Kitabı oku: «M o n d o r a», sayfa 3

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Unterdessen war Benjamin nach einer kurzen Ohnmacht auch wieder bei Bewusstsein; man konnte mit ihm sprechen. Ich überließ ihn Dr.Besan und meiner Tochter, denn weitaus wichtiger erschien mir im Augenblick die Diskussion, draußen im Laden. Dort hatten sich nun auch unser Bürgermeister, Hochwürden Bretone und unser Schulleiter, zugleich auch Organist Vincenzo Oppental eingefunden. Außerdem stand einer der beiden Gendarmen, etwas abseits, dabei. Es ging darum, wie mit der Menge, draußen auf dem Platz, zu verfahren sei. Denn die war unseren Schaufenstern gefährlich nahe gekommen; einige drückten sich sogar schon die Nasen platt. Hin und wieder begann jemand mit einem neuen Lobgesang, und viele beteiligten sich. Es war ein anhaltendes Schreien und Singen auf dem Platz, die reinste Massenhysterie."

De Pellegrino stand auf, um sich eine neue Zigarre zu holen. „Wollen Sie nicht doch noch ein Glas Wein trinken?" fragte er dabei. Ich lehnte dankend ab, goss mir aber ein weiteres Glas Wasser ein. „Was wurde denn nun in der Apotheke besprochen, kam man zu einer Entscheidung?" fragte ich, nachdem ich getrunken hatte. Noch während er mit dem Anzünden seiner Zigarre beschäftigt war, sagte er unter dem Hantieren und Paffen: „Eine – Lösung – hatte – natürlich niemand parat." Dann lehnte er sich zurück und genoss mit geschlossenen Augen den ersten tiefen Zug. Er schien fast dankbar, dass ich ihn dabei nicht gestört hatte, denn er lächelte mir kurz zu und kam gleich darauf wieder zur Sache: „Was hätten Sie denn getan, in einer solchen Situation?" – „Hm-" überlegte ich und hob die Schultern, „da ist natürlich guter Rat teuer." – „Eben. Und rasch musste entschieden werden! Es gab zwei Meinungen: Schnelle Verstärkung unserer lachhaften Gendarmerie anfordern – dafür waren der Lehrer und natürlich der Sergeant – oder einen Versuch in Güte unternehmen und hier vom Wohnzimmer aus", und dabei deutete er auf die beiden Fenster zum Platz hin, „eine Ansprache an das Volk unten zu halten. Dafür waren der Bürgermeister und ich, während Hochwürden ganz ausfielen. Unser guter Herr Pfarrer“ – und hier machte der Apotheker eine Pause und kaute an seiner Oberlippe – „war dem Nervenzusammenbruch nahe, ihm liefen die Tränen übers Gesicht.“

„Auch verständlich", sagte ich. – „Ja natürlich, in seiner Haut wollte an diesem Tag keiner stecken. Jedenfalls schied ich, als sozusagen nicht Offizieller, auch aus, und die leidige Aufgabe blieb an dem armen Bürgermeister hängen. Und der hat es, wie ich meine, ganz gut gemacht, obwohl es nachher auch wieder Stimmen gab, die Kritik übten: Wie konntest du so was sagen – na ja, man kennt ja diese Nachgeplänkel."

„Und was hat er gesagt?" – „Ach, der hatte natürlich erstmal Mühe, sich überhaupt Gehör zu verschaffen, noch dazu ohne Mikrophon oder ähnliches. Erst, als auch der Sergeant, Hochwürden und ich mit hinzu ans Fenster traten, wurden die Leute unten überhaupt aufmerksam. Und dann dauerte es fast eine Viertelstunde, ehe auf dem Platz einigermaßen Ruhe herrschte." – „Jetzt bin ich aber doch ziemlich gespannt, was er gesagt hat." – „Also brillant war es gerade nicht, aber immerhin ist ihm was eingefallen. Um es kurz zu machen, er erzählte den Leuten, dass die Stadt aus Erwägungen heraus, etwas mehr für den Fremdenverkehr zu tun, die Prozession sozusagen komplettiert habe, und dass das Ganze eine Inszenierung war, um herauszufinden, wie die Sache wirkt. Einige auf dem Platz riefen empört pfui oder pfiffen, andere lachten, die Mehrzahl aber applaudierte, so dass der gute Bürgermeister noch eins draufsetzte und versprach, von nun an jedes Jahr so zu verfahren.

„Nicht schlecht", entfuhr es mir. Der Apotheker sah mich an und nickte nachdenklich. Schließlich sagte er: „Da kommen doch Kosten auf Mondora zu, von denen niemand auch nur eine blasse Vorstellung hat. Da muss die Auffahrtsstraße verbreitert werden, da müssen Übernachtungsmöglichkeiten her, und so weiter, und so fort. Attraktionen für den Fremdenverkehr – schön und gut. Aber wir haben hier doch gar keinen Platz! Wo sollte hier denn noch ein Hotel hingebaut werden? Also wenn Sie mich fragen – da ist der Bürgermeister ein wenig übers Ziel hinausgeschossen. Ganz abgesehen von den theologischen Bedenken, die auch geltend gemacht wurden. Das ging ja hin bis zum Vorwurf der Blasphemie. Andere verwiesen auf Oberammergau bei Ihnen in Bayern und meinten, dass dann jedes Krippenspiel Blasphemie wäre. Sie sehen, da tat sich was in Mondora. Und alles nur, weil Benjamin sich ein Bein gebrochen hatte.“

„Und?" wollte ich wissen, „soll denn der Jesus-Auftritt im nächsten Jahr wiederholt worden?" – „Nein", antwortete de Pellegrino nach einigem Zögern, „allein schon aus Pietät dem verstorbenen Pfarrer gegenüber, der total dagegen war." Dann zog er eine goldene Uhr aus der Westentasche, wiegte den Kopf und sagte: „Schade, dass Sie und ich viel zu wenig Zeit haben, um uns noch weiter zu unterhalten. Ich muss jetzt gleich wieder runter in die Apotheke, es geht auf drei zu." – „Ach du liebe Zeit", entschuldigte ich mich, „da habe ich, tut mir leid, beim Zuhören gar nicht drauf geachtet. Aber es war wirklich interessant." Beide erhoben wir uns, und beim Runtersteigen über die Wendeltreppe sagte er: „Über diese Geschichte mit Benjamin könnte man sich noch tagelang unterhalten. Vielleicht haben Sie wieder mal Gelegenheit, und dann für etwas länger, um nach Mondora zu kommen. Würde mich freuen. Ach ja, übrigens – bei der Abfahrt, gleich nach dem Tor, scharf links einschlagen! Könnte sonst gefährlich werden." Ich versicherte ihm, darauf zu achten, und dass auch mir daran läge, wiederzukommen, weil ich noch viele Fragen hätte, gerade was Benjamins Aufenthalt hier am Ort beträfe, und so weiter – was man so sagt bei Verabschiedungen.

Da stand ich nun wieder unterm Säulengang und hatte noch, bis zum Termin beim Bürgermeister, eine gute halbe Stunde. Was tun? – Ich entschloss mich, was ich ja sowieso vorhatte, den Sandrart in der Kirche noch einmal genauer anzuschauen. 'Die heilige Familie auf der Flucht'. Ein Bild, dem der Künstler auffallend große Ausdruckskraft zu geben verstand. Nichts Manieristisches, wie in manchen seiner Werke, sondern die schiere Angst, besonders im Gesicht der Maria. Sandrart wird dabei die Not der Flüchtlinge seiner Zeit vor Augen gehabt haben, denn dreißig Jahre seines Lebens tobte das Inferno durch Deutschland – eben der Dreißigjährige Krieg. Als mein Blick zum Esel wanderte, auf dem die Mutter mit dem Kind saß, musste ich auch gleich wieder an die Szene vor dem Tor denken. Immer waren es die Esel, die geduldig das Leid der Menschheit tragen halfen. Und wie wurde es ihnen gedankt? – Dumm nannte man sie und störrisch. Und was hatte der Esel im Bild für einen vertrauensvollen Ausdruck, wie er so auf den armen Joseph schaute, der im Augenblick auch nicht so recht zu wissen schien, wo es lang ging. Klischees sind halt von jeher ein Grundübel der menschlichen Dummheit. So und ähnlich stellte ich meine Betrachtungen an, als ich vom Mittelgang her ein Räuspern vernahm. Jemand stand da im Dämmerlicht, für mich nur als Silhouette erkennbar, und legte, als ich mich ihm zuwandte, demonstrativ einen Zettel auf den vordersten Platz der Bankreihe zwischen uns. Danach eilte er, wie um nicht erkannt oder angesprochen zu werden, aus der Kirche. Ich ging hin, nahm das Papier und las in großen Buchstaben mit Bleistift geschrieben: HAUEN SIE AB AUS MONDORA!!!

Das war deutlich. Noch mit dem Zettel in der Hand, lief ich auch zum Ausgang. Natürlich war niemand, der infrage kommen konnte, im Umkreis des Kirchenportals zu sehen. Nur das ganz normale Leben auf dem Platz – zwei Dutzend alter Männer auf und vor der Steinbank am Schloss, Frauen, die sich miteinander unterhielten und etliche Passanten, kreuz und quer in alle Richtungen. Ich faltete den freundlichen Brief zusammen und steckte ihn in meine Jackentasche. Dabei fiel mir ein notdürftig entfernter, aber deutlich sichtbarer Brandfleck am Kirchenportal auf. Noch immer waren ein paar Minuten Zeit. So ging ich langsam zum Schloss rüber und an den Gesprächsgruppen im Bereich der Steinbank entlang. Alles verstummte. Diejenigen, die vor den Sitzenden standen, drehten sich mir zu und musterten mich mit teils neugierigen, teils leeren Gesichtern. Ich grüßte, aber es kam fast nie ein Gegengruß.

In der Eingangshalle des Schlosses, wohl halb so tief wie das ganze Gebäude, war es von den zwei großen Frontfenstern her angenehm hell. Ein repräsentativer Raum mit dorischen Halbsäulen an den Wänden, dazwischen hohe Türen und mehrere Nischen, in denen Götterstatuen nach antiken, griechischen Vorbildern standen.. Links hinten führte eine breite Marmortreppe in den ersten Stock zu den Amtsräumen. Ich stieg sie langsam hoch und studierte oben, in einem nüchternen Vestibül, die Türschilder.

Zimmer und Vorzimmer des Bürgermeisters lagen, wie zu vermuten war, auf der linken Seite zum Platz hin. Ich klopfte an und wartete, weil niemand sich hören ließ. Erst nach einer ganzen Weile öffnete der Bürgermeister persönlich die Tür; ein überraschend freundlich wirkender Mensch, von ungefähr vierzig Jahren. „Fido Madera", stellte er sich vor und gab mir lächelnd die Hand. Auch ich nannte meinen Namen, und er forderte mich auf, gleich in sein Zimmer, rechts neben dem Sekretariat, vorzugehen. Die beiden Damen vom Vorzimmer – davon eine sehr viel jünger, vermutlich die besagte Nichte - saßen an ihren Schreibtischen und taten, als ob sie heftig beschäftigt wären. Madera schloss die Tür hinter uns und wies auf eine Sitzgruppe visavis von einem großen Kamin. „Bitte", sagte er, „wir haben Sie schon kommen sehen. Sie waren in der Kirche?" – „Ja", antwortete ich, „da war noch etwas Zeit, und ich interessiere mich für die Malerei des siebzehnten Jahrhunderts." – „Ah, unser Sandrart", erriet er gleich richtig – war ja auch nicht schwer bei der übrigen Kirchenausstattung – „der hing einmal hier im Schloss und wurde später, unter den Bischöfen, der Gemeinde übereignet. Was aber kann ich für Sie tun?" Da es mir ihm gegenüber nicht zweckdienlich erschien, meine Vorkenntnisse zu verbergen, erklärte ich: „Schon am Telefon hatte ich ja anzudeuten versucht, dass ich ein Freund von Benjamin Lhost bin, und dass mich sein diesjähriger Aufenthalt, hier in Mondora, einigermaßen beschäftigt, um nicht zu sagen - beunruhigt. Letzteres habe ich natürlich am Telefon für mich behalten. Jedenfalls konnten wir uns, ich meine da Benjamin und mich, später nicht mehr darüber austauschen, hatten halt keine Gelegenheit dazu. Inzwischen ist er leider wieder spurlos verschwunden." – „Aber Gott sei Dank, nicht hier bei uns", warf Madera ziemlich trocken ein. „Das habe ich auch schon mitgekriegt", antwortete ich, „die Erleichterung darüber wurde mir schon verschiedentlich angedeutet, und eigentlich nie im Ton des Bedauerns." – „Ist das ein Wunder?" meinte er immer noch etwas reserviert, „bei der Aufregung damals? Da blieb ja, wie man so sagt, kein Auge trocken." – „Ist nur zu verständlich", räumte ich ein, „wenngleich ich heute nicht immer den Eindruck hatte, als sei nur Erleichterung die Triebfeder der Reaktionen." – „Warum?" wollte er wissen. – „Das zum Beispiel", sagte ich und holte den Zettel aus meiner Tasche, „bekam ich eben in der Kirche geschenkt." Ich faltete das Papier auseinander und schob es ihm über den Tisch zwischen uns zu. Er nahm den Zettel, las kurz den Inhalt, und legte ihn dann langsam, wie angewidert, auf den Tisch zurück. Dabei murmelte er, mehr zu sich selbst, „diese Idioten, die geben und geben doch keine Ruhe." – „Welche Idioten?" wollte ich jetzt wissen. „Ach", seufzte Madera, das ist nun doch eine ziemlich lange Geschichte. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?" Ich nickte, und er ging zu einem Kühlschrank hinter seinem Schreibtisch, aus dem er eine Thermo-Kanne und auch gleich zwei Gläser holte. Während er einschenkte, sagte er nicht ohne Stolz: „Das ist Beerensaft, macht meine Schwester selber.“ – „Sehr gut", bestätigte ich ihm, nachdem ich getrunken hatte, „wirklich erfrischend." Er nickte, trank auch, und als er das Glas auf den Tisch zurückgestellt hatte, fuhr er fort: „Sie müssen wissen, oder wissen es schon, dass Mondora mehrheitlich ein erzkonservativer Ort ist. Trotzdem bin ich, als einziger Gegenkandidat und noch dazu von der Sozialistischen Partei, vor gut zweieinhalb Jahren in dieses Amt gewählt worden. Mein Mitbewerber von der Vaterlandsunion, die hier seit Jahr und Tag regiert hatte, war kurzfristig ausgefallen und wurde durch einen chancenlosen Kandidaten ersetzt."

„Das müssen Sie mir genauer erklären", warf ich ein, weil es mir schon ein Rätsel war, dass ausgerechnet ein Sozialist in Mondora zum Bürgermeister gewählt worden ist. –„Es liegt mir an und für sich nicht, so aus dem Nähkästchen zu plaudern", setzte er nach einigem Zögern fort, „aber erstens weiß das hier sowieso jeder, und zweitens sind Sie ja von jenseits der Berge, und werden schwerlich davon irgend einen Gebrauch machen. Man ist meinem Vorgänger und erneutem Amtsanwärter auf die Schliche gekommen, dass er ein durch und durch korrupter Herr war, der überall sein Händchen aufgehalten hatte. Was ihm das Genick brach, war die Tatsache, dass er auch von Staatsgeldern, die für den Ausbau einiger Abschnitte der Serpentinenstraße zugeteilt wurden, eine ziemliche Summe abgezweigt hatte. Angeblich nicht für sich, sondern für seine Partei, aber die hat das vehement zurückgewiesen. Wie dem auch sei – sein Nachfolgekandidat von der Vaterlandsunion, der einzige Metzger und eh schon der reichste Mann am Ort, war bei den armen Schluckern hier total unbeliebt. Seitdem kämpfe ich so ziemlich an allen Fronten als überraschend gewählter Bürgermeister, und die Metastasen der enormen Gegenmacht reichen bis in mein Vorzimmer."

„Keine angenehme Situation", musste ich zugeben, „und was ist aus dem Mann mit der offenen Hand geworden?" – „Der wurde wegen Untreue lediglich zu einer Geldbuße verdonnert, weil es in dem Prozess nur um die verschwundenen Staatsgelder ging. Er betreibt seitdem seinen Tabakladen, drüben auf der anderen Seite, der ihm schon immer gehört hatte. Seine Frau führte das Geschäft bis kurz vor ihrem Tod. Seitdem lebt er ziemlich zurückgezogen und ist wohl nur noch Mitglied der Bruderschaft. Böse Zungen behaupten, der hohen Zipfelmütze wegen, weil ihn die Natur bei der Körpergröße etwas vernachlässigt hat."

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, weil ich Mühe hatte, mir das Tabakmännchen als Bürgermeister vorzustellen. Aber so ist halt der Lauf der Dinge – was man zu allerletzt vermuten würde, stellt sich dann doch als die eigentliche Realität des Lebens dar. Ich wollte aber wieder zu unserem Hauptthema zurück und fragte: „Wie war das dann für Sie persönlich, als Benjamin hier auftauchte? Man hat mir ja berichtet, dass Sie den Tag der Prozession in diesem Jahr mit Bravour gemeistert haben sollen." – „Wer hat berichtet?" fragte Madera sofort zurück." – „Der Apotheker."

„Interessant! – weil man dabei wissen muss, dass der Apotheker hier bis vor kurzem einer der führenden Köpfe der Vaterlandsunion war", erklärte Fido Madera.. „Und von Bravour kann überhaupt keine Rede sein. Ich sagte den Menschen unten auf dem Platz nur, was mir so spontan einfiel. Ich bin zwar auch Katholik, aber warum nicht mit Hilfe der Prozession Touristengelder nach Mondora holen? Solche Geschäfte laufen doch weltweit, selbst in Rom. Und schließlich muss ich als Bürgermeister immer auch an die Finanzen denken. Ich war erst heute wieder unten in der Regionalverwaltung und habe um erneute Mittel für unsere Straße gebettelt. Aber seit dem Flop mit meinem Vorgänger, scheinen die auf diesem Ohr total taub zu sein." –

„Ich nehme an, die sind auch nicht gerade von Ihrer Partei?" – „So ist es. Die werden doch den Teufel tun, und ausgerechnet mir als Missgeburt diese Gelder bewilligen. Ich könnte mich ja hier festsetzen, und das wäre schon eine ausgesprochene Katastrophe."

Beide lachten wir, verhalten zwar, aber verständnisinnig. „Und dann hatten Sie mit der weiteren Entwicklung um Benjamin gar nichts mehr zu tun?" – „Nur ganz zum Schluss noch, als der Bischof hier plötzlich auftauchte, um Tabula rasa zu machen. Kennen sie die Geschichte?" Die kannte ich nun wirklich nicht, weil darüber nichts mehr in den Unterlagen stand; deshalb schüttelte ich den Kopf. In diesem Augenblick klopfte es leise an der Tür, und die jüngere Sekretärin erschien, blieb aber an der Schwelle stehen. „Es ist jetzt gleich halb fünf", sagte sie, „Sie haben noch Ihre Versammlung, Herr Madera, und Giovanna ist schon gegangen. Kann ich dann auch gehen?" – „Ja natürlich", entschied der Bürgermeister, „und schönen Dank für die Erinnerung." Dann wandte er sich mir wieder zu und drückte umständlich sein Bedauern aus. „Dieser Tag ist wieder mal total zu vergessen. Nichts bekommt man auf die Reihe oder zu irgendeinem Abschluss. Ich finde es sehr schade, aber ich muss Sie jetzt leider etwas unvermittelt hinaus komplimentieren. Hoffentlich hat es sich für Sie doch ein wenig gelohnt, hierher nach Mondora zu kommen." – „Aber ja", sagte ich, „ich hatte viele interessante Eindrücke und auch sehr informative Gespräche. Wobei ich unseres hier besonders hoch einschätze. Ich muss Ihnen dafür danken." Wir erhoben uns beide und reichten uns die Hand. Dabei hatte ich das Gefühl, dass es ihm wirklich leidtat, mich so zu entlassen, vielleicht aber auch, dass da einer wieder ging, mit dem er sich, wie seit langem mit keinem, rückhaltlos unterhalten konnte. Er muss schon ein sehr einsamer Mensch sein, dieser Bürgermeister von Mondora.

Als ich bereits im Vorzimmer war, rief er mir noch nach: „Wollen Sie wegen dieser anonymen Drohung Anzeige erstatten?" – „Nein", sagte ich und kehrte noch einmal zur offenen Tür zurück, „das hat Benjamin nicht getan, und das will ich auch nicht." Wir nickten uns ein letztes Mal zu, und ich verließ das Amtsgebäude, das Schloss.

Draußen ging ich ein Stück auf die Mitte des Platzes zu und blieb dann stehen, um meine Gedanken zu ordnen und mir dabei eine Pfeife anzuzünden. - War er nun derjenige, als der er sich ausgab, oder auch wieder nicht? - Wohl kaum. Und wenn schon, ich war ja nicht hier, um Freundschaften zu schließen. Und abgewimmelt, ehe es in irgendeiner Weise prekär für ihn werden konnte, hatte er mich wohl auch nicht – der Auftritt der Sekretärin am Schluss war nach meinem Eindruck nicht abgesprochen, sondern wirklich durch einen Termin bedingt. Man hat eben viel am Hals, wenn man als Kommunalpolitiker, wie er, allein auf weiter Flur ist. Ich schaute noch einmal zurück auf die Schlossfassade, als links oben im ersten Stock gerade die Lichter ausgingen. Na also.-

Auf dem Platz war inzwischen schon einiges los, wie in südlichen Ländern üblich. Nur Motorfahrzeuge gab es keine, außer einem Polizeiwagen, der an der rechten Ecke des Schlosses stand, dafür aber jetzt umso mehr Fahrräder. Besonders die Jugendlichen, die in mehreren Gruppen auf dem Platz standen, hatten fast alle ihr Fahrrad dabei. Zwischen den Gruppen wurde flaniert, Kinder spielten Fangen, alles wirkte ungezwungen und fröhlich. Man hätte sich fast verlieben können, in dieses frühabendliche Mondora. Und trotzdem überlegte ich, ob ich nicht besser geradeswegs zum Auto gehen sollte. Die leidige Abfahrt stand mir noch bevor, und bis zu meinem Hotel unten in der Stadt hatte ich gut und gerne eine Stunde im Auto vor mir. Also entschloss ich mich, die Richtung zum Stadttor einzuschlagen. Und kaum war ich ein paar Meter gegangen, kam ungefähr in der Höhe des Tabakladens eine junge Frau auf mich zu. Sie trug eine Einkaufstasche in der Hand, aus der sie, erst kurz vor mir, ein Päckchen nahm und so unauffällig wie nur möglich mir zusteckte. Dabei sah sie mich nicht an und ging im gleichen Tempo weiter auf die Metzgerei zu. Carla? – War das Carla? Ich sah auf das fest verschnürte Päckchen und dann gleich wieder ihr hinterher. Sie ging tatsächlich in die Metzgerei. Während ich ihr in größerem Abstand folgte, verstaute ich das Päckchen in meiner Umhängetasche, in der ich auf Reisen immer meine Utensilien, unter anderem auch meine Pfeifen und den Tabaksbeutel herumtrage.

Soviel war klar, Carla – und ich war fest überzeugt, dass nur sie es sein konnte - wollte nicht mit mir zusammen gesehen werden. Also blieb ich in einiger Entfernung draußen auf dem Platz, verdeckt durch eine Gruppe Jugendlicher, konnte sie aber in dem Metzgerladen doch ganz gut sehen. Sie musste etwas warten, bis man sie bediente.

Carla ist, wie sie dort gestanden hat, eine wirklich attraktive junge Frau mit dunkelbraunem Haar, schulterlang und an der Seite leicht nach hinten gebürstet, so dass das Ohr frei bleibt. Sie hatte, jedenfalls an diesem späten Nachmittag, einen verständlich ernsten Gesichtsausdruck, was der Ebenmäßigkeit ihrer Züge mit der hohen Stirn und dem etwas kecken Kinn keinen Abbruch tat. Dem entsprach auch der gar nicht so kleine Mund, von dem man sich leicht vorstellen konnte, dass ihm ein herzhaftes Lachen nicht fremd war. Die Augenfarbe konnte ich auf diese Entfernung natürlich nicht sehen, aber sie musste eher dunkel und passend zu der Gesamtwirkung dieses hübschen Gesichts sein.

Als Carla von der Verkäuferin angesprochen wurde, blickte sie noch einmal kurz durch das Schaufenster nach draußen, wie um sich zu vergewissern, dass ich ihr nicht gefolgt war. Sie konnte mich bestimmt nicht sehen, und das war gut so. Deshalb ging ich nun auch endgültig weg, um zu meinem Auto zu kommen.

Zu meiner ersten Erleichterung stand es noch immer dort, wo ich es hinter der Stadtmauer abgestellt hatte. Beim Näherkommen aber entdeckte ich auf beiden Seiten und auf ganzer Länge je einen tiefen Kratzer und unter dem Scheibenwischer ein 'Knöllchen' besonderer Art. Das gleiche Papier und die gleiche Schreibweise wie in der Kirche: WIR HABEN AUFGEPASST, DASS IHNEN DIE REIFEN NICHT ZERSTOCHEN WERDEN. WIR WOLLEN NÄMLICH, DASS SIE SO SCHNELL WIE MÖGLICH WIEDER ABHAUEN. Das konnten sie von mir aus haben, wer immer auch diese 'WIR' waren, obwohl ich mich über die Kratzer schon gewaltig ärgerte.

Auf der Fahrt bergab traten mir wieder Schweißperlen auf die Stirn, weil mir permanent Fahrzeuge entgegen kamen und ich einige Male kompliziert rückwärts rangieren musste. Warum hatte ich auch nicht bedacht, dass um diese Zeit die Pendler aus der Hauptstadt nach Mondora zurück fuhren! Von der Bergsohle weg ging es dann aber so normal und zügig weiter, wie man in kurvenreichen Gebirgsgegenden eben fahren kann, und so hatte ich Gelegenheit, ein erstes Resümee dieses seltsamen Tages zu ziehen.

Sehr gespannt war ich natürlich auf den Inhalt von Carlas Päckchen. Was mochte es sein? – Vielleicht etwas, das Benjamin vergessen und zurückgelassen hatte? Am liebsten hätte ich angehalten, um nachzusehen, aber der Verkehr ließ es nicht zu, und so entschloss ich mich, die Überraschung aufzusparen, bis ich in meinem Hotelzimmer war.

Und dann beschäftigte mich eine ganze Zeitlang die Frage, was für ein Mensch der Apotheker, Herr de Pellegrino, wirklich war, und warum sich Carla den Tag über versteckt halten musste, obwohl sie eindeutig den Tisch hergerichtet hatte. Konnte seine Jovialität und scheinbare Weltoffenheit nur gespielt sein? – Ich kam, wie ich es auch drehte und wendete, zu keinem Resultat.

Da war die Sache mit dem Tabakhändler schon sehr viel einfacher. Er gehört wohl zu der Kategorie Menschen, denen die Begriffe Gewissen und Skrupel Fremdworte zu sein scheinen. Und einmal durch die Fügung von Umständen in einer günstigen Position, raffen sie alles zusammen, was ihren Fingern halbwegs in erreichbare Nähe kommt. Sie entstammen oft einfachen Verhältnissen und haben deshalb nur einen Lebenstraum – es den Reichen und Mächtigen dieser Welt gleich zu tun. Leider ist gerade das Terrain der Politik immer wieder ein Tummelplatz für solche Charaktere, und jeder, der mit ihnen nichts zu tun hat oder haben will, geht zwangsläufig davon aus, dass die wenigen, die erwischt und dingfest gemacht werden, nur die berühmte Spitze des Eisberges sind. Hätte ich diesem abgesägten Bürgermeister gegenüber erklärt, von der Polizei zu sein – ich bin sicher, er hätte mir bei entsprechender Gegenleistung sein ganzes schäbiges Wissen über Mondora verkauft. Womit ich wiederum weit entfernt davon bin, behaupten zu wollen, dass irgendeine Polizei sich auf solche Geschäfte einließe. –

Was den übrigen Zauber in dem Bergnest hinter mir anbetraf, einschließlich der beiden 'Liebesbriefe' und der Kratzer an meinem Multipla, so hatte ich natürlich schon bestimmte Vorstellungen, aus welcher Ecke sie kamen. Benjamins Aufzeichnungen fanden in dem heutigen Tag nur ihre Bestätigung. Ich werde in Zukunft eine andere Sichtweise haben, wenn ich sie wieder zur Hand nehme. Inzwischen war ich auch an der Peripherie der Stadt angelangt und heilfroh, mich noch beim letzten Tageslicht bis zum Hotel durchkämpfen zu können. Der Verkehr um diese Zeit war ein absoluter Albtraum, und das will schon was heißen, wenn jemand Münchner Verhältnisse gewohnt ist.

Den einzig akzeptablen Luxus in meinem eher kargen Hotelzimmer stellte eine Stehlampe neben dem Nierentisch aus den sechziger Jahren dar. Sie gab mit ihren beiden Tütenleuchten ein schon fast anheimelndes Licht. So holte ich meine mitgebrachte Flasche Rotwein aus dem Koffer und setzte mich, mit Pfeife, Wein und Zahnputzglas versehen, in den Plastiksessel unter der Lampe, um das Päckchen zu öffnen. Die Umhüllung aus dickem Papier war nicht nur mit Klebestreifen, sondern auch noch mit einem grünen Faden gesichert. Aufschriften irgendwelcher Art gab es keine, nur ein paar deutliche Tropfspuren; Regen konnte sie nicht verursacht haben. -

Ich betrachtete sie eine ganze Weile, ehe ich mit meinem Taschenmesser das Päckchen öffnete. Es war ein Tagebuch von Carla, das ich da ausgewickelt hatte. Carlas Tagebuch aus ihrer Zeit mit Benjamin!

Für mich bedeutete das natürlich eine unschätzbare Ergänzung meiner Informationen über jene zwei Monate im Frühjahr, die ich ja nur aus Benjamins Niederschriften hatte. Aber warum entschloss sich Carla, mir das Buch überhaupt zuzustecken? – Unter dem mit Leder bezogenen Einband-Deckel fand ich einen Zettel, der in schöner Handschrift, aber erkennbar hastig zu Papier gebracht, folgende Antwort auf meine Frage enthielt: Lieber Herr, leider fällt mir im Moment Ihr Name nicht mehr ein, obwohl Benjamin verschiedene Male von Ihnen gesprochen hat. Aber sicherlich bin ich jetzt zu aufgeregt und auch aus mehreren Gründen zu traurig, um weiter darüber nachdenken zu können. Ich möchte Ihnen dieses Zeugnis einer so wunderbaren, aber auch schwierigen Zeit überlassen, weil ich nicht mehr an die Zukunft glauben kann, die Benjamin und ich uns damals ausgemalt hatten. Er wollte mir schreiben, hat es jedoch nicht getan; er wollte wiederkommen, aber bis vor kurzem habe ich gewartet, nun will und kann ich das nicht mehr. Trotzdem weigert sich alles in mir, zu glauben, dass seine Liebe nur gespielt war. Ich meine schon eher, dass er mir geschrieben hat, und dass die Post aus irgendwelchen Gründen nicht bis zu mir gelangt ist. Und da liegt vielleicht auch der Schlüssel zu seinem Fernbleiben. Ich weiß es nicht und fühle mich total zerrissen. Sollte Benjamin sich bei Ihnen melden, dann vertraue ich Ihnen ganz fest, dass Sie ihm das Büchlein geben. – Ihre Carla de Pellegrino.

Arme Carla. Auch ich fühlte mich beim Lesen dieser Zeilen gerührt und ratlos. Was hatte Benjamin da angerichtet? – Oder tat ich ihm unrecht, und er hat sich gar nicht einfach wieder davon gemacht, um einer ‚Ausfälligkeit' zu frönen? Was war los mit ihm – warum hatte er mir das alles aufgehängt? Und ich Idiot reise in der Welt umher und lass mir mein Auto zerkratzen! Aber je mehr sich dieser Unmut in mir ausbreitete, umso offener wurde ich auch wieder für meine eigenen Gegenargumente. Nein, das war nicht Benjamin, wie ich ihn all die Jahre kannte und schätzen gelernt hatte. Ein Luftikus war er nie. Jedes Mal, wenn er von der Bildfläche verschwand, gab es gute Gründe dafür. Sich aber vor irgendwelchen Verantwortungen zu drücken – das habe ich niemals bei ihm erlebt, im Gegenteil. Es war immer sein tief wurzelndes Pflichtgefühl, das ihn in die Normalität zurückführte, was auch immer man unter Normalität verstehen mag. Schließlich kam ich zu der Überzeugung, dass wirklich mehr dahinter stecken musste, als nur irgendein momentaner Überdruss. Und das Lesen in Carlas Tagebuch brachte mich im Laufe des Abends auch zu einer weiteren Gewissheit: Diese beiden jungen Menschen hatten sich in einer Weise angenähert und lieben gelernt, dass nur etwas vollkommen Unvorhergesehenes eingetreten sein kann, mit dem Benjamins Verhalten dann vielleicht zu erklären wäre. Aber was? Die Antwort darauf musste ich mir schuldig bleiben.

Gleich nach dem Frühstück am nächsten Morgen, fuhr ich noch zur Redaktion des örtlichen ‚Tagblattes'. Viel fand ich nicht, schon gar keine neuen Aufschlüsse. Unter der Überschrift ‚Jesus' in Mondora, war lediglich ein Foto von Benjamin auf dem Esel zu sehen, und im Text stand: Bei der diesjährigen Heiligkreuz-Prozession in Mondora, wurde erstmals der Versuch unternommen, die Erwartung des Heilands szenisch abzurunden. Dazu hatte die Stadt einen Schauspieler engagiert, dessen Darbietung aber nur geteilte Anerkennung fand. Es kam zu tumulthaften Protesten auf dem Marktplatz. Allerdings erklärte Bürgermeister Madera, den Auftritt auch in Zukunft so oder ähnlich gestalten zu lassen. Örtliche Kirchenkreise haben bereits ihren Widerstand angekündigt.

Ich blätterte und blätterte und fand nichts weiter, als gut acht Wochen später eine Traueranzeige der Stadt Mondora, dass plötzlich und unerwartet ihr langjähriger Seelenhirt, der allseits beliebte Pfarrer, Hochwürden Adolphe Bretone, verstorben sei. Stadtverwaltung und Bürger würden ihn in dankbarer Erinnerung behalten. Soviel zu meinen Eindrücken und Erfahrungen in und um Mondora; es war inzwischen Zeit geworden, dass ich die Heimfahrt antrat.

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