumindest mieten kann." Nachdenkliche Überraschung bei ihm. Mit weit offenen Augen nickte er mir langsam zu, wobei sich sein ganzer Oberkörper mit bewegte. Trotzdem – ganz frei von Skepsis schien er nicht zu sein. Deshalb ging er zu einer neuen Strategie über: „Wollen Sie vielleicht ein Glas Wein?“ Aber weiter kam er nicht.

In diesem Moment hämmerten dumpfe Schläge draußen gegen die Ladentür. Der Tabakmann schreckte auf, sagte sichtlich verwirrt „entschuldigen Sie, da ist jemand", und verließ hastig den Raum. Draußen hörte ich ihn die Tür aufsperren und dann ein aufgeregtes Geflüster. Vernehmbar war im Wechsel mit seiner eine andere männliche Stimme und hin und wieder ein Bruchstück des gedämpften Disputs, wie: ‚Wahnsinnig, Haus kaufen, Freund, wirst schon sehen’. Ich erhob mich ebenfalls und sah vorsichtig durch den Perlenvorhang, ohne ihn zu bewegen. Im Laden stand vor meinem Tabakmann ein Dicker mit weißer Schürze, anscheinend der Metzger am Platz. Während er flüsterte, stieß er mehrmals mit dem Finger gegen die Brust des sehr viel kleineren Glatzkopfes, und der versuchte die Attacken jedes Mal mit einer Handbewegung abzuwehren, was ihm aber nur selten gelang.

Vorsichtig ging ich wieder ein paar Schritte in den Raum zurück und schaute mich um. Auf einem alten Wohnzimmerbuffet lagen Stapel von Zeitungen. Außerdem gab es da noch einen großen Wandspiegel mit geschnörkeltem Rahmen und haufenweise Kartons jeder Art. Nicht sehr gemütlich, das Ganze. Draußen ging wieder die Ladentür, und der Tabakmann kam zurück. „Wollen Sie schon gehen?" fragte er, als er mich stehen sah. „Ja, es ist Zeit," sagte ich, „es geht auf Mittag zu, und ich möchte noch ein wenig mehr von Mondora kennen lernen." – „Auf unserem Friedhof waren Sie ja schon" bemerkte der Glatzenmann abermals recht unvorsichtig, und es vergnügte mich fast schon zu sehen, wie ihm auch dieser erneute Ausrutscher gleich wieder leid tat. „Ja", antwortete ich lakonisch, „hier kann man scheint's keinen Schritt unbeobachtet tun." – „Kleinstadt eben, Mondora ist eine richtige Kleinstadt." war alles, was ihm dazu einfiel, und dabei grinste er breit.

Das verging ihm jedoch schnell, als ich sagte: „Aber bei dem Stichwort Friedhof fällt mir noch etwas ganz anderes ein – Hochwürden Bretone, woran ist er eigentlich so plötzlich verstorben?" In den Augen meines Gegenübers erschien sofort wieder das Misstrauen. „Kannten Sie ihn denn?" stellte er die Gegenfrage. „Benjamin hat ihn auf einer seiner Postkarten kurz erwähnt." – „Ach so. Na ja, das weiß keiner so richtig, außer der Arzt natürlich, der wird das sicher wissen. Aber der unterliegt ja nun mal seiner Schweigepflicht. Ist eben urplötzlich gestorben, unser Herr Pfarrer. Und außerdem – ich interessier mich auch nicht für so was alles. Man hat schließlich seine eigenen Sorgen."

Ich beließ es dabei, denn was ich wissen wollte, hatte ich erfahren: Es war der Geistliche in dem frischen Grab an der Mauer. Mit dem Bemerken „sehr interessant, unser Gespräch", was ihm auch wieder nicht zu gefallen schien, verabschiedete ich mich von dem Tabakmann bei gegenseitig kurzer Verbeugung und ohne Handschlag, ging schnell durch den Perlenvorhang und den Laden, um draußen, unter dem Säulengang erst einmal wieder tief durchzuatmen. Es war in jeder Weise muffig in diesem Haus! –

Während ich mich langsam unter den Kolonnaden abermals der Gasse links neben der Kirche zu bewegte – noch war es nicht Mittag, und bis ein Uhr hatte ich ja Zeit – hörte ich schon gleich, dass der Tabakladen wieder zugesperrt wurde, diesmal von außen. Ich stellte mich hinter eine der Säulen, stopfte mir erneut eine Pfeife und konnte meinen Glatzkopf mit kurzen, energischen Schritten der Metzgerei zustreben sehen, die auf der östlichen, der Torseite des Platzes war. Nun gut, sollte er seinen Fingerstecher zur Rede stellen, mir konnte das gleichgültig sein, denn mich beschäftigten jetzt ganz andere Überlegungen.-

Warum war der Geistliche, der nach Benjamins Notizen bis zum Schluss recht munter zu sein schien, so urplötzlich verstorben? – Nun freilich, man kennt ja den überraschenden Herztod, oder den ebenso schnellen Exitus durch Hirnschlag, aber in der Regel ist das nicht das Ende eines Priesterlebens, jedenfalls nicht nach meiner, zugegeben lückenhaften Kenntnis auf diesem Spezialgebiet der Statistik. Da fehlte mir folglich ein Teilchen in meinem Puzzle.

Dann die Sache mit den Pressemeldungen im dortigen ‚Tagblatt'; das war natürlich eine Finte von mir, denn gelesen hatte ich gar nichts. Immerhin war es wahrscheinlich, dass über einen solchen Vorfall, wie dem mit Benjamin damals in Mondora, berichtet wurde. Und siehe da, aus der Reaktion meines Tabakmännchens zu schließen, musste berichtet worden sein. Ich nahm mir auf alle Fälle vor, am nächsten Tag die Redaktion in der Provinzstadt unten aufzusuchen. Vielleicht gab es doch das eine oder andere zu erfahren, was ich bisher noch nicht wusste.

Und dann vor allem das seltsame Interesse des Glatzkopfes an meinen Obliegenheiten hier, das gewiss keine Ausnahme war, siehe nur den Disput mit dem Metzger oder die Tatsache, dass ich schon auf dem Friedhof beobachtet wurde. Mit solchen und ähnlichen Gedanken beschäftigt, war ich bereits an der Totenstätte vorbei in den westlichen Teil Mondoras gekommen. Es ging immer noch leicht aufwärts. In den engen Gassen dort war es wie überall in solchen Bergstädten – kaum, dass einem jemand begegnete, der oder die dann mit kurzem Gruß, manchmal auch ohne, vorüber ging, oder vor dem Haus mit irgend welchen Verrichtungen beschäftigt war. Hin und wieder Kinder, die allein oder in Gruppen offensichtlich aus der Schule kamen und sich beeilten, pünktlich zum Mittagessen daheim zu sein. Aus manchen Häusern waren laute Stimmen, mitunter auch Radiomusik zu hören, hier ein Hämmern, dort eine Bohr- oder andere Maschine bei Renovierungsarbeiten. Wegen der Enge und bei den vielen Stufen kamen mir nicht mal die sonst üblichen Jugendlichen auf Motorrollern entgegen; die einzigen Fahrzeuge waren zwei Mountainbikes, die von ihren so jungen wie stolzen Besitzern halsbrecherisch über die Treppen gelenkt wurden. Ansonsten herrschte mittägliche Ruhe in den Gassen, dafür aber war es so heiß, dass auch die Katzen, die ich sah, apathisch in ihrem Schattenwinkel liegen blieben, selbst wenn ich dicht an ihnen vorbei ging. Aus einigen offenen Türen oder Fenstern roch es nach Essen. Mir wäre es inzwischen auch schon recht gewesen, und ich musste wieder an den Apotheker denken. Auch ihm gegenüber war anscheinend Vorsicht geboten, denn meine Frage nach der Tochter wurde, wie ich fand, unangemessen brüsk zurückgewiesen oder zu auffällig spontan negativ beantwortet. Was konnte ihn dazu bewegt haben? Warum passte auch er in das Schema meiner bisherigen Eindrücke hier in Mondora, dass alle irgendwie auf der Hut waren? Nun, man wird sehen, sagte ich mir und war inzwischen am anderen Ende der Stadt angekommen, an einer brusthohen Mauer.

Der Blick von hier aus war wieder eine einzige Offenbarung von Bergseligkeit. Unter mir steil abfallende Felswand, gegenüber die Ketten der nächsten Gipfel, anfänglich noch bewaldet, zum Horizont hin und bei zunehmender Höhe aber immer felsiger und kahler, ein gigantischer Wall nach Westen hin, der das Leben diesseits von allen Einflüssen, wie auch immer, abzuschirmen schien. Die Luft vor diesem Panorama flimmerte, wodurch der Eindruck des fast unwirklich Erhabenen nur noch gesteigert wurde. Lange Zeit konnte ich mich von dem gewaltigen Bild nicht abwenden, bis eine Dohle, die sich wenige Meter entfernt von mir auf der Mauerkuppe niederließ, mich in die Realität meiner Umgebung zurückführte. Kaum bewegte ich mich, flog die Dohle davon. Auf dem kleinen Platz um mich herum standen mehrere Autos. Es war also doch möglich, bis hierher mit dem Fahrzeug zu kommen, und dann sah ich, dass hinter der Mauer, wahrscheinlich um ganz Mondora herum, eine zwar nicht breite, aber immerhin doch befahrbare Straße verlief. Eine Konzession an das moderne Leben? – Blieb zu hoffen, nicht die einzige.

Es war zwanzig Minuten vor eins und an der Zeit, wieder in Richtung Stadtplatz zurück zu gehen. Ich nahm denselben Weg, den ich gekommen war, aber es ging diesmal abwärts und sehr viel schneller, als in der Gegenrichtung. So hatte ich, auf dem Platz angekommen, immer noch gut zehn Minuten und beschloss, einen Blick in die Kirche zu werfen. Das Innere war genau so karg, wie ihr äußeres Erscheinungsbild. Eine Hallenkirche mit dicken Balken unter der Decke des Mittelschiffs, darunter beiderseits je sechs Rundbogenfenster – im Grunde reinste Romanik, aber leider etwas verkitscht durch barocke Zutaten aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert. Der Altar und die Kanzel wirkten in diesem so schlichten Bau plustrig wie geplatzte Kissen. Nicht anders war es in den Seitenschiffen bei den meisten Kapellen und Nebenaltären. Kein nennenswerter Bilderschmuck, dafür aber sehr viel Geraffel aus der Rubrik modernen Devotionalienplunders. Die beiden wirklichen Sehenswürdigkeiten waren ein lebensgroßer Kruzifixus aus Holz und wahrscheinlich späte Gotik, der inmitten des Hauptschiffes von der Decke hing, und in einer der rechten Seitenkapellen ein Tafelbild von Joachim von Sandrart, die Flucht der heiligen Familie, weiß der Himmel, auf welchen verschlungenen Wegen dieses bemerkenswert schöne Gemälde nach Mondora geraten ist. Ich beschloss, noch einmal herzukommen, um es mir genauer anzusehen. Jetzt aber war es an der Zeit, den Apotheker aufzusuchen. Beim Verlassen der Kirche fiel mein Blick noch auf das annähernd fünf Meter hohe Holzkreuz, das links neben dem Hauptportal mit großen, schmiedeeisernen Schellen an der Wand befestigt war. Beim Gang schräg über den Platz zur Apotheke, stellte ich mir die Festlichkeit und die Abläufe vor, wenn das Kreuz am Sonntag vor Ostern aus der Kirche getragen und draußen mit Stangen aufgerichtet wird, um darauf mit Hochwürden und Messdienern voran und mit der örtlichen Blaskapelle und den Würdenträgern des Ortes im Gefolge dreimal rund um den Platz getragen zu werden.

Noch während wir eine ziemlich mühsame Wendeltreppe in das obere Stockwerk des Hauses hinauf stiegen, erzählte ich dem vorausgehenden Gastgeber von meinen Mutmaßungen über die Prozession, und er sagte, oben angekommen, dass ich mir das alles nur nicht zu bombastisch vorstellen sollte. Ein Vergleich mit anderen Prozessionsstätten, zum Beispiel bei Fronleichnam, mit Kostümpomp und zahlreichen Abordnungen der Nachbargemeinden, Hellebarden und Pauken, sei vollkommen abwegig. In Mondora ginge das alles sehr viel schlichter, sozusagen familienintern zu. Dann bat er mich in das Wohnzimmer – ein gemütliches Ensemble antiker Möbel ohne Bevorzugung einer besonderen Stilrichtung - und forderte mich auch sogleich auf, am Tisch Platz zu nehmen.

Es war schon gedeckt, zwar nicht aufwendig, aber im Geschmack des übrigen Hauses gediegen und kostbar, mit Kristallgläsern, Silberbesteck und offensichtlich antikem Porzellan. In der Mitte stand eine dampfende Suppenschüssel mit Minestrone, die folgenden Speisen, der Fisch- und der Fleischgang, waren der Jahreszeit und der Bequemlichkeit angepasst kalt und befanden sich bereits, einladend auf Platten angerichtet, auf dem Tisch. Der schönste Blickfang dort, ebenso reichhaltig und liebevoll dekoriert, war eine Etagere mit Obst aller Art für das Dessert. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Apotheker das alles arrangiert hatte, aber bislang war niemand außer ihm in diesem Hause zu sehen gewesen.

„Machen wir es unkompliziert", sagte er, „jeder nimmt sich, wovon und wie viel er mag", stand dann aber doch wieder auf, um Wein in die Gläser zu gießen. „Sie werden vermutlich Zurückhaltung üben", meinte er indem er sich hinsetzte, „weil Sie ja, wie ich annehme, heute noch den Berg wieder runter wollen. Dort in der Karaffe steht Wasser zur Selbstbedienung. Ich hätte Ihnen ja sonst angeboten, die Nacht unter unserem Dach zu verbringen. Aber wie gesagt, Carla, meine Tochter, ist leider nicht in Mondora, und ich kenne mich da nicht so aus."

„Nur keine Umstände", stimmte ich seinen Überlegungen zu, „ich will in der Tat am frühen Abend wieder weg, weil ich morgen noch einiges in der Stadt unten zu erledigen habe. Mondora und Freund Benjamin aber sind es mir wert gewesen, hier einmal rauf zu schauen." Und da er schwieg, fuhr ich fort: „Sie werden sich vielleicht fragen, weswegen ich überhaupt hergekommen bin?" – „Die Immobilie?" warf er ein. „Nein, nicht die Immobilie. Obwohl ich mich nun schon doch langsam wundern muss, wie gut die Nachrichtenwege hier am Ort funktionieren." – „Ach wissen Sie", sagte er lächelnd, „das ist gar nicht so kompliziert. Der Tabakladenbesitzer war vorhin bei mir in der Apotheke. Und wenn hier jemand herumspaziert und sich mit den Leuten unterhält, dann ist das in einem Nest wie Mondora schon eine kleine Sensation." Ich sah in meinen Suppenteller und löffelte, um jetzt nichts Falsches zu sagen, während er sich gleich über das Fleisch hermachte. „Außerdem", fuhr der Apotheker fort, „brauchte er wieder mal seine Abführtabletten. Das war wohl der eigentliche Grund, weswegen er kam. Das Gespräch über Sie ergab sich einfach so, weil Sie ja auch in seinem Laden waren."

Mich amüsierte insgeheim und nicht ganz passend die Vorstellung vom Tabakmännchen auf dem Klo, und ich bemerkte nur kurz: „Er hatte mich von sich aus rein gebeten." Was dazu führte, dass Herr de Pellegrino – um meinem Problem in dieser Apotheke endlich einen Namen zu geben - nun doch nachdenklich wurde. Problem ja auch deswegen, weil ich dabei bleiben musste, eigentlich überhaupt nichts zu wissen. „Da sehen Sie mal, wie neugierig die Leute sind“, sagte der Apotheker endlich, „und was für eine Attraktion Sie hier abgeben. Möchten Sie noch was von dem Fleisch?" – „Nein danke", lehnte ich ab, weil nur noch eine Scheibe auf der Platte lag, „aber es schien recht gut zu sein." – „Ja, Kalbfleisch ist immer noch das Beste, was man bekommen kann. Na dann bin ich so frei, und nehme mir auch das letzte Stück", sprach's und gabelte sich das Fleisch auf seinen Teller. „Übrigens – wenn Sie etwas von dem Obst wollen, es steht nicht nur da, sondern sollte gegessen werden. Ganz frisch, heute gekauft, wäre schade, wenn es alt würde."

Ich dankte und nahm mir einen Apfel, den ich mit dem bereit liegenden Obstmesser schälte, und dann wollte ich endlich zur Sache kommen: „Sie erwähnten heute Vormittag, dass Benjamin eine Zeitlang in Ihrem Haus wohnte?" – „Ja", sagte er und kaute nachdenklich auf dem letzten Bissen herum. Dann schluckte er ihn runter und fuhr fort: „Das ergab sich eben so, weil Benjamin ja den Unfall hatte. Wissen Sie überhaupt davon?" – „Nein", behauptete ich trotz besserer Kenntnis, „ich weiß nur, dass er sich längere Zeit hier aufgehalten hatte. Das überrascht mich jetzt wirklich, obwohl - die Umgebung Mondoras muss ja ein Eldorado für Bergsteiger sein. Ist er etwa abgestürzt?" – „Nein, das war Gott sei Dank nicht der Fall, aber ich merke schon, dass Sie überhaupt keine Einzelheiten kennen. Sind Sie ihm denn seitdem nicht mehr begegnet?" – „Leider war da irgendwie der Wurm drin, ganz besonders, weil ich längere Zeit im Krankenhaus zubringen musste. Und Benjamin hatte aus beruflichen Gründen keine Gelegenheit mehr, mich zu besuchen. Das ist alles ziemlich dumm gelaufen. " – „Und wo ist er denn jetzt?" Ich zuckte die Achseln. „Ich weiß es absolut nicht. Ich hoffte sogar, ihn vielleicht zufällig hier in Mondora zu treffen." – „Ach so. – Dann haben wir ja beide keine Ahnung, wo er abgeblieben ist." Er dachte längere Zeit nach, ehe er fortfuhr: „Das beunruhigt mich jetzt schon genau wie Sie, denn schließlich sind wir uns ja, ich meine Benjamin und ich, im Laufe der Zeit durchaus näher gekommen. - Falls er also von sich hören lässt, teilen Sie mir das bitte gleich mit?" Ich nickte einwilligend, obwohl ich ihm die Anteilnahme immer noch nicht so recht abnehmen konnte. -

„Übrigens, falls Sie rauchen wollen", sagte er plötzlich wie nebenbei aus erkennbarer Nachdenklichkeit heraus, „tun Sie sich keinen Zwang an." Ich dankte und ging auf sein Angebot ein, indem ich meine Pfeifen-Utensilien aus der Tasche kramte und anfing, mir meine Bruyère zu stopfen. Auch Herr de Pellegrino stand auf und holte sich eine Zigarre aus dem schweren Barockschrank an der Wand mir gegenüber, die, wie das ganze Zimmer, mit Seide in einem dezenten Streifenmuster, allerdings vom jahrelangen Zigarrenrauch schon erkennbar vergilbt, tapeziert war.

So ergab sich eine kleine Zäsur in unserem Gespräch; beide pafften wir gedankenvoll vor uns hin, bis der Apotheker wieder anfing: „Ich muss da etwas weiter ausholen, damit Sie die Zusammenhänge verstehen. Es war also am Sonntag vor Ostern. Die Präliminarien für den Palmsonntag hier in Mondora fangen schon immer sehr früh an – so um sieben Uhr morgens. Da wird das Holzkreuz in der Kirche aus seinen Halterungen genommen, da legen die Frauen, draußen auf dem Platz noch letzte Hand an den Blumenschmuck, und Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr spannen Absperrungsbänder zwischen den Säulen der Kolonnaden und zwischen etlichen Pfosten vor der Kirche und dem Schloss. Folglich wird der Platz für die Prozession freigehalten, die Zuschauer bleiben hinter den Absperrungen. Und es sind nicht wenige. Sie kennen das ja aus eigener Erfahrung – wenn sich hier in Mondora etwas zuträgt, dann nehmen fast alle daran Anteil. Außerdem – inzwischen hat sich das Spektakel auch schon anderswo rum gesprochen, und von draußen kommen einige Fahrzeuge, drei oder vier Busse und etliche Pkw. Die Busse fahren dann wieder runter, wegen der viel zu engen Posthaltestelle, und alle zusammen müssen auch bis kurz vor acht da sein, denn Punkt acht wird das Tor zugemacht und niemand kann mehr rein.

Mit einem Böllerschuss beginnt dann auch die Prozession. Die Portalflügel der Kirche öffnen sich bei laut einsetzendem Orgelspiel, ein Schwarm von weiß gekleideten Kindern mit Palmwedeln in den Händen – die Firmlinge der letzten zwei Jahre – hüpft und tanzt über die Kirchentreppen auf den Platz hinaus, dahinter unsere paar Ordensschwestern vom Kindergarten, und dann die Monstranz, getragen vom Pfarrer unterm Baldachin, um ihn herum die Ministranten. Dann kommt das Kreuz. Es wird waagerecht heraus getragen und erst unterhalb der Treppen zum Kirchenportal aufgerichtet. Das ist schon ein ganz schönes Gewicht von einigen Zentnern, dieses aufrecht stehende Kreuz zu tragen. Ich war in meiner Jugend auch zwei- dreimal dabei. Acht Burschen tragen innen, an kreuzweis durch den Schaft gesteckten Holmen die Hauptlast, während acht weitere, je zu zweit, an den vier schräg stehenden Stützstangen gehen. Sie sind auch gleichzeitig die Ersatzleute, falls einer der Hauptträger, innen am Kreuz, mal schlappmacht. Ein ziemlicher Balanceakt. Einmal, 1863, ist das Ganze auch schon mal umgekippt, allerdings ohne größeren Schaden zu nehmen. Nur der hinzu springende Bürgermeister wurde erschlagen. Es heißt, seitdem kommt hinter dem Kreuz erst die Musikkapelle, dann erst der Bürgermeister mit den Stadträten und sonstigen Honoratioren. Den Schluss bilden die Mitglieder der hiesigen Bruderschaft zum Heiligen Kreuz, ganz in weiß die langen Kittel und auch die hohen Spitzhauben, in denen nur für die Augen und für den Mund Öffnungen sind."

Hier machte de Pellegrino eine Pause, streifte die lang gewordene Asche seiner Zigarre ab, und ich hatte Gelegenheit, ihn mir zwar nicht als Ku-Klux-Klan-Gespenst, sondern unter den Honoratioren oder beim Stadtrat vorzustellen. Auch ich klopfte meine Pfeife aus, dann fuhr er fort: „Die Prozession geht also dreimal um den Platz – ein Symbol der Dreifaltigkeit, wie gesagt wird - und weiter bis zum geschlossenen Stadttor. Dort wird das Kreuz aufrecht auf den Boden gestellt, alles, was dazu in der Lage ist, sinkt auf die Knie nieder und die beiden Torflügel öffnen sich langsam. Bisher war es so, dass vor dem Tor auf diese Weise und zu dieser Zeit nur immer die Morgensonne erschien, abgesehen von ein paar Nachzüglern, die dort standen, weil sie zu spät gekommen waren. Ihr Ausharren lohnt sich trotzdem, weil hinterher, nach Beendigung der Feierlichkeiten, überall in den Gassen an Ständen Wein und allerlei Imbiss angeboten wird. Auch die Prozession findet hier ihren Abschluss mit einem Gebet im Knien und einem gemeinsam gesungenen Kirchenlied im Stehen, kräftig unterstützt natürlich von unserer Stadtkapelle. Danach wird das Kreuz ziemlich profan umgelegt und durch die Menge, nun auch auf dem Stadtplatz, zur Kirche zurück getragen. So war das immer. Nur nicht in diesem Jahr. Da ging das Tor auf, und dahinter erschien, umglänzt von der Morgensonne im Rücken und auf einem Esel sitzend - der Heiland."

Auch an dieser Stelle legte Herr de Pellegrino wieder eine Pause ein und drückte den Rest seiner Zigarre im Aschbecher aus. Dennoch blieben seine Augen auf mich gerichtet, um meine Reaktion zu beobachten. Ich tat überrascht, aber in Maßen, denn erstens wusste er ja nicht, dass ich Benjamins Aufzeichnungen gelesen hatte, und zweitens wusste ich nicht, was in den Pressemeldungen stand. Natürlich war das nicht der Heiland auf dem Esel. Und so sagte ich lediglich: „Die Erfüllung also jahrhundertelanger Voraussagen?"

„Na ja“, meinte er, „ja und nein. Es war, um es kurz zu machen, unser gemeinsamer Freund." – Was tun? Jetzt musste ich meine Rolle als vollkommen Unwissender wohl oder übel zu Ende spielen. „Benjamin?" fragte ich deshalb so überrascht wie möglich, fügte aber gleich hinzu: „Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen, dass ausgerechnet er sich zu einer solchen Albernheit hinreißen lässt."

Der Apotheker lächelte und fuhr dann in seiner Erzählung fort: „Wenn es nur eine Albernheit gewesen wäre, dann hätten unsere zwei Gendarmeriebeamten, die auch am Tor waren, um die links und rechts wartenden Nachzügler daran zu hindern, noch während der Schlussandacht hereinzuspazieren, dem Spuk selbstverständlich ein schnelles Ende bereitet. Aber es war ja ganz anders, es war – ein – Krankentransport. Benjamin hatte sich an diesem Morgen bei einem Unfall mit seinem Roller das Bein gebrochen, das rechte. Wie er nachher erzählt hat, war er – um dem Rauf und Runter der Busse auf der eigentlichen Straße zu entgehen - einen ziemlich halsbrecherischen Neben- und Umweg gefahren, eigentlich nur ein Trampelpfad, wo Hirten ihre Ziegen und Schafe zu den höher gelegenen Weideflächen lang treiben. Da ist es also passiert, und zum Glück war ein Schäfer in der Nähe, der den Crash gehört hatte. Die Hirten hier haben meistens einen Esel bei ihrer Herde, auf den sie im Bedarfsfall aufsitzen, um sich bei längeren Wanderungen tragen zu lassen. Der gute Mann, mit seinem Vollbart und Schlapphut ebenfalls ziemlich biblisch im Aussehen, half also unserem Benjamin auf seinen Esel und führte ihn hierher nach Mondora, wo sie dann vor dem sich öffnenden Tor wie eine Erscheinung aus der heiligen Schrift standen."

„Ungeheuer wirkungsvoll", entfuhr es mir, und auch ich musste jetzt lächeln. „Ja, die Wirkung war ungeheuer“, setzte de Pellegrino seine Erzählung fort. „Ein einziger Aufschrei ging durch die Menge, eine Gasse bildete sich, und einer fing an zu singen, und immer mehr fielen ein – Herr Jesus, wir sind hier, sind alle Gottes Kinder..." – „Nimm uns in Gnaden auf, sind allzumalen Sünder" vollendete ich die Strophe dieses bekannten Kirchenliedes. “Ja, allzumalen Sünder. Wer aber war hier der Sünder? Niemand wusste das zu sagen, und weiß es heute noch nicht. Jedenfalls war der Tumult und die allgemeine Verzückung komplett, noch dazu, weil auch unsere Stadtmusikanten mit ihren Instrumenten in den brausenden Gesang einfielen. So etwas hatte Mondora noch nie erlebt. Der Schäfer nutzte die gebildete Gasse und führte seinen Esel samt Benjamin in die Stadt rein, die weißen Firmkinder hüpften und sangen ihnen voraus, die Stadtkapelle schwenkte ein und folgte ihnen blasend und paukend bis zum Platz hier."

„Ja und Benjamin?" fragte ich nun wirklich interessiert, weil diese Einzelheiten meine bisherigen Vorstellungen von der Geschichte nach der mühsamen Puzzle-Lektüre so gut abrundeten, „hat er denn gar nichts getan, um dieses – sagen wir mal Riesentheater zu beenden?" – „Ach der arme Kerl, " zeigte sich de Pellegrino nun ehrlich mitfühlend, „der stand ja permanent vor dem Kollaps, drohte ohnmächtig zu werden vor lauter Schmerzen. Kaum, dass er sich noch auf dem Esel halten konnte. Aber das war es ja gerade, was die Menge in immer größere Ekstase versetzte, was so gründlich missverstanden wurde: Er saß wie in Trance oder Meditation mit geschlossenen Augen auf dem Tier, hielt sich mühsam mit beiden Händen an der kurzen Mähne des Esels fest, und immer, wenn er links oder rechts runter zu rutschen drohte, versuchte er, mit dem entgegengesetzten Arm weit ausholend die Balance zu halten. Das wurde jedes Mal als segnende Geste missverstanden und mit einem Aufheulen der Menge und großem Applaus beantwortet."

„Und was geschah weiter?" wollte ich wissen. „Nun, inzwischen war man vor meiner Apotheke angekommen – wahrscheinlich das Ziel des Schäfers – und ich stand, zusammen mit meiner Tochter und einigen Bekannten vor dem Laden. Carla ist nicht nur Apothekenhelferin in unserem Geschäft, sondern auch ausgebildete Krankenschwester. Man hob Benjamin gemeinsam von dem Esel und trug ihn herein, während ich inzwischen im Laborraum eine Trage aufgestellt hatte. Das Hosenbein musste aufgeschnitten werden, und Carla versorgte den lädierten Unterschenkel, so gut es vorerst ging. Gott sei Dank waren keine offenen Wunden da, sondern nur ein riesiges Hämatom in der Schienbeingegend. Inzwischen war auch unser Arzt, Dr.Besan, herbei gerufen worden, und der diagnostizierte, ohne Garantie natürlich, lediglich den Bruch des Schienbeins. Das Wadenbein, meinte er, wäre nicht in Mitleidenschaft gezogen. Trotzdem sollte das Ganze stationär behandelt und geröntgt werden. Aber wie war zu verfahren? Wir wussten nicht einmal, wen wir da vor uns hatten. Und als Jesus konnten wir den Patienten ja nur schlecht unten im Krankenhaus einliefern lassen. Na ja, Spaß beiseite.

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