Kitabı oku: «Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation», sayfa 5
2.2Leben, Leiden, Loslassen
»Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.«
Karl Valentin51
Es ist in den buddhistischen Lehren viel von Leid die Rede. Dukkha, das Leid, ist ein zentrales Motiv, die Befreiung davon das große Ziel. Einige Meditierende empfinden das als pessimistische Grundhaltung, von der sie sich abgestoßen fühlen. Für viele Menschen, die mit Buddhismus nichts am Hut haben, ist die Prämisse »Leben ist Leiden« eine, die sie davon abhält, sich mit dieser Philosophie überhaupt zu beschäftigen. Doch auch wenn das Konzept von dukkha Widerstand auslöst – es lohnt eine Betrachtung.
Im Alltag verstehen wir unter »Leiden« alles, was unangenehm ist. Ärger, Frust, Schmerz, alles, was wir nicht haben wollen. S. N. Goenka macht in seinen Vorträgen darauf aufmerksam, dass uns auch angenehme Erfahrungen und Sinneseindrücke Leid bescheren können. Und zwar immer dann, wenn wir nicht fähig sind, sie loszulassen. Denn Freud und Leid haben eines gemeinsam: Sie sind vergänglich. Alles, was wir lieben, werden wir wieder verlieren; was uns Freude macht, mit Stolz oder Glück erfüllt, geht unweigerlich irgendwann vorbei. »Anhaftung an etwas, was so kurzlebig, so unbeständig ist, kann nur Leiden bringen«, sagt Goenka.52 In dem Moment, wo ich versuche, das zu besitzen, festzuhalten, zu kontrollieren, was sich ständig verändert und worüber ich keine Kontrolle habe, werde ich zum Schmied meines eigenen Unglücks. Nicht die Welt an sich, sondern mein eigener Geist ist es, der dann Leid entstehen lässt.
Goenka kennt die Schwierigkeiten, die Menschen mit diesem Konzept des allgegenwärtigen Leidens haben. Er betont:
»Dies ist kein pessimistischer Weg. Dhamma lehrt uns, die bittere Wahrheit des Leidens zu akzeptieren, aber es zeigt auch den Weg, der aus dem Leiden herausführt, deshalb ist es ein optimistischer Weg.«
Goenka verweist auf den Realismus und vor allem den »Aktivismus«, der in diesem Weg steckt: »Jeder einzelne muss aktiv werden, jeder einzelne muss arbeiten, um sich selbst zu befreien.«53
Die Botschaft ist: Leid ist kein objektiver Zustand in einer Welt, die außerhalb unserer selbst liegt. Es ist eine mentale Reaktion, eine Aktivität des Geistes. Eine, die wir verändern können, wenn wir unser Bewusstsein entsprechend trainieren. Unmittelbar erfahrbar wird das am Phänomen des Schmerzes. Nicht nur aus diesem Grund nutzt Goenka den Abendvortrag des dritten Tages dazu, die Meditierenden auf die Vipassana-Technik einzustimmen, mit der am vierten Tag begonnen wird.
Blut, Schweiß und Tränen
Bei Vipassana geht es darum, mit der Aufmerksamkeit durch den gesamten Körper zu wandern. Es ist eine Art Bodyscan, der nach einem ganz bestimmten Prinzip eingeführt und ausgeübt wird. Was nun beginnt, gleicht einer Expedition – nicht ins All, sondern in den eigenen Körper.
Diese Expedition führt – gerade für Anfänger kommt das manchmal unerwartet – allerdings nicht direkt in die stillen, leeren Weiten des inneren Raumes, sondern zunächst einmal in die Fülle all dessen, was in diesem Raum vorhanden ist. Das ist oft jede Menge Unwohlsein, die körperliche Entsprechung der zuvor während der Ānāpāna-Phase bereits wahrgenommenen Unruhe. Dirk, ein erfahrener Praktizierender, erzählt eindrucksvoll von »Schluckbeschwerden, Krämpfen, alles, was man so haben kann«. Vor allem Schmerzen in Nacken, Schultern, im unteren Rücken und im Knie sind sehr verbreitet. Dirk erinnert sich an heftige Körperreaktionen, die auftraten, während er mit der Aufmerksamkeit durch seinen Körper wanderte. »Es gab eine Phase, da hatte ich das Gefühl, ich stehe auf einer heißen Herdplatte, so sehr brannten mir die Füße. Das wurde so schlimm, dass ich zum Lehrer gegangen bin und gesagt habe: ›Ich halte das nicht aus. Gibt es denn hier in diesem Zusammenhang keinen Jesus oder einen lieben Gott, der mir hilft, diese Schmerzen auszuhalten?‹ Ich war wirklich verzweifelt.«
Nein, einen lieben Gott bietet Vipassana nicht. Meditierende sind auf sich gestellt, niemand kann sie erlösen außer sie selbst. Was aber möglich ist: den Schmerz zu erkunden und mit ihm anders umgehen zu lernen. Dirk ist das gelungen, er ist mittlerweile seit Jahren fest in der Praxis verankert und hat nach einigen Zehntageskursen dann auch längere Kurse gesessen. Mittlerweile ist er im Rentenalter und engagiert sich stark im Vipassana-Zentrum. Das Thema Schmerz blieb für ihn weiterhin präsent. Er erzählt davon, dass er kurz vor seinem ersten Zwanzig-Tages-Retreat von schrecklichen Rückenschmerzen heimgesucht wurde. »Ein leichter Bandscheibenvorfall. Ich war in Belgien im Meditationszentrum angemeldet, seit Monaten schon, und ich war fest entschlossen, diesen Kurs zu sitzen. Ich dachte: Ich fahre jetzt da hin, und wenn es gar nicht geht, breche ich halt ab und fahre wieder nach Hause.« Dirk meldet sich beim Lehrer und informiert ihn, dass er statt auf einem Kissen auf einem Stuhl meditieren muss, dass er vorerst auf dem Boden liegend meditieren wird und auch nachts auf dem Boden statt in seinem Bett schlafen wird. Der Lehrer reagiert verständnisvoll und entgegenkommend, eine Erfahrung, von der viele Meditierende berichten: Dass sie stets das Gefühl hatten, in ihrem Wunsch zu meditieren voll unterstützt zu werden, dass Mittel und Wege gefunden werden, um die Praxis zu ermöglichen, wo Krankheiten oder Einschränkungen im Weg stehen. »Der Lehrer meinte nur: ›Okay, mach das alles. Aber abends um 18 Uhr musst du in der Meditationshalle sein.‹ Das war die einzige Vorgabe, die er gemacht hat.« Dirk findet also seinen Weg, durch alle Schmerzen hindurch. Er erinnert sich an den Tipp, den ein Lehrer ihm in einem vorigen Kurs gegeben hatte, nämlich ānāpāna zu machen, wenn die Schmerzen zu schlimm werden, also sich auf den Atem zu konzentrieren statt auf den Bodyscan. »Die Stunde abends in der Halle habe ich auf meinem Stuhl auch irgendwie hinbekommen. Und nach zwei Tagen waren meine Rückenschmerzen weg!« Dirk erzählt, dass er im Anschluss achtzehn Tage lang problemlos sitzen und meditieren konnte, und dabei weniger Schmerzen hatte als je zuvor. Er berichtet, dass ein anderes Mal, kurz bevor er zu einem 45-Tageskurs aufbrach, wieder »irre Schmerzen« aufgetaucht seien, »ganz heftige körperliche Veränderungen«. Dirk vermutet, dass er einfach Angst hatte: »Ich denke, ich habe nicht wahrgenommen, wie sehr mich das geängstigt hat, was ich mir da vorgenommen hatte. Und mein Körper hat halt reagiert, immer pünktlich einen Tag vor der Abreise.«
Für Dirk, wie auch für viele andere Meditierende, liegt die Lösung weder in der Vermeidung noch im »Durchbulldozern«. Sie liegt in der Vipassana-Technik selbst und darin, mit ihr zu experimentieren. Vipassana beobachtet. Wenn Schmerzen da sind, dann bedeutet »Sehen, was ist«, den Schmerz zu beobachten. Ihn nicht wegzuwünschen, ihm nicht auszuweichen, sondern ihm mit Neugier und Forschergeist zu begegnen. Menschen, die es nicht gewohnt sind, ihren Körper und seine Empfindungen zu beobachten, kommt dies erst mal unmöglich, wenn nicht gar gefährlich vor.
Jon Kabat-Zinn, der Begründer der MBSR-Technik, hat den Ausdruck »sekundärer Schmerz« geprägt. Damit ist gemeint: Was uns leiden lässt, ist nicht der Schmerz an sich. Der Schmerz an sich ist einfach eine Empfindung, ein Signal des Körpers, wenn auch ein unangenehmes. Schwierig wird es, wenn wir den Schmerz ablehnen, wegwünschen, fürchten, verfluchen; und wenn wir uns dabei immer mehr verspannen und verstricken, wenn wir Geschichten bauen, die dazu zu passen und ihn zu erklären scheinen: »Erst hatte ich eine so anstrengende Zeit und jetzt, wo ich mich endlich erholen wollte, auch noch dies …« Oder: »Dieses Stechen ist unerträglich, derart zum Verzweifeln, was wenn da ein Tumor dahintersteckt …?« Die Geschichten, die wir zum Schmerz hinzubauen, sind so unterschiedlich wie die Menschen, die ihn fühlen. Was sie gemeinsam haben ist, dass es diese Reaktionen auf den Schmerz sind, die den Großteil des Leidens ausmachen. Wir haben es hier mit dukkha in Reinform zu tun, mit Verlangen und Aversion. Der Schmerz soll weg, angenehme Zustände sollen her. Und das bitte sofort!
Sobald es Meditierenden gelingt, an dieser Stelle die Ruhe zu bewahren, können sie eine wichtige Lernerfahrung machen: Die Wechselwirkung von Körper und Geist, sie lässt sich am Phänomen Schmerz ideal erfahren. Wer genau hinspürt, der kann bemerken: Schmerz ist nicht gleich Schmerz. Da gibt es eine Stelle, die pulsiert und puckert, sie hat einen Kern und nach außen hin wird das Puckern weniger. Oder da ist eine Spannung, die in Härte übergeht und einen Knoten bildet, der eisig und verschlossen wirkt. Brennen, Jucken, Ziehen, Kribbeln, Gefühle von Hitze, Druck … – Es lohnt sich, sich der besonderen Qualität dieses Schmerzes zuzuwenden, ihn nicht abzulehnen, sondern neugierig zu untersuchen. In dem Moment, wo die Abwehr nachlässt, wird in den meisten Fällen auch der Schmerz erträglicher, schwächt sich sein Katastrophencharakter ab.
Während man entsprechend den Anweisungen mit der Aufmerksamkeit durch den Körper wandert, abschweift, sich wieder konzentriert, wahrnimmt und immer feiner beobachtet, wird deutlich: Zu jedem Geisteszustand gibt es eine entsprechende körperliche Empfindung, und genauso gibt es zu jeder körperlichen Wahrnehmung eine emotionale und mentale Entsprechung. Dem eigenen Körper-Geist-System und seiner Funktionsweise nach und nach auf die Schliche zu kommen, kann eine hochspannende »Reise ins Ich« werden, eine intime Kontaktaufnahme mit sich selbst. Es ist schwer zu sagen, ob die Schmerzen wirklich quantitativ weniger werden – vielleicht ist es auch der innere Raum, der größer wird.
Goenka wird nicht müde zu betonen, dass Meditierende mit »Gleichmut« praktizieren sollen. Nicht bewerten, nicht herbeiwünschen, nicht ablehnen. Eine Erzählung von Gerhard macht deutlich, dass Gleichmut auch mit Mut zu tun hat. Denn es kostet Überwindung, sich für unangenehme Empfindungen zu öffnen und sich auf sie einzulassen. Da ist eine Furcht, überwältigt zu werden, sobald man ihnen »erlaubt«, da zu sein. Gerhard erinnert sich: »Ich hatte zu Beginn sehr heftige Empfindungen an Armen, Knien und Füßen. Ich bin da zuerst immer drüberweg gesprungen, ich bin dem ausgewichen, weil mir das einfach zu mächtig war. Später habe ich dann begriffen: Das ist das Entscheidende, ich muss mir das angucken. Dann konnte ich mich darauf einlassen, es beobachten. Und ich habe gemerkt: Tatsächlich, wenn ich mit meiner Aufmerksamkeit dableibe, dann passiert etwas, die Empfindungen verändern sich. Sie verändern sich nicht, wenn ich jedes Mal über sie hinwegspringe. Ich muss mich dem schon stellen.«
So bescheiden das klingt, es ist eine fundamentale Einsicht: Den Körper kann ich nicht beherrschen – sehr wohl aber meinen Geist trainieren. Indem ich ihn durch kontinuierliche Praxis dazu erziehe, im Moment zu bleiben, in diesem einen und immer wieder diesem einen Augenblick, gewöhne ich ihm ab, davonzueilen und Geschichten zu erfinden. Das beeinflusst auch das Schmerzempfinden. Gerhard fasst das so zusammen: »Die Einstellung dazu ändert sich. Man weiß, dass er da ist. Man weiß, wo er herkommt. Der Schmerz ist da, ich kann mir jetzt aussuchen, ob ich mich darüber aufrege oder nicht. Wenn man das akzeptieren kann, kommt man da besser mit zurecht, man kommt schneller durch, und es staut sich auch nicht so viel Neues an.«
Je feiner die Aufmerksamkeit wird, je subtiler die Empfindungen sind, die wir in der Lage sind, wahrzunehmen, desto besser lässt sich dieses innere Gleichgewicht halten. Denn starke Empfindungen wie Schmerz beginnen mit feinen, leisen Signalen. Die Macht, uns zu überwältigen, bekommen sie nur, wenn sie dieses frühe Stadium schon unbemerkt passiert haben.
Gerhard ist zu der Einsicht gekommen, dass es vor allem gilt, nicht stecken zu bleiben, nicht an Verlangen oder Aversion hängen zu bleiben: »Die Idee ist, nicht anzuhaften. Je länger ich mit der Aufmerksamkeit bei einer Empfindung bleibe, desto mehr Wichtigkeit gebe ich ihr. Wenn ich aber beobachte, welche Empfindung in diesem Moment gerade da ist, dann bin ich in genau diesem Moment. Dann bin ich nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft, sondern genau im Hier und Jetzt. Und dann beruhigt sich der Geist.« Goenka betont in seinen Anweisungen: Es ist menschlich und normal, auf Empfindungen mit Abneigung oder Anhaftung zu reagieren. Mit der Vipassana-Methode zu meditieren heißt, uns diese Gewohnheit abzutrainieren. Es ist eine starke Prägung, ja Konditionierung, in den allermeisten Fällen die eines ganzen Lebens. Darum ist es völlig normal, dass Meditationsanfänger ständig »reagieren« und sich verstricken. Es ist ungewohnt, auf Körperempfindungen zu achten, und noch ungewohnter, all diese Wahrnehmungen gleichmütig zu beobachten. Goenka sagt an Tag 4:
»Es werden einige Augenblicke kommen, in denen Sie trotz großer Schmerzen gleichmütig bleiben. Diese Momente besitzen eine ungeheure Kraft, wenn es darum geht, das Gewohnheitsmuster des Geistes zu verändern.«
In diesen Momenten, und seien sie noch so kurz, tut sich ein Türspalt zur inneren Freiheit auf, in den man als Meditierender den Fuß stellen kann. Dieser Momente des Gleichmuts gewahr zu werden, ist die Voraussetzung dafür, dass sie sich von Stund an vermehren können. »Und irgendwann wird der Moment kommen«, so Goenka, »wo Sie das Stadium erreichen, in dem Sie jeder Empfindung mit einem Lächeln begegnen. Weil sie anicca, vergänglich ist.«54
Die eigenen Körperempfindungen zu beobachten hat eine enorm beruhigende Wirkung, die viele Meditierende sehr schnell als entspannend empfinden. Nicht umsonst kommt in vielen Entspannungsmethoden die eine oder andere Form des »Bodyscans« vor, ein Wandern durch den Körper und seine Teile. Die Aufmerksamkeit zwar zu lenken, aber dabei kein Ziel erreichen zu wollen – anders als zum Beispiel beim Autogenen Training, wo einzelne Körperteile gezielt durch Suggestion entspannt werden –, hat einen extrem entspannenden Effekt. Gleichzeitig ist es zutiefst beunruhigend. Denn unser Körper ist die Basis unseres Seins. Die Basis dessen, was wir sind, und zugleich die Basis all dessen, was wir lieber nicht wären: Krankheit, Schmerz, Verfall, Alter und Tod – all das spielt sich im Körper ab, und all das kommt nach und nach zu Bewusstsein.
Jenseits der Schmerzen warten jedoch auf die Meditierenden auch sehr angenehme Erfahrungen. Goenka spricht von »subtilen Empfindungen« und dem »freien Fluss«, Meditierende berichten von einem Gefühl, als würden Sie mit Honig oder Wasser übergossen. Angela erzählt, wie eindrücklich sie das erlebt hat: »Da war dieses freie Fließen, alles ist so ohne Hindernisse durch den Körper geflossen. Das war reine Glückseligkeit, ich wusste: Es ist alles in mir.« Sie erzählt von einem Gefühl von Vollständigkeit, das sie erfüllte, »so eine Geborgenheit in der Welt«. Auffallend viele Meditierende sprechen von dem Gefühl, »nach Hause zu kommen«. Einige wenige Praktizierende müssen sich gar nicht erst durch das Tal der Schmerzen hindurcharbeiten, sie steigen gleich bei diesen angenehmen Empfindungen ein. Britta erzählt: »Ich hatte nie Schmerzen beim Sitzen, das war mir vollkommen fremd, wenn andere davon erzählten, dass sie körperliche Probleme hatten beim Meditieren. Ich wusste gar nicht, wovon die sprechen. Für mich war das von Anfang an so ein Honeymoon-Erlebnis. Natürlich hat mich das eine oder andere Mal emotional aufgewühlt, aber ich konnte immer damit umgehen.«
Es scheint zwei Typen von Meditierenden zu geben: Den einen fällt es leicht, den anderen schwer. Letztlich ist keine Veranlagung besser oder schlechter als die andere, eher sind es zwei Seiten derselben Medaille. Die Herausforderung stellt sich zwar unterschiedlich dar, ist jedoch in beiden Fällen dieselbe: aus der Erfahrung kein Leiden erwachsen zu lassen, also Gleichmut zu bewahren. Das dürfte für diejenigen, die lernen müssen, mit Schmerzen umzugehen, fast leichter zu erlernen sein, weil es anders schlicht und ergreifend nicht weitergehen würde. Gerhard erzählt, wie er damit umgeht, wenn ihn Schmerzen plagen: »Dann gehe ich halt wieder durch den Körper, von Kopf bis Fuß und wieder zurück, und so drehe ich meine Runden und schaue jedes Mal wieder nach.« – Nichts anderes ist Vipassana.
Diese Technik ist kein Spaziergang. Sie durchzuführen und dranzubleiben, erfordert Disziplin, Beharrlichkeit und Mut. Es macht aber auch Spaß. Vipassana kann zu einer Entdeckungstour durch die eigene Existenz werden. Paul R. Fleischman, ein amerikanischer Psychiater, der von Goenka angeregt wurde, zu den Berührungspunkten zwischen Vipassana, Psychologie und Wissenschaft zu veröffentlichen, spricht von einer »Safari in die eigene psychologische Serengeti, pausenlos interessant und voller unerwarteter wilder Tiere«.55
Dass einem zwischendurch der Mut ausgeht, dass man keine Lust mehr hat, Ausreden findet oder auf den Gedanken verfällt, alles sei zwecklos – all das ist normal und kein Anlass, aufzuhören. »Start again«, diese Worte von Goenka begleiten die Meditierenden zehn Tage lang. Beginne von Neuem. Und von Neuem. Und von Neuem. In dieser Aufforderung steckt große Disziplin, aber auch unendliche Geduld und Nachsicht mich sich selbst. Sammle den davongewanderten Geist ein, immer und immer wieder, und beobachte alles, was du an der Oberfläche und in der Tiefe deines Körpers wahrnehmen kannst. Sei aufmerksam für das, was du wahrnimmst und beobachte es mit Gleichmut. Dann wird sich die Einsicht in dir ausbreiten, dass alles sich in jedem Moment verändert, dass keine Millisekunde der anderen gleicht. Das einzig Verlässliche in diesem Universum ist Veränderung, ein Prozess ohne Anfang und ohne Ende. Durch Vipassana wird diese große, universelle Wahrheit am eigenen Leib erlebbar, die Evidenz ist körperlich.
Goenka spricht nicht umsonst von einer »Operation«, die die Meditierenden nach seinen Anweisungen bei einem Zehntageskurs durchführen. Vipassana bewirkt tiefe und einschneidende Veränderungen.
Eine Expedition mit ungewissem Ausgang unternimmt man nicht allein. Die Soziologin Michal Pagis weist auf das Paradox hin, dass eine fast schon solipsistisch* anmutende Praxis wie Vipassana im Kollektiv eingeübt wird.56 Vipassana-Meditierende sind zwar in dem inneren Raum, in dem sie sich durch und mittels der Technik bewegen, auf sich selbst zurückgeworfen und angehalten, jegliche Kommunikation mit anderen zu unterlassen. Jeder einzelne Teilnehmer tritt diese Odyssee für sich allein an. Und doch reiht sie oder er sich ein in eine Gruppe von bis zu hundert anderen Menschen, die im gleichen Raum meditieren, nebeneinander schweigend essen, zur gleichen Zeit schlafen gehen. Meditierende begeben sich in den Schutz des Kollektivs, und sie schützen und stärken durch die eigene Präsenz wiederum die anderen. Allein die körperliche Anwesenheit all der anderen schweigenden Mitreisenden auf dieser Expedition hat eine große Wirkung. Sie bietet eine soziale Verankerung, wenn auch in einer schweigenden Gemeinschaft. Viele Praktizierende berichten davon, dass ihnen das gemeinsame Meditieren spürbar hilft, dass die Konzentration in der Gruppe leichter zu finden ist und dass die Meditationserfahrungen im Gruppenraum für sie die tiefsten sind. Ob es das Aufgehobensein in einem sozialen Setting ist, das uns menschlichen Säugetieren die nötige Ruhe gibt, uns auf das Wagnis einer solchen Expedition in den Innenraum einlassen zu können? Wir werden das nicht klären können, aber es ergibt Sinn, was Michal Pagis diagnostiziert: »Meditierende brauchen andere Meditierende, um einander vergessen zu können.«57
Forscher in der inneren Serengeti – das Zusammenspiel von Geist und Körper erkunden
Den eigenen inneren Raum zu betrachten, ist gar nicht so einfach. Goenka gibt die Anweisung, dass Meditierende sich kein Bild von den einzelnen Körperteilen machen sollen, die sie mit ihrer Aufmerksamkeit durchwandern. Man soll sie von innen heraus wahrnehmen, wirklich mit den Sinnen erfühlen. Meditierende sollen das beobachten, was man nicht sehen kann. Keine leichte Aufgabe, denn wir alle sind es gewohnt, uns von außen zu sehen, im Spiegel und durch die Augen der anderen. Das betrifft nicht nur unsere Körper, sondern auch die Rollen, die wir im Leben spielen. Wir alle sind soziale Wesen und als solche ununterbrochen in Beziehung. Diese Beziehungen bringen Anforderungen, Erwartungen und Erwartungserwartungen mit sich, die für uns alle ständig wechseln: Wir sind Lehrerin, Mutter, Ehefrau, beste Freundin, Tochter, Bruder, Nachbar, Kunde … die Liste ist endlos. Es kostet Energie, diese Rollen einzunehmen und zwischen ihnen zu wechseln und zu vermitteln. Das Bindeglied ist unser Körper, der in allen diesen Rollen derselbe bleibt. Durch die intime Kontaktaufnahme mit dem eigenen Körper und seinen Empfindungen schaffen Meditierende eine Kontinuität, die als kraftvoll und heilsam empfunden wird. Viele Menschen machen in diesem Rahmen zum ersten Mal die Erfahrung, dass sie das eigene Bewusstsein erfahren und ein Stück weit auch lenken können. Angesichts von anattā klingt es paradox, aber es eine empirische Tatsache: Je vertrauter wir mit uns selbst werden, mit dem sich stetig verändernden Fühlen, Denken und Wahrnehmen, das uns ausmacht, desto stärker wird der Eindruck von Identität. Nicht im Sinne einer unveränderlichen, abgeschlossenen Persönlichkeit, sondern von einer Mitte, in die wir rücken.
Josephine berichtet, dass sich bei ihr »ein völlig anderes Zeitgefühl« einstellt, während sie sich beim Meditieren »wie eine Forscherin in dieser inneren Welt« bewegt. Vipassana zu machen heißt genau dies: die Kontaktstelle zwischen Körper und Geist zu erkunden. Es gibt viele Methoden und Techniken, die diese Schnittstelle in den Fokus rücken: Von Yoga über Logopädie bis zu Feldenkrais, auch Therapieformen wie zum Beispiel Osteopathie oder Faszientherapie. Vipassana-Meditierende brechen ohne Behandler auf. Sie nehmen die Erkundung des inneren Raums selbst in die Hand. Systematisch und gründlich, möglichst konzentriert und mit einer neugierigen Grundhaltung. Wer sich darauf wirklich einlässt, wird sich selbst kennenlernen. Den eigenen Körper und seine Empfindungen, wie sie sich aufbauen, entfalten und wieder vergehen. Ob Schmerz, Wohlbefinden oder Langeweile – der Beobachter bleibt möglichst unbeeindruckt. Es geht darum, »mit sich selbst durch dick und dünn zu sitzen«, wie Paul R. Fleischman so schön sagt.58 Bei einem Zehntageskurs tun Meditierende das drei Mal am Tag in der Meditationshalle, in Gegenwart des Lehrers und aller anderen Kursteilnehmer. Die restlichen Stunden steht es den Kursteilnehmern frei, auch allein auf dem Zimmer zu meditieren. Erfahrenen Meditierenden wird oft eine eigene »Zelle« zugeteilt, wo sie komplett ungestört sein können. Diese »kollektive Einsamkeit«, wie Michal Pagis es nennt, ist das Fundament für die spätere Praxis zu Hause. Der Psychiater und Vipassana-Lehrer Fleischman macht darauf aufmerksam, dass ein Zehntageskurs mit seinen strikten Regeln und vielen, vielen Stunden Meditation am Tag das perfekte Setting bietet, um das eigene Körper-Geist-System wirklich kennenzulernen:
»Um zu erfahren, was Vipassana wirklich bietet, müssen Sie sich Zeit geben, morgens, mittags und abends zu meditieren: morgens, mittags, abends, morgens, mittags, abends. Sie meditieren, wenn Sie hungrig sind und wenn Sie essen und wenn Sie mit dem Essen fertig sind. Wenn ihr Bauch voll ist, wenn Ihr Bauch leer ist, wenn Ihr Bauch wieder voll ist, wenn er wieder leer ist. Sie meditieren, wenn Sie aufwachen, wenn Sie gerade aufgewacht sind, wenn Sie ganz wach sind, wenn Sie schläfrig sind und nach dem Mittagessen, wenn Sie wach sind am Nachmittag, wenn Sie schläfrig sind am Abend. Sie lernen durch all die verschiedenen Ebenen der Sättigung und Wachsamkeit zu meditieren … Sie lernen, unter all den unterschiedlichen Bedingungen zu meditieren, die Ihr Geist und Ihr Körper Ihnen präsentieren werden«59
– im Kurs wie auch auf dem Kissen oder dem Stuhl daheim.
Die Anweisungen, anhand derer die Kursteilnehmer in dieses Abenteuer aufbrechen, sind sehr präzise und detailliert. Jeden Tag kommt eine neue Anweisung hinzu, die auf den vorigen aufbaut, jeden Tag kommt eine neue Dimension hinzu. Die Meditierenden haben zwei Mal am Tag die Gelegenheit, einem Lehrer Fragen zu stellen, den Großteil des Tages sind sie jedoch mit sich selbst, mit den Inhalten ihres Geistes und den Empfindungen ihres Körpers allein. Manche Menschen schreckt diese Vorstellung ab. Andere erleben es als Luxus, so viel Zeit für sich zu haben, den Raum zur Verfügung gestellt zu bekommen, sich so intensiv sich selbst zuwenden zu dürfen. »Was mich an Vipassana angezogen hat, war die Tatsache, dass Meditation ganz meins ist. Alles, was nach den Anweisungen kommt, ist einfach nur für mich«, so fasst es eine Kursteilnehmerin für Michal Pagis zusammen.60 Ein früher Text des Pali-Kanons zeigt an, dass es eine Art von Rückzug, von Einsamkeit gibt, die es braucht, um zu meditieren. Die »Rhinozeros«-Sutta61 erzählt davon, dass Meditierende sich allein auf die Suche machen sollen, wie ein indisches Rhinozeros, das als Einzelgänger durch die Wälder zieht. Mit diesem Bild dürfte eher eine innere Unabhängigkeit gemeint sein als wirkliche Selbstisolation, denn auch der Buddha zog nach seiner Erleuchtung in Gesellschaft seiner Anhänger durchs Land, er sprach mit den Menschen und war ein eher geselliger Typ. Nicht umsonst nimmt, wer Vipassana lernen will, nicht nur Zuflucht zu den Lehren und zu Buddha, der sie vermittelt, sondern auch zur sangha – der konkreten Gemeinschaft der Praktizierenden. Das Besondere an dem Setting eines Vipassana-Zehntageskurses ist, dass es ermöglicht, völlig in die Einsamkeit zu gehen – gerade durch den sozialen Rahmen, den es aufbaut. Ein solcher Kurs bietet eine Bindung an andere Menschen, ein Getragensein, innerhalb dessen man sich hochkonzentriert mit sich selbst beschäftigen und an sich arbeiten kann. Einige Meditierende, mit denen wir gesprochen haben, betonen, dass sie diesen Raum als »unsagbar kostbar« empfinden. Britta sagt über die Vipassana-Kurse: »Die sind so achtsam. Da darf noch nicht mal der Postbote klingeln im Zentrum, wenn ein Kurs läuft. Das ganze Gelände ist abgeschirmt, du hast einen wirklich geschützten Raum. Das ist so kostbar, ich hoffe, dass ich das nie aufgeben muss.«
Fabio erzählt davon, dass er einmal nach Myanmar ins Kloster ging, um dort einen Monat lang zu meditieren. »Ich habe dort erst gemerkt, wie wertvoll die Kurse sind, die wir hier haben. Ich war in einem Kloster, wo wirklich viel Wert auf die Praxis gelegt wurde. Und selbst dort haben viele Mönche nicht wirklich respektiert oder respektieren können, dass ich edle Stille halten wollte. Das hat mich wirklich überrascht. Ich würde sagen, auf Zehntageskursen bei uns wird ernsthafter meditiert als dort.«
Ein wichtiger Teil der Didaktik sind die Vorträge, die jeden Abend gehört werden. Zu Anfang für viele etwas gewöhnungsbedürftig, wird dieser tägliche Input schon bald zu einer tragenden Säule des Kurses. Hier wird vertieft, was tagsüber geübt wurde, und vorbereitet, was am Folgetag kommt. Goenka gibt Informationen zu wesentlichen buddhistischen Perspektiven und beantwortet Fragen, die sich den Meditierenden im Prozess stellen. »Es war sonderbar, jeden Abend bekam ich die Antwort auf genau die Frage, die mich den ganzen Tag lang beschäftigt hatte.« Diesen oder einen ähnlichen Satz sagen viele Meditierende. Für Petra waren die Vorträge stets »das Highlight. Da wurde alles gesagt, was ich immer schon mal hören wollte … und gleichzeitig knüpften diese Vorträge an meine Eigenverantwortung an«. Für Dirk waren die Vorträge das Medium, das seine Erfahrungen beim Meditieren verständlich machte. »Da kamen so viele Dinge auf, auf die ich überhaupt nicht vorbereitet war. Und dann gab es aber die Abendvorträge, die mir den Sinn vermittelt haben von dem, was ich da erlebte. Ich kann gar nicht mehr die Inhalte wiedergeben, aber für mich war es mehrfach so, dass ich an einem Punkt war, wo ich dachte: ›Das schaffe ich nicht mehr, ich schmeiße hin.‹ Und dann, jedes Mal, dachte ich während des Abendvortrags irgendwann: ›Ach, so ist das zu verstehen!‹ Und dann war wieder die Motivation da zu sagen: ›Doch, ich mache weiter, ich haue nicht ab!‹« Dirk erzählt, dass er auch nach Jahren noch manchmal zu Hause Goenkas Vorträge hört und dabei immer wieder auf Inhalte oder Erklärungen stößt, die er zwar schon oft gehört hat, die aber genau zu diesem Zeitpunkt neu zu ihm sprechen und eine Frage beantworten, die ihn aktuell beschäftigt.
Ein Grund, den Kurs vorzeitig abzubrechen, ist für viele die Strenge der Kursstruktur. »Am Anfang dachte ich, das ist hier nicht nur wie im Kloster, sondern irgendwie auch wie im Gefängnis«, erinnert sich Maja. Wie die Gruppe ist auch diese Struktur dazu gedacht, die Meditierenden in ihren Bemühungen zu unterstützen, ihnen Halt zu geben und Störungen auf ein Minimum zu reduzieren. Der strikte Zeitplan, der mit dem Aufstehen um 4:00 Uhr morgens beginnt, das Schweigegebot, die Regeln, die jedes kleinste praktische und organisatorische Detail in Bahnen lenken. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. »Ich weiß noch, dass ich das dann bei meinem zweiten Kurs total genossen habe. Ich wusste: Ich kann mich darauf verlassen, dass hier alles funktioniert. Ich muss mit niemandem reden oder Kontakt aufnehmen, denn das Wesentliche ist da, ich bin versorgt mit allem, was ich brauche. Das ist wirklich großartig, ich meine, die kümmern sich einfach um alles – und das ›nur‹ für mich, damit ich ungestört meditieren kann.«
Maja ist heute noch ganz gerührt, wenn sie an die Bemühungen all derer denkt, die einen solchen Kurs ermöglichen. Bei allem Aufsich-geworfen-Sein ist der Kurs dennoch ein sozialer Raum, eine schweigende WG auf Zeit. Der Meditationsraum wird geteilt, Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen, und oftmals teilen sich auch zwei oder mehr Meditierende einen Schlafraum. Dieses Setting bietet im Sinne Fleischmans eine wunderbare Möglichkeit, sich aus einer meditativen Grundhaltung heraus mit Situationen auseinanderzusetzen, die einen auch im Alltag zu Hause wieder erwarten werden. In der Meditationshalle ist der Nachbar erkältet und zieht ständig die Nase hoch, auf dem Zimmer schnarcht jemand oder hat einen laut tickenden Wecker dabei.
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