Kitabı oku: «DAS BUCH ANDRAS I», sayfa 2

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Dennoch war dieser Name im Augenblick scheinbar alles, was mir von meinem bisherigen Leben geblieben war, sodass ich ihn trotz seiner anfänglichen Fremdheit dankbar annahm wie ein kostbares Geburtstagsgeschenk und sogleich in verschiedenen Variationen in Gedanken benutzte, um mich daran zu gewöhnen: Sandra Dorn. Mein Name ist Dorn, Sandra Dorn. Ich heiße Sandra Dorn. Hallo, ich bin Sandra. Vielleicht, so hoffte ich, würde er mir mit der Zeit und mit dem Grad seiner Anwendung vertrauter werden, so wie man neue Schuhe auch erst einlaufen muss, bevor sie hundertprozentig passen.

»Frau Dorn?«

Gabriel hatte mich wohl schon mehrmals mit meinem Namen angesprochen, bevor ich endlich darauf reagierte. Einerseits war ich tief in Gedanken versunken gewesen, zum anderen hatte ich noch Startschwierigkeiten, mich an den für mich in meiner gegenwärtigen Situation noch unvertraut klingenden Namen zu gewöhnen und dementsprechend zu reagieren, wenn ich ihn hörte.

»Hat Ihr Name weitere Erinnerungen in Ihnen ausgelöst?«, fragte Gabriel, als ich ihm wieder meine volle Aufmerksamkeit schenkte.

»Nein!« Es gelang mir, dieses eine Wort zu sagen, ohne in Tränen auszubrechen. Die Traurigkeit darüber, all meine wertvollsten Erinnerungen an mein früheres Leben und mein Ich verloren zu haben, war noch nicht vollständig abgeklungen, sondern für den Augenblick allenfalls an den Rand meines Bewusstseins verlagert worden. Ich hegte jedoch die Befürchtung, dass sie dort geduldig darauf wartete, um zu gegebener Zeit und aus gegebenem Anlass erneut über mich herzufallen. Es sei denn, es gelang mir vorher, meine Erinnerungen auf andere Art und Weise wiederherzustellen, so wie man nach dem versehentlichen Löschen der Festplatte eines Computers auf eine zuvor erstellte Sicherheitskopie zurückgreift. Ich besaß zwar kein solches Backup meiner Erinnerungen, möglicherweise konnte ich die Lücken aber durch Informationen füllen, die ich von anderen erhielt. Schon formte sich in meinem Kopf ein wahrer Katalog weiterer Fragen, die meine Aufmerksamkeit so vollständig gefangen nahmen, dass mir schon aus diesem Grund keine Zeit blieb, weiterhin Trübsal zu blasen.

Gabriel musste mir angesehen haben, dass ich mich wieder gefangen hatte und ihn jeden Moment mit einem weiteren Bombardement an Fragen eindecken würde. Bevor ich auch nur eine einzige davon stellen konnte, nahm er mir aber schon den Wind aus den Segeln, indem er sagte: »Ich bin im Augenblick leider nicht in der Lage, Ihnen weitere Fragen zu beantworten, Frau Dorn. Vielleicht kann Ihnen aber Dr. Jantzen dabei helfen, die eine oder andere Lücke in Ihrem Gedächtnis zu füllen. Sobald er erfahren hatte, dass Sie aufgewacht und allem Anschein nach wieder bei Sinnen sind, wies er mich an, Sie zu ihm zu bringen.«

»Wieder bei Sinnen …?«, wiederholte ich nachdenklich. Zumindest wurde mir nun ansatzweise bewusst, warum ich mit Ledergurten ans Bett gebunden worden war. Ich war wohl nicht bei Sinnen gewesen, was immer das im konkreten Fall bedeutete.

Erneut schien mir Gabriel anzusehen, was ich dachte. Vielleicht war ich auch nur sehr einfach zu durchschauen. Was wusste ich denn schon über mich? Gar nichts!

»Sie haben richtiggehend getobt«, konkretisierte der Pfleger seine vorherige Aussage. »Nachdem Sie eingeliefert worden waren, haben Sie jedes Mal, sobald Sie erwacht sind, fürchterlich geschrien, um sich geschlagen, getreten und sogar gebissen. Zu Ihrer eigenen und zur Sicherheit des Personals mussten wir Sie fixieren …« Bei diesen Worten wies er mit der rechten Hand nacheinander auf die diversen Ledergurte. »… und medikamentös ruhigstellen. Der Durst und die Kopfschmerzen kommen wahrscheinlich davon.«

Möglicherweise hatte er mir damit weitaus mehr erzählt, als er eigentlich vorgehabt hatte, und unweigerlich einen Rattenschwanz weiterer Fragen aufgeworfen. Doch bevor ich auch nur ein Wort äußern konnte, vollführte er mit der Hand wieder eine entschlossene Geste, die mir Schweigen gebot.

»Da Sie jetzt wach und nach meinem ersten Eindruck auch wieder endgültig bei Sinnen sind, gehe ich davon aus, dass die Fixierung durch die Gurte nicht länger erforderlich ist. Wenn Sie mir versprechen, keine Schwierigkeiten zu machen, kann ich auch davon absehen, Ihnen zur Sicherheit eine Zwangsjacke anzuziehen.«

Mir wurde bereits bei der bloßen Vorstellung ganz anders, in einer Zwangsjacke durch das Gebäude zu diesem Doktor Jantzen geführt zu werden. »Was immer vorher mit mir los war, jetzt bin ich wieder vollkommen klar im Kopf«, versicherte ich dem Pfleger daher rasch und ergänzte, wenn auch nur in Gedanken: Abgesehen von einer Gedächtnislücke so groß wie ein Fußballfeld. Laut fuhr ich fort: »Ich verspreche hoch und heilig, Ihnen keine Schwierigkeiten zu bereiten. Großes Indianerehrenwort. Ich werde ganz brav sein.« Meine Worte klangen zwar ziemlich kindisch, doch ich meinte sie ernst. Und wenn ich meine Hände hätte bewegen können, dann hätte ich meine Worte sogar durch die entsprechenden Gesten ergänzt, so eifrig war ich bemüht, Gabriel von meiner Ernsthaftigkeit zu überzeugen, denn eine Zwangsjacke war in meiner Vorstellung zu eng mit dem Begriff »Irrsinn« verknüpft. Möglicherweise befürchtete ich, neben dem offensichtlichen Problem mit meiner Erinnerung tatsächlich den Verstand zu verlieren, sobald man mich in eine Zwangsjacke stecken würde.

Meine ernsthaften Worte und vermutlich auch mein Gesichtsausdruck mussten überzeugend genug gewesen sein, denn Gabriel nickte schließlich. »Gut, dann will ich Ihnen mal glauben. Sobald ich die Gurte entfernt habe, können Sie diese Kleidungsstücke anziehen. Ich hoffe, sie passen halbwegs. Ich werde draußen im Flur warten, bis Sie sich angezogen haben. Danach bringe ich Sie zu Dr. Jantzen. Er wartet bestimmt schon ungeduldig auf uns.« Nach diesen Worten legte er das Kleiderbündel, das er die ganze Zeit über dem linken Unterarm getragen hatte, direkt neben meinem Kopf auf dem Bett ab und begann dann, nacheinander die Gurte zu lösen.

Kapitel 4

Dr. Jantzen machte überhaupt nicht den Eindruck, als hätte er ungeduldig auf mein Erscheinen gewartet. Ganz im Gegenteil: Er hatte mich weder begrüßt, als Gabriel mich in den Raum geführt hatte, noch hatte er bislang in sonst einer äußerlich erkennbaren Weise meine Gegenwart zur Kenntnis genommen. Er blätterte stattdessen in einem schmalen Hefter, dessen Inhalt seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Man musste kein Albert Einstein sein, um zu erraten, dass es sich bei der Mappe wohl um meine Krankenakte handelte. Sie war zum Glück nicht sehr umfangreich. Dies weckte in mir die berechtigte Hoffnung, dass ich kein Dauergast in dieser oder einer ähnlichen Einrichtung war, sondern nur aufgrund eines unglücklichen Umstands, möglicherweise eines Irrtums – wogegen aber mein von Gabriel erwähntes Toben in den letzten Tagen sprach –, für kurze Zeit hier gelandet war und bald wieder in mein Leben, wie immer dieses auch aussehen mochte, zurückkehren konnte.

Der Arzt und ich saßen uns in einer Art Besprechungszimmer gegenüber, jeder an der Schmalseite eines langen Tisches, der, wäre er auch nur um wenige Meter länger, es wohl erforderlich gemacht hätte, dass wir uns schreiend verständigen oder mit Walkie-Talkies ausgerüstet werden mussten. Allerdings war es weder von seiner noch von meiner Seite bislang zu einem Versuch der Verständigung gekommen. Vielleicht hatte der gute Doktor auch Angst, Schwachsinn könnte ansteckend sein, und versuchte daher, so viel Raum wie nur möglich zwischen sich und seine Patienten zu bringen.

Ich trug mittlerweile nicht mehr den blauen Schlafanzug, in dem ich erwacht war, sondern schlichte weiße Baumwollunterwäsche, eine hellblaue Jeans, ein schwarzes T-Shirt ohne Aufdruck, weiße Socken und ein Paar einfacher, weißer Leinenturnschuhe. Nicht alles davon passte wirklich hundertprozentig, weswegen ich davon ausging, dass es nicht meine eigenen Sachen waren. Was mit meiner Kleidung geschehen war und warum ich fremde Sachen anziehen musste, waren zwei weitere Rätsel, die sich in die lange Liste der Fragen einreihten, auf die ich mir von Dr. Jantzen im Laufe unseres bevorstehenden Gesprächs Antworten erhoffte.

Auch wenn mein erster Eindruck von Dr. Jantzen aufgrund seines distanzierten Verhaltens nicht der allerbeste war, war mir dennoch bewusst, dass mein weiterer Aufenthalt in dieser Einrichtung und die Umstände desselben wohl in erster Linie vom Urteil dieses Mannes abhängen würden. Ich hatte daher nicht vor, ihn schon bei unserer ersten Begegnung allein dadurch gegen mich aufzubringen, indem ich ihn beim Studium meiner Krankenakte störte. Aus diesem Grund übte ich mich vorerst in Geduld und trank gelegentlich von dem Wasser, das Gabriel mir unmittelbar nach unserer Ankunft in einem großen Glas zusammen mit einer Aspirin-Tablette gegen meine Kopfschmerzen gebracht hatte. Ich vermeinte bereits zu spüren, dass der pochende Schmerz in meinem Schädel von Minute zu Minute schwächer wurde, während Dr. Jantzen sich Seite um Seite durch die zum Glück nicht sehr umfangreiche Akte arbeitete und scheinbar jeden einzelnen Abschnitt sehr aufmerksam und teilweise sogar mit gerunzelter Stirn studierte. Immerhin verhalf mir diese Geduldsprobe zu einem weiteren kleinen Mosaiksteinchen in meinem verlorenen Selbstbildnis, indem sie mir zeigte, dass ich, wenn es darauf ankam, geduldig sein konnte.

Anfangs verkürzte ich mir die Wartezeit dadurch, dass ich aus dem Fenster sah, das sich schräg hinter Dr. Jantzen befand. Es war schließlich das erste Fenster, durch das ich seit meinem Erwachen nach draußen sehen konnte, denn weder der winzige Raum, in dem ich zu mir gekommen war, noch die Flure, durch die wir hierhergekommen waren, hatten Fenster gehabt. Allerdings wurde mir schnell langweilig, denn alles, was ich sehen konnte, waren das sattgrüne Laub zahlreicher Bäume und darüber ein Streifen des strahlend blauen Himmels. Wenn mich meine Erinnerung in dieser Hinsicht nicht ebenfalls im Stich ließ, dann musste es Mitte bis Ende Juni sein, an das genaue Datum konnte ich mich aber beim besten Willen nicht erinnern.

Gabriel stand währenddessen wie ein Wachtposten schräg hinter mir und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Als ich mich kurz nach ihm umsah, schien er in Gedanken versunken zu sein. Wahrscheinlich war er die Eigenheiten von Dr. Jantzen gewöhnt und hatte, weil es im Augenblick für ihn nichts zu tun gab, geistig abgeschaltet. Vielleicht spielte er auch gerade im Kopf eine komplizierte Schachpartie gegen sich selbst oder dichtete Haikus. Beides hätte ich ihm durchaus zugetraut.

Um nicht ebenfalls mangels äußerer Anreize geistig auf Sparflamme zu schalten, spulte ich mein Leben im Kopf kurzerhand um ein paar Minuten zurück und ließ gedanklich erneut einen Teil der Eindrücke Revue passieren, die ich gewonnen hatte, als ich an Gabriels Seite durch die Flure dieses Gebäudeteils hierhermarschiert war.

Eigentlich hatte ich mir das Innere einer Irrenanstalt – denn um eine solche handelte es sich aller Voraussicht nach, so viel war mir inzwischen klar geworden – ein wenig anders vorgestellt. Falls ich bereits vor meinem jetzigen Aufenthalt Erfahrungen mit dem Innenleben einer Klapsmühle gemacht hatte, so waren diese zusammen mit den anderen persönlichen Erinnerungen über Bord gegangen und gehörten damit zu den wenigen, die von mir nicht sonderlich vermisst wurden. Mein diesbezügliches Wissen beschränkte sich daher, wie bei den meisten Menschen, eher auf allgemeine Eindrücke, Bilder und Sätze, die aus Filmen, Fernsehberichten, Illustrierten oder Büchern stammen mussten.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, ließ mich Gabriel aus dem Zimmer, in dem ich zu mir gekommen war. Ich hatte insgeheim damit gerechnet, mich in einem düsteren Gang wiederzufinden, in dem sich auf beiden Seiten eine verriegelte Zellentür an die andere reihte. Zellentüren, hinter denen all die Verrückten in winzige Räume eingeschlossen waren wie Gefangene in einem mittelalterlichen Verlies. Die Realität sah natürlich ganz anders aus.

Der Raum, aus dem ich in den hell erleuchteten, in freundlichen Farben gestrichenen Flur trat, wurde Beruhigungsraum genannt und diente dazu, gewalttätige Patienten für eine Weile zu isolieren und ruhig zu stellen, bis sie sich wieder beruhigt hatten. Das erklärte mir Gabriel während unseres kurzen Spaziergangs zu meinem Blind Date mit Dr. Jantzen.

Ansonsten beherbergte diese Abteilung ohnehin nur leichtere Fälle, was mich schon einmal beruhigte, sah ich mich doch selbst keineswegs als Verrückte. Die Türen zu zahlreichen Patientenzimmern, die wie Zimmer in einem Wohnheim eingerichtet waren, und zu den großen Aufenthaltsräumen, in denen die Insassen an mehreren Tischen Brett- oder Kartenspiele spielen, lesen, stricken, sich unterhalten oder abends fernsehen konnten, standen offen, und es herrschte ein reges Kommen und Gehen auf den Fluren. Nur wenige Türen – vor allem Toiletten, Baderäume, Schwesternzimmer, Therapieräume etc. – waren geschlossen.

Auf den Fluren, durch die wir auf unserem Weg kamen, begegneten uns zahlreiche Personen. Andere hielten sich in einem der Aufenthaltsräume oder ihren Zimmern auf und gingen diversen Tätigkeiten nach. Das Personal – Schwestern, Pfleger, Ärzte – konnte man daran erkennen, dass sie in der Regel in Weiß gekleidet waren so wie Gabriel, der vielen grüßend zunickte oder sogar beim Namen nannte.

Die Patienten trugen hingegen überwiegend normale Straßenkleidung, so wie in meinem Fall, einige auch bequeme Jogging- oder Hausanzüge und manche lediglich Morgenmäntel über ihren Schlafanzügen oder Nachthemden, als wären sie gerade erst aufgestanden und auf dem Weg zum Frühstück, obwohl es dafür bereits viel zu spät war.

Letztere machten in der Regel einen zutiefst verwirrten oder sogar komplett weggetretener Eindruck, starrten beispielsweise die weiße Wand oder den Boden zu ihren Füßen an, während sie teilweise unverständliche Laute von sich gaben, oder tanzten zu Melodien, die nur sie hören konnten. Diesem Personenkreis war noch am ehesten anzusehen, dass sie an diesem Ort genau richtig waren und wahrscheinlich nie mehr – schon zu ihrem eigenen Besten – von hier weggehen würden. Bei vielen anderen fiel es mir dagegen schon wesentlich schwerer oder war es sogar schlichtweg unmöglich, sie allein aufgrund ihres äußeren Eindrucks als Irre zu identifizieren. Wäre ich einigen von ihnen in der U-Bahn oder auf der Straße begegnet, hätte ich sie kaum eines zweiten Blickes gewürdigt, so normal wirkten sie auf mich. Trotzdem gab es vermutlich bei allen einen guten Grund, weswegen sie schlussendlich an diesem Ort gelandet waren.

Ich betrachtete all diese Menschen nicht als Leidensgenossen, da ich mich eben nicht wie eine Verrückte, also wie eine von ihnen fühlte. Schließlich litt ich nur unter einer Erinnerungslücke, auch wenn diese Lücke, um ehrlich zu sein, nicht gerade klein, sondern eher so breit wie eine dreispurige Autobahn zu sein schien. Aber nur wegen fehlender Erinnerungen war man doch noch lange nicht verrückt, oder? Na schön, ich sollte seit meiner Einlieferung wie die sprichwörtliche Wahnsinnige getobt und sogar andere gebissen haben, was Menschen, die als normal angesehen werden und alle Tassen im Schrank haben, in der Regel nicht tun. Aber das war vorbei. Seit meinem Erwachen war ich doch wieder vollkommen normal, oder? Zumindest fühlte ich mich, abgesehen von meinen fehlenden Erinnerungen, vergleichsweise normal und hoffte, dass Dr. Jantzen diese geistige Normalität alsbald bestätigen und mir zur Entlassung aus dieser Irrenanstalt zurück in die Freiheit verhelfen würde.

Doch diese Hoffnung war nicht völlig ungetrübt, denn meine fehlenden Erinnerungen hingen nach wie vor bedrohlich wie ein Damoklesschwert über mir. Schließlich wusste ich nicht einmal, wo ich nach meiner Entlassung hingehen sollte. Wo wohnte ich? Welche Personen kannte ich dort draußen? Wo war meine Familie? Wer waren meine Freunde? Ich hatte unzählige Fragen, auf die ich mir durch das Gespräch mit Dr. Jantzen Antworten erhoffte.

Doch bevor ich mir weitere Gedanken über meinen eigenen Geisteszustand im Vergleich zu dem der übrigen Insassen machen konnte, wurde ich abrupt in die Realität zurückgeholt, als Dr. Jantzen seine fesselnde Lektüre beendete und bereit war, sich endlich mit mir zu befassen.

Kapitel 5

»Guten Tag, Frau Dorn«, sprach mich Dr. Jantzen an und riss mich damit aus meinen Überlegungen. Dies erfolgte für mich so unerwartet, dass ich erschrocken zusammenzuckte und ihn erst einmal mit großen Augen anstarrte, als sähe ich ein Gespenst oder ein rosa Kaninchen vor mir und nicht den Arzt einer Heilanstalt. Am liebsten hätte ich mich daraufhin selbst geohrfeigt, denn wenn ich schon einen halbwegs normalen Eindruck und nicht den eines komplett durchgeknallten Menschen vermitteln wollte, dann hatte ich das möglicherweise schon durch meine erste Reaktion vergeigt.

»Guten Tag, Herr … äh, Dr. Jantzen«, beeilte ich mich daher zu erwidern. Ich freute mich, dass ich seinen Namen nicht vergessen hatte, und hoffte, die Scharte wieder ausgewetzt zu haben, indem ich ihn namentlich ansprach. Würde sich eine echte Wahnsinnige überhaupt die Mühe machen, sich den Namen zu merken und den Doktor korrekt anzusprechen? Wohl kaum!

Der Arzt hatte die Akte noch immer aufgeschlagen vor sich liegen und seine Ellbogen rechts und links davon auf die Tischplatte aufgestützt, sodass sich die Spitzen seiner Finger über den Unterlagen trafen und seine Handflächen ein Zelt bildeten. Auf dessen Spitze hatte er seine breite, fleischige Nase gelegt, als wäre sie ihm zu schwer geworden. Seine grünen Augen wurden durch die Gläser seiner rahmenlosen Brille vergrößert und musterten mich abschätzend, sodass ich mir für einen Moment vorkam, als wäre ich ein winziges Pantoffeltierchen und würde durch das Okular eines riesigen Mikroskops betrachtet werden. Dann räusperte sich Dr. Jantzen laut, als würde er sich auf einen längeren Vortrag vorbereiten, und brach damit den Bann. Er löste die Hände voneinander und griff, während er mit der linken durch seinen sandfarbenen, von grauen Strähnen durchzogenen Vollbart strich, mit der rechten Hand nach einem Kugelschreiber, um sich vermutlich während des Gesprächs Notizen zu machen.

»Frau Dorn. Ich bin Dr. Stefan Jantzen, Facharzt sowohl für Neurologie und Psychiatrie als auch für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Gleichzeitig bin ich der Leiter dieser Abteilung des psychiatrischen Privatsanatoriums Dr. Straub.«

Ich war mir sicher, dass Dr. Jantzen diesen kleinen Vortrag über seine Qualifikationen jedem seiner Patienten hielt, dennoch leierte er die Worte nicht einfach herunter, sondern sprach ernst und eindringlich mit mir, als wären die beiden Sätze für mich von existenzieller Bedeutung. Und ich hörte ihm auch ebenso aufmerksam zu, denn in meiner gegenwärtigen Situation war ich für jeden Fetzen an Information dankbar, der mir dabei half, das gefräßige schwarze Loch in meinem Schädel wieder aufzufüllen. Was Dr. Jantzen mir bis jetzt gesagt hatte, waren zwar nur allgemeine Informationen über seine eigene Person, seine Funktion und meinen Aufenthaltsort, doch ich hoffte, dass im Laufe unserer Unterredung auch Informationen über mich folgen würden. Gegebenenfalls musste ich den Arzt gezielt danach fragen, doch ich hatte das Gefühl, dass der richtige Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen war. Also hielt ich mich zurück und übte mich weiterhin in Geduld.

Dr. Jantzen blätterte kurz in der Akte, als würde er nach bestimmten Informationen suchen, und fuhr dann fort: »Sie wurden vor vier Tagen, am frühen Sonntagmorgen um 4:38 Uhr eingeliefert, nachdem man Sie in einem verwirrten und aggressiven Zustand aufgegriffen hatte. Auch nach der Aufnahme durch den diensthabenden Arzt verhielten Sie sich weiterhin äußerst aggressiv und griffen jeden an, der Ihnen zu nahe kam. Aus diesem Grund wurden Sie medikamentös ruhiggestellt und überwacht. Danach erfolgte die ärztliche Aufnahmeuntersuchung. Sie waren körperlich unversehrt, in Ihrem Blut wurde jedoch eine starke Konzentration verschiedener halluzinogen wirkender Substanzen festgestellt. Sie konnten weder Ihren Namen nennen, noch waren Sie in der Lage, auf einfachste Fragen zu antworten. Der diensthabende Arzt schrieb in den Aufnahmebogen, dass Sie sich wie ein wildes Tier gebärdeten. Sie knurrten und schrien unartikuliert, schlugen um sich, kratzten und bissen sogar zu. Ein Pfleger und eine Schwester mussten wegen Bissverletzungen, die Sie ihnen zugefügt haben, sogar ärztlich behandelt werden. In dieser Hinsicht kann ich Sie allerdings beruhigen, denn es handelte sich um keine schwerwiegenden Verletzungen.«

Dr. Jantzen machte eine Pause und sah mich durch die Gläser seiner Brille konzentriert an, als wollte er seine bisherigen, teilweise durchaus schockierenden Äußerungen auf mich einwirken lassen und vor allem meine Reaktion darauf sehen.

Meine Reaktion auf seine Worte war jedoch eher zwiespältig. Einerseits schockierte es mich natürlich, zu hören, dass ich mich wie ein Tier verhalten und zwei Menschen verletzt hatte. All das tat mir leid, und ich beschloss, mich bei den Betroffenen bei nächster Gelegenheit zu entschuldigen. Andererseits hatte ich aber keinerlei eigene Erinnerungen an diese Geschehnisse, sodass für mich eine unmittelbare Verbindung zwischen den geschilderten Ereignissen und mir fehlte. Es fühlte sich aus diesem Grund eher so an, als wäre all dies nicht mir, sondern einer anderen Person widerfahren. Statt Scham empfand ich daher eher ein starkes Gefühl der Depersonalisation.

»Während Ihres viertägigen Aufenthalts im Beruhigungsraum haben wir durch die richtige Dosierung des Beruhigungsmittels dafür gesorgt, dass Sie dreimal pro Tag zu sich kamen«, fuhr der Arzt fort. »Einerseits dienten diese Wachphasen dazu, Sie zu füttern und zur Toilette zu bringen, andererseits wollten wir natürlich überprüfen, ob sich Ihr Zustand verbessert hatte. Leider waren Sie aber bis heute kein einziges Mal ansprechbar. Ihr psychischer Zustand schien sich nach Ihrer Einlieferung nicht zum Besseren zu verändern. Wir waren daher gezwungen – zu Ihrem eigenen Schutz und dem unseres Personals –, Sie immer wieder in einen künstlichen Schlaf zu versetzen, und hofften, dass sich Ihr Zustand beim nächsten Erwachen wesentlich verbessert hatte. Dies war heute endlich der Fall. Nachdem Sie erwacht waren, stellte das Überwachungspersonal, das Sie mithilfe der Kamera im Beruhigungsraum ständig unter Beobachtung hielt, fest, dass Sie zum ersten Mal bewusst auf Ihre Umgebung reagierten. Ich wurde daher umgehend informiert und schickte Gabriel zu Ihnen, um Sie zu mir bringen zu lassen. Der Rest ist Ihnen bekannt.«

»Ja.«

»Wie geht es Ihnen jetzt? Haben Sie noch irgendwelche Beschwerden?«

Für den Moment drängte ich meine eigenen Fragen in den Hintergrund meines Bewusstseins, wo sie sich wahrscheinlich weiterhin fröhlich und ungebremst vermehrten, während ich nicht auf sie achtete, und konzentrierte mich stattdessen zunächst auf das, was der Arzt von mir wissen wollte.

»Ich hatte nach dem Aufwachen einen ausgetrockneten Mund und leichte Kopfschmerzen«, informierte ich ihn, wie ich es bereits Gabriel gegenüber getan hatte. »Gabriel brachte mir freundlicherweise dieses Glas Wasser und eine Kopfschmerztablette. Beides hat geholfen, meine Beschwerden zu lindern. Die Kopfschmerzen sind inzwischen kaum noch zu spüren. Aber …«

»Aber …«, bohrte Dr. Jantzen sofort nach, nachdem ich verstummt war. Wahrscheinlich gehörte es zu seinem Beruf, beim kleinsten Zögern sofort unnachgiebig nachzuhaken und alles ans Licht des Tages zu zerren, was seine Patienten ansonsten nur widerstrebend von sich gaben.

»Ich … kann mich an … an nichts … äh, erinnern«, sprach ich mein größtes Problem schließlich stotternd aus und sah Dr. Jantzen hilflos an, weil mir in diesem Augenblick die richtigen Worte fehlten, um das ganze Ausmaß meines inneren Zustands angemessen zu beschreiben.

Doch anstatt mir mit Worten eine Art akustischer Hilfestellung zu geben, wartete er einfach schweigend ab, was ich noch aus eigenem Antrieb von mir geben würde. Unter Umständen wollte er meine Aussagen nicht beeinflussen oder unbewusst in eine falsche Richtung lenken.

Ich schluckte, versuchte, mir in Gedanken die passenden Worte zurechtzulegen, und fuhr dann, immer noch stockend, fort: »Ich meine, … alles, was mich selbst betrifft, … meine Vergangenheit, mein Leben, ja, sogar mein Name …, das ist alles weg. Wie ausgelöscht, gewissermaßen wegradiert.« Wie zur Verdeutlichung meiner Erklärungen – irgendwie hatte ich wohl das Gefühl, es bedurfte einer solchen, da mir meine eigenen Worte absolut unzulänglich erschienen, um das Ausmaß der Leere in meinem Verstand auch nur annähernd anschaulich zu machen – klopfte ich mir mit den Handflächen mehrmals leicht von beiden Seiten gegen die Schläfen.

Dr. Jantzen nickte verständnisvoll, als könnte er nachempfinden, wie mir im Augenblick zumute war, was ich jedoch stark bezweifelte, und vollführte mit der linken Hand eine besänftigende Geste. »Beruhigen Sie sich bitte, Frau Dorn. Ich kann mir gut vorstellen, wie Sie sich im Moment fühlen, glauben Sie mir. Aber zunächst möchte ich Ihnen einige Fragen stellen, um das genaue Ausmaß Ihres Gedächtnisverlustes festzustellen. Sind Sie damit einverstanden?«

Ich nickte knapp. Im Grunde war ich mit allem einverstanden, wenn es mir dabei half, den Verlust meiner Erinnerungen wieder rückgängig zu machen.

»Gut. Dann lassen Sie uns anfangen.« Dr. Jantzen zog ein unbeschriebenes Blatt Papier aus der Akte und machte den Kugelschreiber schreibbereit, den er schon die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Umfasst Ihre Erinnerungslücke ausnahmslos Aspekte Ihrer persönlichen Lebensgeschichte?«

Ich nickte, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. »Soweit ich das feststellen konnte, ist es so.«

Der Arzt schrieb ein paar selbst aus der Ferne krakelig erscheinende Worte auf das Blatt und stellte währenddessen schon die nächste Frage: »Sie können allgemeine Informationen, die Sie im Verlauf Ihres bisherigen Lebens gesammelt haben, also bei Bedarf problemlos abrufen und nutzen?«

»Ja. Genauso ist es! Ich habe es selbst schon überprüft. Fremdsprachen, mathematische Berechnungen, geschichtliche Personen und Ereignisse, an vieles aus diesen und anderen Bereichen kann ich mich problemlos erinnern. Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, woher ich bestimmte Kenntnisse habe. Ich kann also nicht sagen, was ich beispielsweise in der Schule gelernt habe oder auf andere Weise – aus Büchern oder dem Fernsehen – aufgeschnappt habe.«

Die Spitze der Kugelschreibermine verursachte ein kaum hörbares, schabendes Geräusch, als sie rasch über die Oberfläche des Papiers huschte und ihre wohl nur für Dr. Jantzen lesbaren Schriftzeichen hinterließ.

»Umfasst die Lücke in Ihren Erinnerungen, soweit Sie das zu diesem Zeitpunkt überhaupt beurteilen können, sämtliche autobiografischen Informationen Ihres ganzen bisherigen Lebens, oder beschränkt sie sich nur auf einen bestimmten, eingrenzbaren Zeitraum?«

»Ich denke, dass …« Ich stockte, überlegte kurz, wie ich es formulieren sollte, und setzte dann noch einmal neu an. »Nach meinem Gefühl ist … alles weg.«

»Wie steht es mit Ihrem Kurzzeitgedächtnis? Können Sie sich zum Beispiel lückenlos an alle Ereignisse seit Ihrem Erwachen erinnern?«

»Ja, sicher«, bestätigte ich, insgeheim froh, dass wir uns wieder auf vertrauterem und ungefährlicherem Terrain bewegten. »Damit habe ich überhaupt keine Probleme.«

»Können Sie mir dann sagen, wie ich heiße?«

Ich antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Sie sind Dr. Stefan Jantzen, Facharzt sowohl für Neurologie und Psychiatrie als auch für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Außerdem sind Sie der Leiter dieser Abteilung des psychiatrischen Privatsanatoriums Dr. Straub«, wiederholte ich nahezu wortwörtlich seine eigenen einleitenden Sätze, mit denen er sich vorgestellt hatte. Es handelte sich zwar nur um einen kleinen Test, mit dem der Arzt mein Kurzzeitgedächtnis prüfen wollte, doch ich fühlte mich, als hätte ich soeben eine wichtige Prüfung erfolgreich gemeistert und konnte mir daher auch ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.

Dr. Jantzen erwiderte mein Lächeln sogar für einen kurzen Moment und nickte anerkennend. »Ausgezeichnet, Frau Dorn. Ihr Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht nur tadellos, Sie haben außerdem auch ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen.« Erneut huschte der Kugelschreiber in seiner Hand über das Papier und fügte dem bisher Niedergeschriebenen weitere Einzelheiten hinzu, die am Ende, wenn unterm Strich alles zusammengezählt wurde, zu einer hoffentlich nicht zu niederschmetternden Diagnose über meinen Zustand führen würden.

»Aber an die Zeit vor Ihrem heutigen Erwachen können Sie sich im Grunde überhaupt nicht erinnern?«

Ich dachte diesmal etwas länger nach, bevor ich antwortete. Noch einmal näherte ich mich mit meinen gedanklichen Fühlern dem Flecken umfassender Leere in meinem Verstand, fand dort jedoch weder einen Widerhall auf die Frage des Arztes noch sonst einen Erinnerungsfetzen. Wenn ich bewusst an mein Leben vor dem heutigen Tag dachte und versuchte, mir Bilder oder Ereignisse davon ins Gedächtnis zu rufen, erntete ich lediglich anhaltendes Schweigen und undurchdringliche Finsternis. Also zog ich meine blind umhertastenden Gedankenfühler rasch wieder zurück, als ich erneut den leichten Sog zu spüren glaubte, der mein Bewusstsein mit sich reißen wollte, und schüttelte den Kopf, einerseits aus Resignation, andererseits als Antwort auf die Frage des Doktors. »Ich kann nichts finden! Absolut gar nichts. Es ist fast so, als … als wäre ein bestimmter, abgegrenzter Bereich einer Festplatte gelöscht und neu formatiert worden.«

»Also fehlen auch sämtliche Erinnerungen an die Nacht, in der Sie bei uns eingeliefert wurden?«

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