Kitabı oku: «Eine illegitime Kunst», sayfa 2
Gerade wer die Abstraktionen eines fälschlich rigorosen Objektivismus zu überwinden wünscht, um die Beziehungssysteme wiederzugewinnen, die sich hinter den präkonstruierten Totalitäten verbergen, widersteht den Verlockungen eines Intuitionismus, der die angeblich blendende Klarheit unziemlicher Vertrautheiten favorisiert und der, in unserem Fall, nichts als Banalitäten über die Zeitlichkeit, die Erotik und den Tod zu sogenannten Wesensanalysen verklärt. Da sich die Photographie, jedenfalls dem Anschein nach, der soziologischen Erkundung im strengen Verstande nur sehr bedingt öffnet, ist sie eine ideale Gelegenheit, den Beweis dafür anzutreten, daß der Soziologe, um eine Entschlüsselung des immer schon gesellschaftlichen Sinnes bemüht, über das Bild sprechen kann, ohne darüber zum Seher zu werden. Und wie könnte man denen, die von der Soziologie »Visionen« erwarten, besser antworten als mit dem Rat Max Webers, sie sollten ins Kino gehen?
TEIL I
1. Kapitel
Pierre Bourdieu, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede
»In einer großen Familie weiß jeder, daß selbst ein gutes gegenseitiges Einvernehmen nicht verhindern kann, daß es zwischen Cousins und Cousinen, Onkeln und Tanten gelegentlich zu heftigen oder auch langweiligen Gesprächen kommt. Wenn ich merke, daß der Ton gereizter wird, hole ich das Album mit den Familienphotos aus dem Schrank. Alle stürzen sie sich darauf, sind überrascht, finden sich wieder, hier als Säugling, später als Heranwachsender; nichts nimmt ihre Aufmerksamkeit stärker gefangen, und alles kommt ganz schnell wieder in Ordnung.«
Fräulein B.C. aus Grenoble, in Elle vom 14. Januar 1965, »Leserinnen erzählen«
»Als Feng seinen Tod nahen fühlte, [...] sprach er: ›Ich selbst habe die Meister liegend oder sitzend, doch niemals aufrecht stehend sterben sehen. Habt ihr je von Meistern vernommen, die stehend entschlafen wären?‹ Die Mönche erwiderten, einzelne derartige Fälle seien überliefert. ›Und wißt ihr von einem, der auf dem Kopfe stehend die Erde verlassen hätte?‹ ›Bis zum heutigen Tage nicht‹, lautete die Antwort. Daraufhin stellte Feng sich auf seinen Kopf und verschied.«
D.T. Suzuki, Über Zen-Buddhismus
Woran liegt es, daß die Beschäftigung mit der Photographie so überaus verbreitet ist, daß es jedenfalls in den Städten nur wenige Haushalte ohne Kamera gibt? Genügt es, zur Erklärung auf den leichten Zugang zu den Instrumenten dieser Praxis und zum Gebrauch dieser Instrumente hinzuweisen? Sicherlich sind Photoapparate preiswert. Und im Unterschied zu relativ anspruchsvollen Tätigkeiten, z.B. dem Musizieren, erfordert das Photographieren nur eine schmale oder gar keine Ausbildung. Es stehen ihm also weder ökonomische noch technische Hemmnisse entgegen. Das erklärt seine Verbreitung aber nur dann hinreichend, wenn man unterstellt, daß der photographische Konsum auf ein Bedürfnis antwortet, das in den Grenzen der jeweiligen wirtschaftlichen Kapazitäten befriedigt werden kann. Doch läuft das nicht darauf hinaus, das soziologische Problem zum Verschwinden zu bringen, indem man als Erklärung ausgibt, was die Soziologie erst noch zu erklären hätte? Die psychologische Erklärung durch »Motivationen« bezieht ihr hauptsächliches Argument aus dem Umstand, daß es eine starke Korrelation zwischen dem Besitz eines Photoapparates und dem Einkommen gibt.1 Daraus folgert man, die Kamera sei ein Haushaltsgut, vergleichbar dem Auto oder dem Fernsehgerät, und ihr Besitz sei ein Indikator des Lebensstandards.2 Wenn ein Einkommensanstieg quasi automatisch die Verbreitung des Photoapparats und die Zahl der Photographen erhöht, dann macht es in der Tat einen Sinn anzunehmen, es gebe eine »natürliche« Neigung zur Beschäftigung mit der Photographie, eine Neigung, die unabhängig von Milieu und individueller Lage konstant gedacht werden könne, da sie, gespeist von universellen »Motivationen«, keinen gesellschaftlichen Bedingungen unterliege. Nach dieser Hypothese ist das – positive oder negative – Verhalten lediglich die Resultante zweier Kräfte: der mehr oder weniger starken »Motivationen« einerseits, die den Anreiz zum Handeln liefern, und der »Bremsen« andererseits, die im Einzelfall die Handlung verhindern.
Daraus ergibt sich ein Modell der Motivationen für die Beschäftigung mit der Photographie.3 Der Akt, Photos aufzunehmen, sie aufzubewahren oder sie anzuschauen, kann in fünffacher Weise als befriedigend erlebt werden: »als Schutz gegen die Zeit, als Kommunikation mit anderen und Ausdruck von Empfindungen, im Sinne von Selbstverwirklichung, unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Prestiges sowie als Zerstreuung oder Flucht aus dem Alltag«. Demnach bestünden die Funktionen der Photographie darin, erstens die Angst zu mindern, die Vergänglichkeit und Zeitlichkeit der Existenz in uns wecken, indem sie entweder einen magischen Ersatz für das bietet, was die Zeit zerstört hat, oder indem sie der Schwäche unseres Gedächtnisses abhilft und uns erlaubt, die mit den Bildern verbundenen Erinnerungen heraufzubeschwören, kurz, indem sie uns glauben macht, uns der Zeit als zerstörerischer Macht entwinden zu können; zweitens darin, die Kommunikation mit anderen zu erleichtern, gemeinschaftlich vergangene Situationen zu rekonstruieren oder anderen unser Interesse oder unsere Zuneigung zu bekunden; drittens darin, dem Photographen ein Mittel zur Verfügung zu stellen, »sich zu verwirklichen«, indem sie ihn in der magischen Aneignung oder der faszinierten oder karikierenden »Neuschaffung« des abgebildeten Gegenstandes seine eigene »Macht« erfahren läßt oder indem sie ihm die Möglichkeit gibt, »seine Gefühle intensiver zu empfinden«, einen künstlerischen Vorsatz auszudrücken oder seine technische Meisterschaft zu offenbaren; viertens darin, mittels technischer Leistungen, der Dokumentation einer persönlichen Anstrengung, einer Reise oder eines Vorkommnisses oder durch demonstratives Konsumverhalten bestimmte Prestigebedürfnisse zu befriedigen; und schließlich fünftens darin, den Anforderungen der Realität für eine Weile zu entkommen, oder sich einfach zu zerstreuen, wie bei einem Spiel. Gemessen an diesen fünf Funktionen oder Möglichkeiten bildeten »das schmale Portemonnaie, die Angst, zu versagen oder sich lächerlich zu machen, und der Wunsch, Schwierigkeiten zu vermeiden«, die hauptsächlichen Schranken für eine Beschäftigung mit der Photographie.
Mit dieser Erklärungsmethode, die »auf dem Prinzip beruht, das Verhalten der Einzelnen erklären und verstehen zu wollen, ohne [...] sich mit den Gründen zufriedenzugeben, die die Individuen selbst dafür benennen«, kommt man am Ende freilich nicht zu mehr als einem zusammenhanglosen Katalog von Gründen oder Rationalisierungen, auf die sich jedermann berufen kann, um seine Aktivität oder seine Abstinenz zu rechtfertigen. Diese »Vulgata«, eine Denkfigur, die auf halbem Wege zwischen alltäglicher Plauderei und wissenschaftlichem Diskurs angesiedelt ist, erfüllt ihre Rolle perfekt: Es gelingt ihr, die Illusion zu erzeugen, Wahrheiten zu enthüllen, wo sie im Grunde nur Gemeinplätze mobilisiert und sie in eine Sprache kleidet, die sich für wissenschaftlich ausgibt. Und soweit sie, immerhin, die Bedeutungen und Werte, denen sich die Photographen bei ihrer Tätigkeit verpflichten oder zu verpflichten glauben, zu beschreiben beansprucht, operiert diese Art Psychologie, die angeblich der Erforschung der Tiefenschichten der Person dienen soll, mit Kategorien, in denen die dünnen Reflexe der Freudschen Konzepte des Voyeurismus, des Narzißmus und des Exhibitionismus aufscheinen.
Tatsächlich ist es gerade die Absicht, die Erklärung der Photographie in Motivationen (d.h. in letzten Ursachen) zu suchen, die den Psychologen dazu verdammt, sich auf die psychischen Ausdruckselemente zu beschränken, und zwar in der Gestalt, in der sie erfahren werden, d. h. auf die »Befriedigungen« und »Gründe«, statt die gesellschaftlichen Funktionen aufzuspüren, die sich hinter den »Gründen« verbergen, und deren Erfüllung obendrein die unmittelbar genossenen »Befriedigungen« herbeiführt.4 Kurz, wer die Wirkung für die Ursache nimmt, der erklärt die photographische Praxis, die gesellschaftlichen Regeln unterworfen ist, gesellschaftliche Funktionen wahrnimmt und innerhalb dieses Rahmens als »Bedürfnis« erlebt wird, durch deren Resultat, nämlich durch die psychischen Befriedigungen, die sie verschafft.5
Es ist mehr als augenfällig, daß es nicht genügt, beispielsweise die photographische Praxis der Volksklassen als die Resultante eines Bedürfnisses zu beschreiben, das sich aus allgemeinen Motivationen und finanziellen Beschränkungen zusammensetzt, wobei das Konkrete nur noch in der algebraischen Summe zweier Abstraktionen erscheint. Die Analyse verharrt so lange bei der abstrakten Universalität von Bedürfnissen oder Motivationen, als man die Wünsche von der konkreten Situation loslöst, in der sie entstehen und mit der sie untrennbar verbunden sind, einer Situation übrigens, die objektiv durch ökonomische Zwänge und soziale Normen determiniert ist.6 Anders ausgedrückt: Individuelle Wünsche und Ansprüche werden in Form und Inhalt durch objektive Bedingungen bestimmt, die die Möglichkeit ausschließen, sich das Unmögliche zu wünschen.
Zu verstehen, was es für die Arbeiter bedeutet, gelegentlich, bei traditionell vorgezeichneten Anlässen und nach den Regeln einer traditionellen »Ästhetik« zu photographieren, kurz, die Bedeutung und die Funktion zu verstehen, welche die Arbeiter der Photographie zuschreiben, heißt, das Verhältnis der Arbeiter zu ihrer Lage zu verstehen: Ihre Beziehung zu einem beliebigen Gut umschließt die stillschweigende Berufung auf das System des objektiv Möglichen und Unmöglichen, das sowohl diese Lage als auch die Verhaltensweisen definiert, die mit dem objektiv Gegebenen, an dem sie sich gemessen fühlen, verträglich oder unverträglich sind. Daher rührt es, daß in unserem Fall des Engagement für eine selten und rudimentär betriebene Praxis und das geringe Interesse an deren Intensivierung die Verinnerlichung der Grenzen zur Voraussetzung haben, die die ökonomischen Barrieren und zugleich das Bewußtsein davon bestimmen, daß als abstrakte und unmögliche Möglichkeit eine andere Form der Praxis existiert, die für andere möglich ist. Nur so wird der Stil der Antworten von Arbeitern verständlich, die über ihre photographische Praxis befragt wurden. Die Unterstellungen, die Frage- oder Konditionalform der Sätze, die Anspielung auf die virtuosesten Photographen, die man kennt, und das oft Träumerische und Spielerische der Antworten signalisieren dieses Bewußtsein von einer abstrakten und weit entfernten Möglichkeit: »Wenn ich einen guten Apparat hätte, würde ich einem Photoklub beitreten.« »Wenn ich freie Zeit hätte ...« »Wenn ich photographieren würde, dann überall, wo ich hingehe: in den Bergen, am Strand oder in der Stadt.« All dies ist einbeschlossen in der Bemerkung, mit der man seinen Verzicht begründet: »Das ist nichts für uns«, d.h. wir sind nicht die, für die dieses Objekt oder diese Aktivität als objektive Möglichkeit existiert, ja, dieses Objekt oder diese Tätigkeit wäre für uns nur dann eine »sinnvolle« Möglichkeit, wenn wir, wenn unsere Lebensverhältnisse andere wären. Hier wird deutlich, daß das Verhältnis zu einem Gut, gleichgültig welcher Art, stets und verdeckt den Schatten der Besonderheit der objektiven Lage enthält, die dieses Gut als erreichbar oder als unerreichbar qualifiziert. Mit den Worten: »Das ist nichts für uns« sagt man mehr als: »Das ist zu teuer« (für uns). Ausdruck der verinnerlichten Notwendigkeit, steht diese Formel sozusagen im Indikativ-Imperativ, da sie zugleich eine Unmöglichkeit und ein Verbot anzeigt, eine Erinnerung an die Ordnung, aber auch eine Mahnung an diese. Im übrigen verknüpft sich das Bewußtsein vom Unmöglichen und Verbotenen – da es sich unter Berufung auf die Lage in ihrer Besonderheit konstituiert – mit der Wiedererkennung des konditionalen Charakters dieses Unmöglichen und Verbotenen, soll heißen, mit dem Bewußtsein von den Bedingungen, die, wollte man sie aufheben, zunächst einmal zusammengedacht werden müßten. Das heißt, diese Einstellung zur Photographie bildet sich angesichts eines Systems von Ansprüchen, die einen ambitionierteren und folglich kostspieligen Typus der photographischen Praxis definieren. Zur Erläuterung zitiere ich die Äußerungen eines fünfundvierzig jährigen Arbeiters:
»Ich photographiere natürlich vor allem meine Kinder, aber auch meine Kumpel. [...] Das sind hauptsächlich Erinnerungsphotos, ich photographiere nämlich Personen nicht so gern. Ich mag lieber Landschaftsaufnahmen, es sei denn, es handelt sich um Photos, die aus dem Leben gegriffen sind, die Bewegung zeigen. [...] In diesem Bereich würde ich lieber Innenaufnahmen machen, aber dazu muß man die richtige Ausrüstung haben, man braucht Wandschirme und spezielle Lampen und muß lange belichten.«
Kurz, eine andere Praxis hätte eine andere Ausrüstung zur Bedingung, aber dies setzte wiederum eine andere Einstellung gegenüber der Photographie, also andere Lebensverhältnisse voraus:
»Nein, mit den Photos, die ich mache, bin ich nicht zufrieden, mit diesem Apparat werde ich wohl kaum bessere machen können; ich brauchte eine bessere Kamera. [...] Man muß eben in der Lage sein, einen ganzen Film zu opfern, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Aber ich hätte gern, daß meine Photos gleich beim ersten Mal gut werden, damit nicht unnütz Geld ausgegeben wird.«
Aus diesem Grund, dem Gefühl, daß eine anspruchsvolle Praxis unmöglich und verboten ist, verbietet man sich selbst, daran Geschmack zu finden, und versagt es sich, sie zu schätzen:
»Wer Innenaufnahmen machen will, muß die Photographie lieben; wenn ich welche machen wollte, oder auch Großaufnahmen, würde ich sie gern selbst entwickeln. Dazu habe ich weder die Zeit noch die Möglichkeit, noch die Mittel.«
Diese Logik offenbart die ganze Bedeutung des Verhältnisses zum technischen Objekt, und das Verhältnis zum Photoapparat ist davon bloß ein Sonderfall. Wenn Arbeiter, die ein besonderes Interesse an der Photographie haben, häufig mit einem gewissen Stolz auf die Einfachheit ihrer Ausrüstung hinweisen und als verständige Wahl ausgeben, was nicht zuletzt eine Auswirkung ökonomischer Zwänge ist, dann deshalb, weil sie in der Verfeinerung technischer Manipulationen eine Chance sehen, ihr Interesse für das ausgereifte (und deshalb teuerste) technische Objekt mit ihrem Vorsatz in Übereinstimmung zu bringen, den Kauf eines solchen Objektes zu meiden, das für sie ohnehin unerschwinglich ist:
»Mit den Photoapparaten ist es wie mit allem anderen auch, die teuersten sind nicht unbedingt die besten.« »Eine gute Verarbeitung ist wichtiger als eine komplizierte Mechanik.« »Hören Sie, ich kenne alle Fabrikate ziemlich gut, also, da gibt es welche, die nach nichts aussehen, mit denen kann man aber mehr anfangen als mit anderen, wenn man sich wirklich auskennt. Wer nicht gerade sehr auf Draht ist, der braucht meinetwegen viel Technik. Nehmen Sie nur mal die ›automatischen‹, ein guter Photograph wird damit nie das machen können, was mit einer ›manuellen‹ möglich ist. Außerdem will er das wahrscheinlich gar nicht. Das ist wie mit den Autos.«
Die »Bastelei« widersteht der Verführung des technischen Objektes im gleichen Maße, wie sie ihr erliegt. Im Unterschied zu der Vorliebe für »Spielereien« oder sogenannte »gadgets«, die die Manipulationen durch die Multiplikation der zu manipulierenden Objekte vervielfacht, hilft sich die Selbstbeschränkung durch die Geschicklichkeit, einfallsreiche Lösungen zu erfinden, die es erlauben, dasselbe Ergebnis mit sparsamsten Mitteln zu erzielen. Die Raffinesse der technischen Gegenstände im Namen der Raffinesse des Technikers vorgeblich geringzuschätzen – das ist eine höchst realistische Weise, die Unerreichbarkeit der Objekte anzuerkennen, ohne auf Perfektion zu verzichten.
Als Fiktion einer Erklärung und Erklärung von Fiktionen läßt somit die Motivationspsychologie die Frage offen, wie es kommt, daß die Photographie so weit verbreitet ist, obwohl sie kein primäres, d.h. »natürliches«, und erst recht kein sekundäres Bedürfnis befriedigt, das durch die Erziehung hervorgebracht und genährt worden wäre, wie etwa das Interesse an Museen oder Konzerten.
Die Photographie als Ausdruck und Mittel der Integration
Um die Unzulänglichkeit einer rein psychologischen Erklärung der photographischen Praxis und deren Verbreitung endgültig zu bekräftigen, bedarf es des Nachweises, daß eine soziologische Erklärung diese Praxis vollständig zu begründen vermag, und zwar nicht allein diese selbst, sondern obendrein ihre Instrumente, ihre bevorzugten Gegenstände, ihre Rhythmen, ihre Anlässe, ihre implizite Ästhetik, ja selbst die Erfahrung, die die Subjekte mit ihr machen, die Bedeutungen, die sie ihr verleihen, und die psychischen Gratifikationen, die sie aus ihr ziehen. Was dem Betrachter sogleich auffällt, sind die zahlreichen Regelmäßigkeiten, nach denen sich die allgemeine Praxis organisiert7: Nur wenige andere Tätigkeiten sind gleich stereotyp und der Anarchie individueller Absichten weniger überlassen. Mehr als zwei Drittel der Photoamateure sind Saisonkonformisten, die ihre Aufnahmen bei Familienfesten oder Freundestreffen oder in den Sommerferien machen.8 Wenn man bedenkt, daß eine sehr enge Korrelation besteht zwischen dem Merkmal »Haushalt mit Kindern« und dem Besitz eines Photoapparats, und daß dieser oft das Eigentum der ganzen Familie ist, dann wird klar, daß die photographische Praxis meist einzig ihrer Funktion für die Familie wegen lebendig bleibt, genauer: durch die Funktion, die ihr die Familie zuweist, nämlich die großen Augenblicke des Familiendaseins zu feiern und zu überliefern, kurz, die Integration der Familiengruppe zu verstärken, indem sie immer wieder das Gefühl neu bestätigt, das die Gruppe von sich und ihrer Einheit hat.9 In dem Maße, wie die Familienphotographie als Ritus des Hauskultes dient – wobei die Familie Subjekt und Objekt zugleich ist –, wie sie das Gefühl des Festes, das die Familie sich gibt, zum Ausdruck bringt und dadurch verstärkt, werden das Bedürfnis nach Photographien und das Bedürfnis zu photographieren (die Verinnerlichung der sozialen Rolle dieser Praxis) um so lebhafter empfunden, je integrierter die Gruppe und je höher die Integrationskraft des Augenblicks ist.10 Es ist also kein Zufall, wenn die soziale Bedeutung und die Funktion der Photographie nirgendwo deutlicher zutage treten als in einer ländlichen Gemeinde, die stark integriert und nachhaltig ihren bäuerlichen Traditionen verhaftet ist.11 Daß das photographische Bildnis, diese ungewöhnliche Erfindung, die Verwirrung oder Unruhe hätte stiften können, sich rasch einbürgert und durchsetzt (zwischen 1905 und 1914), hat seinen Grund darin, daß es alte, ihm vorausliegende Funktionen wahrnimmt, nämlich die hohen Zeitpunkte des kollektiven Lebens einzufangen und auf Dauerhaftigkeit zu stellen. Die Hochzeitsphotographie wurde deshalb so schnell und allgemein akzeptiert, weil sie den Zusammenhang mit ihren gesellschaftlichen Existenzbedingungen offen einbekannte – die Verschwendung als Verhaltensbestandteil bei Festlichkeiten, der Erwerb des Gruppenbildes, der demonstrative Aufwand, dem sich niemand entziehen konnte, ohne gegen den Ehrenkodex zu verstoßen, all dies wird als obligatorisch empfunden, als Element einer Huldigung, die den Jungverheirateten erwiesen wird.
»Das Gruppenphoto ist sich jeder schuldig; wer keines abnehmen würde, gälte als geizig. Es wäre ein Affront gegenüber jenen, die zum Fest eingeladen haben. Es wäre rücksichtslos. Am Tisch ist man unter aller Augen, da kann keiner nein sagen.«
Als Objekt geregelter Tauschhandlungen tritt die Photographie in den Kreislauf der Geschenke und Gegengeschenke ein, deren Anlaß die Hochzeit ist. Dies bringt es mit sich, daß es keine Hochzeit ohne den Photographen gibt. Die Zeremonie der Gruppenphotographie bleibt selbst dann in Geltung, wenn bloß Photoamateure zugegen sind; sie können für den Berufsphotographen einspringen, für den Priester, dessen Anwesenheit die Feierlichkeit des Rituals sanktioniert, doch sie können ihn niemals ersetzen.
»Manchmal sitzen unter den geladenen Gästen auch Photoamateure. Aber man läßt trotzdem Photographen aus Pau kommen; die Amateure nehmen das Paar auf, während es gerade auf der Kirche kommt. [...] Solche Photos gibt es, wenn Amateure dabei waren, die vorher rausgegangen sind, die wissen, daß man das so macht. Sie machen sogar in der Kirche Aufnahmen, wenn am Altar die Ringe getauscht werden.«
Und noch ein Hinweis auf den rituellen Charakter der Photographie: »Der Photograph macht niemals Bilder vom Essen oder vom anschließenden Tanz.«12 Überdies können die Amateurphotographien gegenüber den »offiziellen« Bildern nicht bestehen, die man im Atelier machen läßt, um sie Verwandten und Freunden zu schicken: »Alle lassen sich dort im Atelier aufnehmen, sogar die ganz Armen.«
Geht man mit Durkheim davon aus, daß die Funktion von Festen darin besteht, die Gruppe zu neuem Leben zu erwecken, sie neu zu erschaffen, so versteht man, warum die Photographie hier die Rolle spielt, die sie spielt: Sie ist ein Mittel, die großen Augenblicke des gesellschaftlichen Lebens, in denen die Gruppe ihre Einheit aufs neue bestätigt, zu feiern. Im Falle der Hochzeit gehört das Bild, das die versammelte Gruppe, genauer: die Versammlung zweier Gruppen, für die Ewigkeit festhält, notwendig zu einem Ritual, das den Bund zweier Gruppen, der auf dem Umweg über den Bund zweier Individuen geschlossen wird, weiht, d.h. sanktioniert und heiligt.
Und so ist es ebensowenig ein Zufall, wenn die Reihenfolge, in der die Photographie sich in das Ritual der großen Familienzeremonien eingeführt hat, der sozialen Bedeutung dieser Zeremonien entspricht. Erst seit Beginn der dreißiger Jahre tauchen Aufnahmen von der Erstkommunion auf, und Photographien aus Anlaß einer Taufe sind noch jüngeren Datums und noch seltener. In jüngster Zeit nutzen manche Bauern den Umstand, daß die Vertreter landwirtschaftlicher Genossenschaften von Photographen begleitet werden, dazu, sich mit ihrem Vieh photographieren zu lassen; aber sie bilden eine Ausnahme. Was die Taufen betrifft, die niemals zu einer großen Zeremonie Anlaß geben und bei denen bloß die nächsten Anverwandten zusammenkommen, so sind Photos von ihnen überaus rar. Meist gibt die Erstkommunion den Müttern eine erste Gelegenheit, ihre Kinder photographieren zu lassen. Daran wird erneut deutlich, daß Bedeutung und Rolle der Photographie eine Funktion der sozialen Bedeutung eines Festes sind:
»Bei einer Hochzeit wird der Photograph niemals gebeten, die Kinder aufzunehmen. Ausgeschlossen. Das geschieht am Tag der ersten heiligen Kommunion, dem Fest der Kinder. Der Photograph macht ein gutes Geschäft. Der Hochzeitstag ist nicht zu Ehren der Kleinen, er ist nicht ihr Festtag. Um die Kinder kümmert sich an einem solchen Tag kein Mensch.«
Wie bei der Hochzeit fügt sich auch hier die Photographie in den Kreislauf der rituell auferlegten Tauschhandlungen ein. Das Photo vom Kommunionkind, am Montag nach der Zeremonie in der nächsten Stadt aufgenommen, ist in jüngster Zeit zum Erinnerungsphoto der Erstkommunion hinzugetreten, das die Kinder den Verwandten und Nachbarn als Gegengabe für ein Geschenk überreichten.
Man kann der Mutter nur beipflichten, die ihre Kinder photographieren läßt. Niemals zuvor stand das Kind ähnlich offen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wie heute. Die großen Feste und Zeremonien der Dorfgesellschaft waren vor allem eine Angelegenheit der Erwachsenen. Erst seit 1945 haben die Feste der Kinder, z.B. die Erstkommunion, an Glanz und sozialer Stichhaltigkeit gewonnen: Je größer der Platz wird, den die Gesellschaft den Kindern und zugleich der Frau als Mutter einräumt, desto mehr verstärkt sich der Brauch, sie photographieren zu lassen. In der Sammlung eines kleinen Dorfbauern zeigt die Hälfte der nach 1945 aufgenommenen Bildnisse Kinder, während Kinder auf den Photos aus der Zeit vor 1939 fast nicht vorkommen. Früher photographierte man überwiegend Erwachsene, dann Familiengruppen, wobei sich die Kinder eher beiläufig zu den Erwachsenen gesellten. Heute hat sich diese Hierarchie umgekehrt.
Doch auch die Photographie von Kindern wird in aller Regel nur deshalb in die Zeremonie mit eingeführt, weil sie eine soziale Funktion erfüllt. Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern behält der Frau die Aufgabe vor, die Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern zu pflegen, die weitab, häufig in einem eigenständigen Familienverband leben. Ebenso wie der Brief und mehr noch als dieser dient die Photographie mit dazu, die Bekanntheit der Verwandten untereinander stets auf dem neuesten Stand zu halten. Nicht zufällig führt das Versenden von Photographien nach einer Hochzeit im allgemeinen zu einer Wiederbelebung der Korrespondenz. Es ist üblich, die Kinder (gelegentlich, nach Möglichkeit jedoch regelmäßig) zur Verwandtschaft außerhalb des Dorfes und vor allem, falls die Braut von auswärts stammt, zu deren Mutter mitzunehmen. Es ist stets die Frau, die derlei Besuche anregt, und manchmal unternimmt sie diese auch ohne den Ehemann. Der Austausch von Photos hat den nämlichen Zweck: Mit dem Bildnis präsentiert man dem Ensemble der Gruppe den Neuankömmling, den diese »anerkennen« muß.
So ist es denn nur natürlich, daß die Photographie zum Gegenstand einer »Lektüre« wird, die als soziologisch gelten kann, und daß sie niemals an sich und für sich, im Hinblick auf ihre technischen oder ästhetischen Qualitäten »gelesen« wird. Vom Photographen wird erwartet, daß er sein Metier versteht, und Vergleichskriterien sind keine zur Hand. Die Photographie soll lediglich eine treue und genaue Darstellung liefern, um das Wiedererkennen zu ermöglichen. Man nimmt eine methodische Prüfung und Längsschnittbeobachtung vor, die derselben Logik gehorcht, die das Kennenlernen von Personen im Alltag beherrscht: Über einen Vergleich des Bildes mit den eigenen Kenntnissen und Erfahrungen ordnet man jede Person unter Berufung auf deren genealogische Linie ein. Die Lektüre alter Hochzeitsphotos nimmt oft Züge eines Kursus in Genealogie an – die Mutter, Expertin auf diesem Gebiet, erläutert dem Kind die Beziehungen, durch die es mit jeder der abgebildeten Personen verbunden ist. Man möchte gern wissen, wie die Paare zusammenfanden, man analysiert und vergleicht das Feld der sozialen Interaktionen jeder der beiden Familien, man registriert die Abwesenden – ein Zeichen für irgendwelche Zwistigkeiten – und die Anwesenden (die wissen, was sich gehört). Kurz, die Hochzeitsphotographie ist ein veritables Soziogramm und wird auch so verstanden.
Jedem geladenen Gast wird die Photographie zur Trophäe, zum Zeichen gesellschaftlicher Geltung und zur Quelle von Prestige. Als Angehöriger einer »kleinen Familie« besitzt B.M., ein Dorfbauer, nur drei Hochzeitsbilder.13 J.B. dagegen, ein gutsituierter Städter, verheiratet mit der jüngeren Tochter einer »großen Familie«, besitzt eine stattliche Anzahl solcher Aufnahmen, wobei zu diesen noch Photos von Kollegen hinzukommen, die bei Spaziergängen oder Ausflügen aufgenommen wurden. Bei näherer Betrachtung der eingeladenen Gäste treten bedeutsame Unterschied hervor: Die Gäste von B.M. sind vorwiegend Verwandte und Nachbarn, das Auswahlprinzip ist traditionell; bei der Heirat von J.B. erschienen außer den obligatorisch Geladenen auch die »Kameraden« des Bräutigams und sogar die Freundinnen der Braut.
Wer sich photographieren läßt, ist damit einverstanden, daß seine Gegenwart bezeugt wird – unverzichtbare Gegenleistung für die durch die Einladung empfangene Wertschätzung; damit bringt man zum Ausdruck, daß man die Ehre der Einladung würdigt und daß man teilnimmt, um anderen seine Wertschätzung zu bekunden.
»Du warst bei Gott weiß was für einer Hochzeit, aber nicht mit auf dem Photo. Das ist aufgefallen. Du warst nicht mit der Gruppe dabei, man hat gesagt, daß M. L. nicht mit auf dem Photo war. Man hat gedacht, daß du dich entzogen hast, das wird übel aufgenommen.« (Junge Frau aus einer kleinen Provinzstadt zu ihrem Mann im Verlauf einer Unterhaltung)
Wie auch sollten Stimmung und Haltung der abgebildeten Personen nicht von Feierlichkeit gekennzeichnet sein? Keinem kommt es in den Sinn, sich den Anordnungen des Photographen zu widersetzen, mit seinem Nachbarn zu sprechen oder nicht zur Kamera zu blicken. Das wäre gegen jeden Anstand, geradezu ein Affront gegenüber der ganzen Gruppe und, in den Augen des Familienoberhaupts, gegenüber denen, die »ihren Ehrentag« begehen, den Familien der Neuvermählten.
Das Photographieren von großen Zeremonien ist deshalb – und nur deshalb – möglich, weil die Photographie gesellschaftlich gebilligte und geregelte, d.h. bereits in den Rang des Feierlichen erhobene Verhaltensweisen festhält. Nichts darf photographiert werden außer dem, was photographiert werden muß. Die Zeremonie darf photographiert werden, weil sie von der alltäglichen Routine abweicht, und sie muß photographiert werden, weil sie das Bild verwirklicht, das die Gruppe als Gruppe von sich zu vermitteln wünscht. Das, was photographiert wird und was der »Leser« der Photographie erfaßt, sind strenggenommen keine Individuen in ihrer Besonderheit, sondern soziale Rollen: der Jungvermählte, der Erstkommunikant, der Soldat, oder soziale Beziehungen: der Onkel aus Amerika oder die Tante aus Sauvagnon.
So enthält beispielsweise die Sammlung von B.M. ein Bild, das den ersten Typus perfekt illustriert: Es zeigt den Schwager des Vaters von B. M. in der Uniform des städtischen Briefträgers. Die Schirmmütze auf dem Kopf, das weiße Hemd mit Stehkragen, die weißkarierte Krawatte, der Gehrock ohne Revers, auf der Brust eine Blechmarke mit der Nummer 471, die mit goldenen Knöpfen verzierte Weste hochgeschlossen, die Uhrkette sichtbar drapiert, so posiert er stehend, mit der rechten Hand auf ein kleines Podest in orientalischem Stil aufgestützt. Dieses Bild, das die in einen anderen Ort gezogene Tochter ihrer Familie schickte, ist nicht die Photographie ihres Mannes, sondern das Symbol seines gesellschaftlichen Erfolgs. – Eine Illustration für den zweiten Typus ist eine Photographie, die aus Anlaß eines Besuchs des Schwagers von B.M. in Lesquire aufgenommen wurde und die die Begegnung der beiden Familien feiert, indem sie auf einem Bild Onkel und Nichten, Neffen und Tanten vereint. So als habe man bekunden wollen, daß das eigentliche Objekt der Photographie nicht die Individuen sind, sondern die Beziehungen zwischen ihnen, tragen die Eltern der einen Familie auf ihren Armen die Kinder der anderen.16