Kitabı oku: «Eine illegitime Kunst», sayfa 3

Yazı tipi:

Die meisten bäuerlichen Familien »verstauen« die Photographien in einer Schachtel, ausgenommen das Hochzeitsbild und bestimmte Porträtphotos. Es wäre schamlos und indiskret, wenn jeder Besucher sofort die Bilder von Familienmitgliedern zu Gesicht bekäme. Der große Gemeinschaftsraum, die Küche, zeigt nur unpersönlichen Schmuck, der allerorten derselbe ist, einen Kalender der Post oder der Feuerwehr, Reproduktionen in aufdringlichen Farben, die man von einer Reise nach Lourdes mitgebracht oder in Pau gekauft hat. Die zeremoniellen Photographien sind entweder zu feierlich oder zu intim, als daß man sie an dem Ort des täglichen Lebens zur Schau stellen dürfte; ihr Platz ist das prunkvolle Empfangszimmer, der Salon oder, für die Photographien verstorbener Verwandter, die Kammer, neben den Votivbildchen, dem Kruzifix und dem Buchsbaumzweig über dem Weihwasserkessel. Amateurphotographien werden von den Bauern in der Schublade verwahrt, von den Kleinbürgern dekorativ gebraucht oder affektiv besetzt: vergrößert und gerahmt, schmücken sie die Wände des Wohnzimmers zusammen mit den Reisesouvenirs. Sie okkupieren sogar den Altar der Familienwerte, den Kaminsims im Besuchszimmer, ja, sie nehmen den Platz von Medaillen ein, von Ehrenauszeichnungen und Ausbildungszertifikaten, die man früher dort zur Schau gestellt hatte und die die junge Dörflerin diskret in die dunkelste Ecke verbannt hat, gleich hinter der Tür, um »die Alten« nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen – als hätte sie Angst, sich damit lächerlich zu machen.

Obschon es einerseits zutrifft, daß die Städter in einem sehr allgemeinen Sinne die photographische Praxis akzeptiert haben, im Gegensatz zu den Bauern, die in ihr die Werte der urbanen Gesellschaft, die Negation der eigenen Werte erblicken und ablehnen, schreiben sie andererseits dem photographischen Bild in der Regel dieselbe Bedeutung und Funktion zu wie der Dörfler. Sie photographieren eigenhändig, was die Bauern vom Berufsphotographen aufnehmen lassen, doch ohne deshalb ein wirkliches Interesse für die Photographie im strengen Sinne zu entfalten. Auch gilt ihre Aufmerksamkeit mehr dem fertigen Bild als der Art und Weise, wie es zustande gekommen ist. Da sich das Bedürfnis, zu photographieren, in der Mehrzahl der Fälle als bloßes Bedürfnis nach Photographien erweist, wird verständlich, warum alle Faktoren, die eine Intensivierung des häuslichen Lebens und eine Verstärkung der Familienbande determinieren, das Auftreten und die Intensivierung der photographischen Praxis begünstigen.

Wenn diese Praxis im Laufe der Jahre an Reiz verliert, dann deshalb, weil mit der im Alter schwindenden Teilnahme am sozialen Geflecht und insbesondere am Kontext einer Familie, deren Mitglieder verstreut leben, die Gründe fürs Photographieren nicht länger bestehen. Daß der Unterschied zwischen dem Anteil der Photographierenden an den Unverheirateten und dem an den Verheirateten mit zunehmendem Alter immer größer wird, hängt damit zusammen, daß die verlängerte Ehelosigkeit stets ein Indiz für eine schwächere Integration in die Gemeinschaft ist. Daß die Beschäftigung mit der Photographie in den Ferien ihre Hochkonjunktur hat, erklärt sich teilweise daraus, daß die Ferien zu den »hohen Zeiten« des Familienlebens gehören (ganz besonders die Weihnachtsferien), während deren man die Bande mit entfernten Verwandten fester knüpft und durch den Austausch von Besuchen und Geschenken den Kontakt mit den nahen Verwandten intensiviert.17 Sachverhalte dieser Art – einmal abgesehen von dem, verglichen mit den traditionellen Familienaufnahmen, relativ hohen Anteil von Landschaftsbildern bei den Oberklassen – lassen sich allesamt bis zu einem gewissen Grad mit der Lockerung der Verbindungen (die sich gewöhnlich in den Ferien wieder festigen) zwischen der Kernfamilie und den übrigen, verstreut lebenden Familienmitgliedern erklären.18 Und wenn ein enger Zusammenhang besteht zwischen der Beschäftigung mit der Photographie und dem Merkmal »Haushalt mit Kindern« (und zwar um so stärker, je jünger diese sind), so zweifellos darum, weil die Gegenwart des Kindes die Integration der Gruppe und zugleich die Neigung verstärkt, das Bild dieser Integration festzuhalten, ein Bild, das seinerseits wiederum der Verstärkung der Integration dient.19 Dem »Familiengesetz« den Obolus zu entrichten, wird als zwingend empfunden: »Die Bilder von meinem Kleinen, ach so, ja, die lasse ich gleich dreimal abziehen, die brauche ich für die Großeltern und die Patentante.« Da die Photographien die besonderen Zeichen und Werkzeuge der Geselligkeit innerhalb der Familie sind, wird die Pflicht, die Verwandtschaft damit zu versorgen, deutlich wahrgenommen; sich ihr zu entziehen gilt als unhöflich oder als Aufkündigung des guten Einvernehmens. »Photos für die Familie? Das ist unvermeidlich, es ist eben höflicher. Wir schicken sie an Gott und die Welt, es ist völliger Blödsinn und kostet nur Geld, aber es gibt immer welche, die sich sonst ärgern würden.«

Je nach dem Integrationsgrad der Familiengruppe, je nach der Intensität der Bindungen, die sie mit den Verwandten der Haupt- und der Seitenlinie unterhält, kann die Liste der berechtigten Empfänger variieren; doch im Hinblick auf die Photographien der Kinder scheinen die Großeltern, die Verwandten der (vor allem mütterlichen) Hauptlinie und die Patin in jedem Fall dazuzugehören. Die geographische Versprengtheit der einzelnen Verwandten verlangt gebieterisch die mehr oder weniger regelmäßige Wiederbelebung der Verwandtschaftskontakte, und dem genügt die Photographie besser als der bloße Austausch von Briefen.

Das Photo selbst ist in den allermeisten Fällen nichts anderes als eine Reproduktion des Bildes, das der Gruppe von ihrer Integration. Unter den Photographien, auf denen Personen abgebildet sind, zeigen fast drei Viertel Gruppen und mehr als die Hälfte Kinder, allein oder gemeinsam mit Erwachsenen; Photos, auf denen Kinder zusammen mit Erwachsenen erscheinen, verdanken ihre Häufigkeit und ihr feierliches Aussehen (das sich vor allem in der konventionellen Starrheit der Posen ausdrückt) dem Umstand, daß sie das Bild des Familiengeschlechts festhalten und symbolisieren.20

Da sie das Objekt einer kollektiven und quasi-zeremoniellen Betrachtung herzustellen vermag, verlängert vor allem die Farbphotographie das Fest, an dem sie teilnimmt und dessen Bedeutung sie signalisiert. Der festliche Gebrauch, den man vom Festbild macht, haftet diesem wie ein Signum an und inspiriert seine Genese21; gerade weil sie wie dazu geschaffen ist, als Technik des Festes oder, genauer gesagt, als Technik der Wiederholung des Festes zu dienen, hält sie die eklatant euphorischen und euphorisierenden Augenblicke fest, den Walzertanz der Schwiegermutter oder die »unbezahlbaren Spaße der Stimmungskanone«. Selbst außergewöhnlich, erfaßt sie außergewöhnliche Gegenstände, die »schönen Augenblicke«, die sie in »schöne Erinnerungen« verwandelt. In ritueller Weise mit dem Fest, mit der Familienzeremonie oder dem Freundestreffen verknüpft, steigert sie den Eindruck des Festes als außergewöhnliches Ereignis, indem sie ihm dieses Opfer des Außergewöhnlichen gewährt. Sie wird schon jetzt so erlebt, wie sie später einmal betrachtet werden wird, und der schöne Augenblick kommt als solcher durch sie besser zum Vorschein, weil sie sichtbar macht, was er recht eigentlich ist: eine schöne Erinnerung. Sie wird später so »gelesen« werden, wie man sie erlebt hat, unter Gelächter und Scherzen, die dem Gelächter und den Scherzen des Festes eine längere Dauer verleihen.22 Und wenn sie sich in aller Regel auf ein bloßes Zeichen reduziert, entzifferbar lediglich für denjenigen, der über den Schlüssel dazu verfügt, dann deshalb, weil das Fest etwas ist, was man aus nichts oder mit Nichtigkeiten macht oder schafft, vom Augenblick der Entscheidung an, in festlicher Stimmung zu sein. Daher behält man von ihm häufig auch nur die Erinnerung, in festlicher Stimmung gewesen zu sein. Das Photo hält diese Erinnerung fest, in den meisten Fällen wüßte man nicht zu sagen, worüber und warum man gelacht hat. Es bezeugt zumindest, daß man herzlich gelacht hat.23

Als Instrument der feierlichen Überhöhung kann die Photographie selbst dem symbolischen Sakrileg einen komischen sakralen Charakter verleihen. So kann das Photographieren der Frau eines Freundes in einer lächerlichen oder gar unschicklichen Haltung das Gelächter verdoppeln, da dies darauf hinausläuft, in der Umkehrung der Normen, gegen alle Gebote des Anstandes, einen Verstoß gegen die Regeln der Schicklichkeit zu feiern, der die lockere, aber gleichwohl geordnete Struktur des Festes zum Ausdruck bringt und damit zugleich verstärkt. Deshalb muß man sich davor hüten, in den Albereien vor dem Photographen oder in den Photographien der Albereien ein Indiz für den Verlust des sakralen Charakters der Photographie zu sehen; sie sind vielmehr bewußte Barbarismen, die ihre komische Wirkung ihrer Eigenschaft als rituelles Sakrileg verdanken. Als Technik der feierlichen Erhebung oder Technik des Festes und allemal Technik der feierlichen Erhebung des Festes wird die Photographie in dem Maße unentbehrlich, wie sich mit der Zersplitterung der großartigen Feierlichkeiten, mit dem Verschwinden der öffentlichen Zeichen eines Festes, die dem Gefühl, in feierlicher Stimmung zu sein, den Anschein einer objektiven Begründung geben konnten, das Fest (Geburts- oder Namenstag) zunehmend als etwas Beliebiges und Willkürliches verrät, da die Familiengruppe dazu verurteilt ist, es in autarker Weise zu erleben. Mithin wird dem Unternehmen der feierlichen Erhebung, dem die Photographie dient, wahrscheinlich nur dann Erfolg beschieden sein, wenn es einem Mitglied der Gruppe überantwortet wird, das wie alle anderen darauf bedacht ist, zu vergessen und vergessen zu lassen, daß es nur dann ein Fest gibt, wenn man es »macht«, und weil man sich dazu entschließt, eines zu »machen«. Von dem Augenblick ab, da die Teilnahme am Fest dieses insgeheime Einverständnis voraussetzt, das nur die Teilhabe an der Gruppe gewährleisten kann, muß der Fremde zum Störenfried werden. Während der Bauer eine Praxis verwirft, die seinem Wertesystem widerspricht, und einem gruppenfremden Spezialisten die Aufgabe überträgt, ein Ritual zu vollziehen, zu dem die gesamte Dorfgemeinde aufgerufen ist, überträgt die auf sich selbst verwiesene Familie in der Stadt den Vollzug des rituellen Hauskults einem Mitglied der Familie, gewöhnlich deren Oberhaupt.24 Als einzige Primärgruppe, die in der städtischen Gesellschaft ihre Geschlossenheit und Beständigkeit bewahren kann, behauptet sich die reduzierte Familie, mehr und mehr ihrer traditionellen – ökonomischen wie sozialen – Funktionen beraubt, indem sie Zeichen ihrer emotionalen Einheitlichkeit, d. h. ihrer Intimität, anhäuft. »Früher«, schreibt Durkheim,

»war die Hausgemeinschaft nicht nur eine Vereinigung von Individuen, die miteinander durch die Bande gegenseitiger Zuneigung verbunden waren; sie war auch die Gruppe selbst, in ihrer abstrakten und unpersönlichen Einheit. Es war der ererbte Name mit allen Erinnerungen, die mit ihm zusammenhingen, das Elternhaus, die Stätte der Ahnen, seine Lage und sein überlieferter Ruf und noch mehr. Alles dies ist im Verschwinden begriffen. Eine Gesellschaft, die sich in jedem Augenblick auflöst, um sich an anderer Stelle wieder zu bilden, aber unter ganz anderen Bedingungen und aus ganz anderen Elementen, hat nicht genügend Kontinuität, um sich ein besonderes Gepräge zu schaffen, keine eigene Geschichte, mit der sie ihre Mitglieder an sich binden könnte.«25

Ist es da nicht ganz natürlich, daß der Photographie allmählich die Aufgabe zuwächst, das Familienerbe gleich einem Schatz zu bewahren? Mag auch die Anhäufung langlebiger Konsumgüter wie Kühlschränke, Waschmaschinen oder Fernsehgeräte dazu beitragen, den Eindruck der Familieneinheit zu stützen, so kann der Erwerb dieser Massenprodukte doch das Gefühl der Intimität niemals so uneingeschränkt befestigen wie die photographische Praxis, die häusliche Herstellung häuslicher Embleme. In der Tat bestätigt die Photographie innerhalb der erheblich reduzierten Skala familiärer Produktionstätigkeiten besser als die Gärtnerei oder das »hausgemachte« Gebäck, fiktive Zugeständnisse an die Sehnsucht nach Autarkie, besser als das Heimwerken oder die Befriedigung einer Sammelleidenschaft (was diejenigen von der Gruppe isoliert, die daraus ihr Steckenpferd machen) die Kontinuität und Integration der häuslichen Gruppe und festigt beide, indem sie sie zum Ausdruck bringt.

Die Scheidung zwischen den Themen, die in die Zuständigkeit des Berufsphotographen fallen, und denen, die von den Amateuren in der Familie Photographien werden, besteht nicht zufällig.26 Beispielsweise wendet man sich in einem kleinen Marktflecken im Süden Korsikas, wo sich die Praxis der Photographie in dem Maße verbreitet hat, wie die urbanen Werthaltungen Einlaß fanden, nach wie vor an den Berufsphotographen, um die festlichen Ereignisse (Hochzeit und Erstkommunion) und deren hohe Augenblicke festzuhalten. Dasselbe gilt für die Porträts der Kinder. Kurz, den Ausschlag gibt jeweils, ob ein Moment der Intimgeschichte der Person oder ihr gesellschaftlicher Aspekt aufgezeichnet werden soll. So stehen etwa den von Amateuren aus der Familie aufgenommenen Bildern, die die Etappen einer besonderen Kindheitsgeschichte dokumentieren, die konventionellen Photographien der Erstkommunion gegenüber, die im Atelier hergestellt wurden.27 Das heißt, die Durchsetzung der Amateurphotographie in den Familien fällt mir einer präziseren Differenzierung dessen zusammen, was dem öffentlichen Bereich und was der Privatsphäre zugehört. Ein Beleg dafür ist, daß die »großen Porträts«, die man noch eine Generation zuvor in jedem korsischen Haus an den Wänden des Besucherzimmers oder des Wohnzimmers sehen konnte, heute in der Mehrzahl der Haushalte den Amateurphotos Platz gemacht haben, die diskret auf einem Möbelstück aufgestellt werden. Seitdem man von der Photographie verlangt, nicht mehr allein das öffentliche Bild einer Person wiederzugeben, das so wenig individuelle Züge trägt, daß es keiner periodisch wiederholten Aufnahmen bedarf, und das so stark durch soziale Normen bestimmt ist, daß es geradezu prädestiniert scheint, vorgezeigt zu werden, sondern von ihr auch fordert, den vergänglichen Anblick und die besonderen Gesten eines Familienmitglieds aufzuzeichnen, ist die Unterscheidung zwischen Bildern, die der Betrachtung im Kreis der Familie vorbehalten bleiben, und solchen, die man »Fremden« preisgeben kann, unerläßlich geworden. Und sie ist nirgendwo so ausgeprägt wie bei den Leuten, die viele Jahre außerhalb von Korsika verbracht haben. In der Tat entreißt die Emigration die Kernfamilie dem ursprünglichen kollektiven Lebenszusammenhang; sie macht aus jeder individuellen Lebensgeschichte eine Kette von je besonderen Ereignissen, die nicht länger einer Stereotypisierung des Verhaltens unterliegen, wie der Rhythmus des Gemeinschaftslebens sie einschließt. Das Gesetz der unterschiedlichen Kalender gebietet, jene Feierlichkeiten, die es verdienen, daß man sie mit der Gruppe von gemeinsamer Herkunft teilt, von denen zu trennen, die als privat oder intim erscheinen, weil sie im Kalender der Primärgemeinde keinen Ort haben und ebenso verschiedenartig sind wie die Gruppen, in welche die Emigrierten für eine bestimmte Zeit eingebunden waren. Der Wunsch, die Zugehörigkeit zur Familiengruppe durch den Austausch von Photographien zu erhärten, schärft also zugleich den Sinn dafür, daß das öffentliche Leben in den eigenen vier Wänden nicht mehr wie früher in der Dorfgemeinschaft einem einzigen und einheitlichen Kodex von Regeln untersteht.

Als private Technik produziert die Photographie private Bilder des Privatlebens. Mit dem photographischen Bild hat die industrielle Technik den am meisten Benachteiligten die Möglichkeit eröffnet, Porträts zu besitzen, die nicht länger die Porträts der Großen dieser Welt oder der Heiligen im Himmel sind. Die Porträtgalerie ist demokratisiert worden, und jede Familie verfügt in ihrem Oberhaupt über ihren »Hofphotographen«. Die eigenen Kinder zu photographieren bedeutet, sich zum Historiographen ihrer Kindheit zu machen und ihnen als Vermächtnis das Bild von dem zu hinterlassen, der sie einmal waren. So geschieht es durch die Vermittlerrolle der Familiengruppe, daß die primäre Funktion der Photographie sich dem Photographen wieder in Erinnerung bringt: die wichtigen Ereignisse in ihrer Besonderheit und die Familienchronik in Bildern festzuhalten. »Man muß eine Erinnerung an die Kinder haben.« Man verspricht einander, Photos aufzunehmen oder zu verschenken, und für den Photographen ist es sozusagen »das mindeste«, diesem kollektiven Auftrag zu genügen. Wenn die Photographen, abgesehen von einer verschwindend kleinen Minderheit, in der Aufzeichnung des Familienlebens die primäre Bestimmung der Photographie erblicken, wenn sie nach wie vor der photographischen Pose, jenen steifen und stereotypen Bildern fürs Familienalbum, Tribut zollen, obschon sie sie laut verurteilen, dann vor allem deshalb, weil sie sie für ebenso unvermeidlich halten wie die sozialen Zeremonien, die von den Bildern ihre Weihe empfangen.

»Familienphotos? Die natürlich auch, schließlich muß man ja allen eine Freude machen. Aber das ist was ganz anderes!« (Angestellter aus Paris, 32 Jahre)

Das Familienalbum drückt die Wahrheit der sozialen Erinnerung aus. Nichts gleicht weniger der autistischen Suche nach der verlorenen Zeit als diese kommentierten Darbietungen von Familienphotographien, Integrationsriten, denen die Familie ihre neuen Mitglieder unterwirft. Die Bilder der Vergangenheit, in chronologischer Ordnung, der »Vernunftordnung« des gesellschaftlichen Gedächtnisses gereiht, beschwören und übermitteln die Erinnerung an Ereignisse, die der Bewahrung wert sind, da die Gruppe in den Monumenten ihrer früheren Einheit ein Moment der Einigung sieht oder, was auf dasselbe hinausläuft, weil sie aus ihrer Vergangenheit die Bestätigungen der gegenwärtigen Einheit bezieht. Deshalb ist nichts geziemender, beruhigender und erbaulicher als ein Familienalbum. Alle persönlichen Begebenheiten, welche die individuelle Erinnerung in die Besonderheit eines Geheimnisses sperren, sind aus ihm verbannt, und die gemeinsame Vergangenheit oder, wenn man so will, der größte gemeinsame Nenner der Vergangenheit erscheint hier schon in der beinahe anmutigen Sauberkeit eines Grabmals, das treulich besucht wird.28

Gelegenheiten der Praxis und gelegentlich betriebene Praxis

So verdankt die photographische Praxis in ihrer allgemeinsten Variante der sozialen Funktion, mit der sie ausgestattet ist, das und nur das zu sein, was sie ist. In der Tat, ob es um ihre innere Rhythmik geht, ihr Gerät oder ihre Ästhetik, die Gebrauchsweise, der sie ihr Dasein schuldet, markiert gleichzeitig die Grenzen, innerhalb deren sie sich bewegen kann, und verhindert ihre Transformation in eine andere, intensivere und anspruchsvollere Praxis. Da ihre Existenz an die soziale Funktion gebunden ist, der sie dienen soll, ist sie eng mit den Lebensprozessen der Gruppe verknüpft. Ihre Beschränkung auf einige wenige Anlässe und Gegenstände limitiert zugleich ihre Ausübung. Aus dem nämlichen Grunde nimmt sie mit behelfsmäßigem oder antiquiertem Arbeitsgerät vorlieb, vorausgesetzt, es gestattet die Wahrnehmung der ihr zugewiesenen Funktion, d. h. Bilder zu liefern, die das Wiedererkennen ermöglichen. Und da sie schließlich – aus abermals demselben Grund – die Gebrauchsbestimmung, aus der sie hervorgeht, nicht abzustreifen vermag, kann sie ihre Zwecke nicht selbst setzen und die spezifischen Intentionen einer autonomen Ästhetik verwirklichen.

Zwar stimmt, daß die allein an der Familienfunktion orientierte photographische Praxis sich ihre Grenzen selber zieht; aber es lassen sich nicht alle Varianten in Intensität und Qualität der Praxis einzig der Macht des »Bedürfnisses« nach Photographien zuschreiben (das an die Struktur und den Integrationsgrad des Familienmilieus gebunden bleibt). Soweit man beispielsweise das Bedürfnis nach Photographien befriedigen kann, ohne die Photos selbst zu machen, soweit die eigenständige photographische Praxis gar als Luxus erscheinen mag, da letztlich die selbstgefertigten Bilder in der Mehrzahl der Fälle zu den Atelieraufnahmen hinzukommen statt diese zu ersetzen, so weit ist es nur natürlich, daß die Zahl der Besitzer von Photoapparaten mit steigendem Einkommen zunimmt. Es versteht sich ebenfalls von selbst, daß innerhalb des begrenzten Ensembles von Gegenständen und sozial gebilligten Anlässen noch Raum bleibt für Nuancen in der Intensität der Praxis, die ein höheres Einkommen zuläßt.

Viele Saisonkonformisten besitzen eine Kamera besserer Qualität und eine ganze Anzahl von Zubehörartikeln, die sie nach wie vor in den Dienst der traditionellen Funktionen der Photographie stellen. Keinesfalls darf man in dem Umstand, daß die Quote der Besitzer von hochkomplexen Photoapparaten proportional mit dem Einkommen wächst, ein Indiz für steigende Ansprüche an die Qualität der Praxis sehen: Die Intensivierung der Praxis, begünstigt durch das höhere Einkommen, das wiederum höhere Ausgaben für Filme (vor allem teure Farbfilme) erlaubt und die Anlässe zum Photographieren vervielfacht, überwindet allein noch nicht die übliche zugunsten einer qualitativ ausgefeilten Praxis. Für die meisten Käufer einer Kleinbildkamera sind deren technische Finessen als explizites Kaufmotiv nicht ausschlaggebend.

Zahlreiche Besitzer von Kleinbildkameras wissen über deren Möglichkeiten keineswegs genau Bescheid. Auch haben die, die nach eigenen Aussagen mit dem Gedanken spielen, eine hochwertige Kamera zu erwerben, keine bessere Fachkenntnis von deren Eigenschaften als diejenigen, die einem solchen Kauf gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen. Die Untersuchung einer Stichprobe von Amateurphotographen hat ergeben, daß die Besitzer hochentwickelter Apparate (mit eingebautem Belichtungs- und Entfernungsmesser oder Spiegelreflexsucher) insgesamt weniger technische Kenntnisse haben als die Besitzer von minder komplizierten Apparaten. Andererseits lassen sich die Besitzer von anspruchsvollen Kameras deutlich in zwei Kategorien unterteilen, nämlich in solche, die die Möglichkeiten ihrer Kamera gut kennen und technisch ziemlich versiert sind, und in solche, die zugeben, von der Technik ihres Apparats überfordert zu sein, und die nur über wenig professionelles Wissen verfügen. Das heißt, der Erwerb einer kostspieligen Ausrüstung scheint eher von Konsumgewohnheiten bestimmt zu sein, die qualitativ hochwertige Produkte zu bevorzugen vorschreiben, als von einer qualitativen Änderung der photographischen Ambitionen. Kurz, die Perfektionierung der zur Verfügung stehenden Mittel dringt von außen in die Photographie ein: Nichts weniger als das Resultat neuer Ansprüche, die sich unmittelbar aus der photographischen Praxis ergeben, ist diese vielmehr Ausdruck der Bemühung, einer diffusen Gruppennorm zu entsprechen.29 Es verhält sich daher keineswegs so, daß die ästhetische oder gar technische Qualität des produzierten Bildes und die Modalität der Praxis sich aus den Eigenschaften des Apparats, aus seinen Möglichkeiten oder Grenzen ableiten ließen, daß die routinehafte und stereotype Produktion der meisten Photographierenden aus den Beschränkungen erklärt werden könnte, die ihnen durch ein einfaches Gerät oder ihre technische Inkompetenz auferlegt werden. Vielmehr ist es die photographische Intention selbst, die – den traditionellen Funktionen nach wie vor untergeordnet – erst den Gedanken aufkommen läßt, sämtliche Möglichkeiten eines Apparats voll zu nutzen (welche übrigens bei dessen Auswahl kaum eine Rolle gespielt haben), und die ihre eigenen Grenzen im Felde der technischen Möglichkeiten bestimmt.

Die verstärkte Beschäftigung mit der Photographie folgt also in den meisten Fällen aus äußeren Bedingungen, etwa der Verfugung über ein bestimmtes Einkommen und dem damit verbundenen Lebensstil, und nicht aus einer eigenständigen Modifikation der Praxis. Allerdings, obschon die familiale Funktion der Photographie mehr oder weniger vollständig und je nach Einkommen auf unterschiedlichem Niveau wahrgenommen werden kann, geschieht dies allemal nur zu bestimmten Gelegenheiten und in Gebrauchsformen, die im allgemeinen wenig intensiv sind und gegenüber ästhetischen Intentionen gleichgültig bleiben. Da die soziale Norm sowohl das festlegt, was photographiert werden muß, als auch das, was photographiert werden darf, könnte die Skala des Photographierbaren nicht unendlich erweitert werden, und mit dem Verschwinden der photographischen Anlässe müßte auch die Praxis selbst verschwinden. Nun läßt sich tatsächlich das Photographierbare nicht unbegrenzt photographieren, und außerhalb des Photographierbaren gibt es sozusagen »nichts zu photographieren«. Beispielsweise scheinen die Bauern von Lesquire die Motive in ihrer Alltagsumgebung, von den Kindern einmal abgesehen – und auch das erst seit einigen Jahren –, nicht für wert zu erachten, sie mit der Kamera aufzunehmen: Was man täglich vor Augen hat, photographiert man nicht.

»Also wenn du z.B. eine Reise machst, dann lohnt es sich auch, Photos zu machen. Aber unsereiner, was sollen wir schon photographieren? Die Hauptstraße? Oder spielen: photographierst du mich, photographier ich dich? Ach was, das bringt nichts ein!« »Was meinst du, wer hier Lust hat, zu photographieren? Man hat sich schon zu oft gesehen. Immer dieselben Gesichter, den ganzen Tag! Man kennt sich mittlerweile bis zum Überdruß. 150 Leute, die auf der Stelle treten, ohne eine Möglichkeit der Verbindung nach außen. [...] Es sind hauptsächlich die Fremden, die Ansichtskarten in den Kasten werfen. Die Leute am Ort verschicken bestenfalls Karten mit dem Bild eines Zechers und der Unterschrift ›Grüße aus Lesquire‹ oder auch ›Lesquire, das Dorf der guten Weine‹. Aber Ansichten von unserem Ort? Ausgeschlossen!«

Die extreme Enge und Kompaktheit der Lebenswelt, der Umstand, daß das Erwachsenendasein sich in demselben Rahmen abspielt wie die Kindheit, schließen Fremdheits- und Befremdlichkeitsgefühle aus, jene leichte Verunsicherung, die dazu führt, die Dinge der Umwelt neu wahrzunehmen. Der Tourist und der Fremde rufen Erstaunen hervor, wenn sie die alltäglichen Gegenstände oder Menschen photographieren, die ihrer gewohnten Beschäftigung nachgehen. »Was, Sie photographieren diese Tür! O Gott, am Ende glauben Sie vielleicht, daß wir sie nicht beachten. Im Gegenteil! Sie ist schön!« Die vertraute Umgebung ist das, was man immer gesehen, aber nie wirklich wahrgenommen hat. Allenfalls ist man bereit, sein Haus zu photographieren oder photographieren zu lassen, nachdem man es renoviert oder geschmückt (an einem Feiertag beispielsweise), d. h. festlich hergerichtet hat, genauso wie man seinen Sonntagsstaat anlegt, wenn man sich im Atelier photographieren läßt.

»Wenn das Haus schön wäre, die Zimmer netter gerichtet, die Felder in voller Frucht wären, mit schönen Bäumen und prächtigem Vieh. [...] Aber das ist jetzt nicht die Zeit: Die Felder sind kahl und die Kühe abgemagert.«

Man trifft zwar so gut wie niemals einen Photographen, der nicht der Familienphotographie den ihr gebührenden Platz einräumte; doch gibt es viele unter ihnen, die der Photographie noch andere Sinnvarianten zuschreiben, freilich bloße Abwandlungen der archetypischen Gebrauchsweise. Unstreitig ist die Intensivierung der photographischen Praxis eng verknüpft mit Ferienzeit und Tourismus. Doch daraus darf weder gefolgert werden, daß die Urlaubs- oder Reisebilder nicht mit der familialen Funktion der Photographie erklärt werden könnten, noch daß bereits die Vervielfachung der Anlässe des Photographierens eine Praxis begründete, die mit neuen Bedeutungen ausgestattet wäre.30 Daß von denen, die in Urlaub fahren, mehr photographiert wird als von denen, die zu Hause geblieben sind, liegt sicherlich zum Teil daran, daß die Praxis der Photographie ebenso wie die Möglichkeit, zu verreisen, von der Höhe des Einkommens abhängt, aber auch und vor allem daran, daß der Urlaub zu den »hohen Zeiten« des Familienlebens zählt. Wenn allerdings Unterschiede in den objektiven Anlässen für Photoaufnahmen, die beispielsweise mit der Dauer oder dem Ort der Ferien zusammenhängen, keine nennenswerte Änderung in der Intensität der modalen Praxis nach sich ziehen, so darum, weil diese weniger von Anregungen etwa durch die Schönheit einer Landschaft oder die Verschiedenartigkeit der besuchten Orte abhängt als von gesellschaftlich definierten Anlässen.31 In dem Maße, wie die Ferien Gelegenheit zur Intensivierung der Familienbeziehungen (z.B. für alle, die ihren Urlaub mit der Familie verbringen wollen) und zu vermehrter Geselligkeit mit Freunden bieten, beflügeln sie auch die photographische Praxis, wobei freilich die in dieser Zeit aufgenommenen Bilder in der Regel ebenfalls Familienphotos, allerdings in Urlaubskonstellationen sind.32 Zwar erweitern die Ferien das Spektrum des Photographierbaren und fördern die Neigung zum Photographieren; aber diese Neigung ist nicht qualitativ verschieden von der traditionellen, sondern deren bloße Verlängerung: Eine Praxis, die so eng mit außeralltäglichen Anlässen verwoben ist, daß man sie für eine Technik des Festlichen halten könnte, muß sich notwendig in einer Periode verstärken, für die der Bruch mit der vertrauten Umwelt und mit den Routinen des regulären Daseins charakteristisch ist. Wer in eine quasi-touristische Haltung schlüpft, der entzieht sich dem Verhältnis achtloser Vertrautheit zur alltäglichen Welt, jenem unscharfen Hintergrund, vor dem sich die Formen abzeichnen, die für eine kurze Zeitspanne die Alltagssorgen ausblenden. Nun wird alles zu einer Quelle des Staunens, und der Reiseführer, der ständig zum Bewundern anhält, dient als Leitfaden einer gewappneten und geleiteten Wahrnehmung.33 Photographieren ist etwas, was man während der Ferien tut, und es ist zugleich das, was die Ferien ausmacht: »Ja, das ist meine Frau, die da die Straße entlanggeht; aber sicher, das war im Urlaub, da haben wir dieses Photo gemacht.« (Angestellter aus Paris, 28 Jahre, der sein Familienalbum zeigt.) Indem man noch die nebensächlichsten Orte und Augenblicke im Bild festschreibt, verwandelt man sie in Monumente der Muße: Das Photo soll und wird auf ewig bezeugen, daß man Muße gehabt hat und überdies die Muße, sie ins Bild zu bannen. Die Photographie, die die vergängliche Ungewißheit subjektiver Eindrücke durch die endgültige Gewißheit eines objektiven Bildes ersetzt, ist wie dazu geschaffen, als Trophäe zu fungieren. Während die bekannte alltägliche Umgebung niemals mit der Kamera aufgezeichnet wird, erscheinen Landschaften und Baudenkmäler auf den Ferienphotos als Schmuck oder als Zeichen. Das Photo in seiner allgemeinen Gestalt fixiert die ganz besondere Interaktion (obgleich diese unter identischen Umständen von tausend anderen ebenfalls erlebt werden kann) zwischen einer Person und einem sanktionierten Ort, zwischen einem außergewöhnlichen Augenblick des Lebens und einem durch seinen hohen symbolischen Wert außergewöhnlichen Ort. Der Anlaß der Reise (die Flitterwochen) erhebt die besuchten Orte in den Rang von feierlichen Stätten, und die eklatantesten von ihnen lassen wiederum den Anlaß der Reise noch feierlicher erscheinen. Von einer »wirklichen Hochzeitsreise« spricht man erst dann, wenn sich das Paar vor dem Eiffelturm hat photographieren lassen, denn Paris, das ist der Eiffelturm, und eine »wirkliche Hochzeitsreise« führt eben nach Paris. Eins der Bilder aus der Sammlung von J.B. wird in der Mitte durch den Eiffelturm geteilt, zu dessen Füßen die Frau von J. B. steht. Was uns wie Barbarismus oder Barbarei vorkommt, ist in Wahrheit die vollständige Verwirklichung einer Intention34: Die beiden Objekte, dazu bestimmt, sich gegenseitig zu erhöhen, sind genau in der Mitte des Bildes plaziert, und Zentrierung und Frontalität sind in der Tat die wirkungsvollsten Mittel, dem festgehaltenen Objekt Bedeutung zu verleihen.