Kitabı oku: «DAS BUCH ANDRAS I», sayfa 4

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Dr. Jantzen schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das ich so verstand, dass er aufpassen und mir im Notfall beistehen würde. Auch das trug wahrscheinlich zu meiner Beruhigung bei. Außerdem vermeinte ich, Gabriels beruhigende Präsenz schräg hinter mir beinahe körperlich spüren zu können, was mir zusätzlich Kraft schenkte. Und dann ging es auch schon los.

Kapitel 7

»Schönen guten Tag, Frau Dorn«, begrüßte mich Kriminalhauptkommissar Gehrmann, als wäre ich erst in diesem Moment zu ihnen gestoßen, und sah mir dabei zum ersten Mal überhaupt direkt ins Gesicht. Er lächelte jedoch nicht und zeigte mit Ausnahme seiner versöhnlichen Worte auch sonst keine Spur von Freundlichkeit, sondern behielt seinen bisherigen unbeteiligten, fast schon leblosen Gesichtsausdruck bei. Lediglich seine schiefergrauen Augen erwachten in diesem Moment zum Leben und funkelten mich, wie ich meinte, mit einem zornigen, ja geradezu hasserfüllten Aufblitzen an. Doch er wandte zu schnell den Blick wieder ab und richtete ihn stattdessen auf das dicke Aktenbündel, das er aus seiner Aktentasche geholt und vor sich auf die Tischplatte gelegt hatte, als dass ich mir sicher sein konnte, ob ich mir die Wut oder den Hass in seinem Blick nicht nur eingebildet hatte. Warum sollte er mir auch derartige negative Gefühle entgegenbringen? Schließlich kannten wir uns nicht – zumindest nahm ich das an. Außerdem war er nur ein Kriminalbeamter, der beruflich mit meinem Fall zu tun hatte und nicht selbst betroffen war. Andernfalls wäre ihm dieser Fall auch nicht zugeteilt worden. Wobei ich mir natürlich in erster Linie die Frage stellte, warum die Kripo überhaupt Ermittlungen anstellte. Aber das würde ich wohl alsbald erfahren.

Ich ersparte mir eine Erwiderung seines Grußes und wartete stumm ab, dass er fortfahren würde. Eine kleine, wenn auch kindische Solidaritätsgeste gegenüber Dr. Jantzen.

In meinen Augen wirkte der Kommissar beinahe schon zu alt für den aktiven Polizeidienst und stand möglicherweise kurz vor der Pensionierung. Er besaß einen extrem kurz geschnittenen, strahlend weißen Haarkranz, der wie die Tonsur eines Mönchs ein kreisrundes, glänzendes und mit zahlreichen Leberflecken gesprenkeltes Fleckchen Kopfhaut umrahmte. Darüber hinaus hatte er einen schmalen, sehr knochig wirkenden Körperbau und an die Krallen eines Raubvogels erinnernde faltige Hände mit langen, schmalen Fingern. Zu dem insgesamt bereits sehr vogelartigen Eindruck passte seine Nase, die wie der Schnabel eines Geiers hervorstand, sein Gesicht dominierte und ihm zusammen mit den kalt wirkenden grauen Augen das Aussehen eines grimmigen Scharfrichters oder Inquisitors verlieh.

Mein Mut, den ich zum größten Teil der tröstlichen Gegenwart von Gabriel und Dr. Jantzen verdankte, verließ mich bei dieser ungewollten Assoziation dann doch beinahe, und so senkte ich rasch den Blick und richtete ihn auf meine Hände, die ich wieder in meinen Schoß gelegt hatte und nervös aneinanderrieb, als wären sie eiskalt und müssten durch Reibungsenergie aufgewärmt werden. Doch eigentlich war das Gegenteil der Fall. Allmählich wurde es mir unangenehm warm, und ich spürte, dass mir erneut der Schweiß ausbrach. Gern hätte ich in diesem Moment etwas getrunken, doch das Glas vor mir war mittlerweile leer. Ich hätte natürlich Gabriel bitten können, mir noch etwas frisches Wasser zu bringen, doch es war mir lieber, seine beruhigende Gegenwart in meiner unmittelbaren Nähe zu wissen. Ich kannte den Pfleger zwar kaum und das auch erst seit kurzer Zeit, hatte aber schon begonnen, ihm mein Vertrauen zu schenken. Von allen Anwesenden in diesem Raum, so glaubte ich, hatte Gabriel noch am ehesten mein Wohl im Auge. Allerdings würde auch er nichts gegen einen richterlichen Beschluss oder ein anderes amtliches Schriftstück ausrichten können.

»Frau Dorn«, sprach mich der Kriminalbeamte nach einer kurzen Pause erneut an, worauf ich unwillkürlich den Blick hob. Gehrmann sah jedoch weiterhin in seine Akte, als hätte er dort die wesentlichen Stichpunkte seiner Ausführungen skizziert und benötigte diese als Gedächtnisstütze.

Vielleicht will er dadurch, dass er den Blick von mir abgewandt hält, aber auch vermeiden, dass ich in seinen Augen seine wahren Gefühle erkennen kann, durchzuckte mich ein überraschender Gedanke. Schließlich konnte ich schon einmal den Hass in seinen Augen sehen. Aber war ich mir da überhaupt sicher? Rasch verwarf ich diesen absurden Einfall wieder, bevor er in meinem Verstand Wurzeln schlagen und wachsen konnte, so unwahrscheinlich erschien er mir.

»Mir ist natürlich vollauf bewusst«, fuhr Hauptkommissar Gehrmann fort, »dass Sie durch die zurückliegenden Ereignisse vermutlich noch immer unter Schock stehen. Und da Sie, wie man mir mitteilte, erst vor wenigen Stunden wieder zu Bewusstsein kamen, hatten Sie vermutlich auch noch keine Zeit, die Vorfälle gedanklich zu verarbeiten und die Zusammenhänge vollständig zu begreifen. Auch wenn mich Dr. Jantzen für gefühllos und diese Befragung für reine Schikane und eine Gefahr für den Therapieerfolg halten mag, so kann ich Ihnen versichern, dass sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt absolut notwendig ist. Ich versuche zwar, sie so behutsam und schonend wie möglich durchzuführen. Aber angesichts der unabänderlichen Tatsache, dass seit den Morden bereits annähernd fünf Tage verstrichen sind, ohne dass die ermittelnden Behörden in der Lage waren, die einzige bekannte Augenzeugin zu befragen, ist ein weiteres Zuwarten in meinen Augen und im Übrigen auch in denen der zuständigen Staatsanwältin, wie ich hinzufügen möchte, nicht länger zu verantworten.«

Er verstummte und blickte nun doch überrascht von seinen Papieren auf, da er die widersprüchlichen Reaktionen von Dr. Jantzen und mir auf seine Worte natürlich, wenn auch verzögert mitbekommen haben musste.

Dr. Jantzen hatte eine Verwünschung gemurmelt. Die Tatsache, dass der Facharzt für jegliches Psychozeug überhaupt in der Lage war, derartige Flüche auszustoßen, schockierte mich dabei nur unwesentlich weniger als der Umstand, dass es hier allem Anschein nach um eine Mordermittlung ging. Und zwar augenscheinlich nicht nur um einen einzelnen Mord, denn der Kriminalbeamte hatte die Mehrzahl verwendet. Ich hatte daher, während Dr. Jantzens Worte noch in der Luft hingen, überrascht nach Luft geschnappt wie ein Fisch, der sich plötzlich an Land wiederfindet, und die Hand vor den Mund geschlagen, um zu verhindern, dass sich ein Aufschrei des Entsetzens Bahn brach, denn mit einem Mal schienen meine furchtbarsten Schreckensvisionen, die ich kurz zuvor noch als unrealistisch betrachtet hatte, wahr geworden zu sein.

Mit geweiteten Augen, in denen sein Unverständnis deutlich zu lesen war, sah Hauptkommissar Gehrmann erst mich und dann den Arzt an. »Was hat das zu bedeuten, Dr. Jantzen?«

Bevor der Doktor ihm eine Antwort gab, sah er zunächst zu mir und fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich gab ihm durch ein kurzes Nicken zu verstehen, dass es mir gut ging. Erst dann wandte sich Dr. Jantzen an den Polizisten und gab ihm eine Erklärung. »Frau Dorn hat durch die traumatischen Umstände, deren Zeugin sie wurde, eine dissoziative Amnesie erlitten.«

»Amnesie?«, wiederholte der Beamte in fragendem Tonfall den Begriff, der es von allen Fachausdrücken, die Dr. Jantzen benutzt hatte, noch am ehestens geschafft hatte, von Gehrmann verstanden worden zu sein. »Sie meinen, Frau Dorn kann sich an nichts erinnern?«

»Genau so ist es. Frau Dorn ist im Augenblick überhaupt nicht in der Lage, sich an die belastenden Ereignisse oder irgendein anderes autobiografisches Detail ihres Lebens zu erinnern. Der Versuch einer Befragung über Dinge aus ihrer Vergangenheit ist daher absolut unnütz. Das hätte ich Ihnen natürlich auch vorher sagen können, wenn Sie mir Gelegenheit dazu gegeben hätten. So haben wir nur kostbare Zeit vergeudet.«

Ich konnte sehen, dass der Polizist sich bemühte, diese neuen Informationen zu verdauen. »Und Sie können mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, dass Frau Dorn diesen … diesen Gedächtnisverlust nicht nur simuliert?«, fragte er dann den Arzt, als wäre ich überhaupt nicht anwesend.

Ich schnaubte entrüstet angesichts dieses empörenden Vorwurfs, doch der Kriminalbeamte beachtete mich gar nicht. Lediglich Dr. Jantzen warf mir einen kurzen besänftigenden Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Hauptkommissar Gehrmann richtete. »Natürlich kann ich mir über so etwas nicht hundertprozentig sicher sein, schließlich kann ich ebenso wenig wie Sie in Frau Dorns Kopf hineinsehen. Es ist schlichtweg unmöglich, eine dissoziative Amnesie eindeutig von einem simulierten Gedächtnisverlust zu unterscheiden. Dazu liegen bisher weder Untersuchungsmethoden noch Vorgehensweisen vor. Zwar weisen Patienten mit dissoziativer Amnesie im Gegensatz zu Simulanten grundsätzlich eine deutlich höhere Hypnotisierbarkeit auf, allerdings stehen wir erst am Anfang der Heilbehandlung. Wenn Sie allerdings meine persönliche Meinung als behandelnder Facharzt dazu hören wollen, dann kann ich Ihnen sagen, dass ich im Augenblick davon ausgehe, dass Frau Dorn keineswegs simuliert, sondern tatsächlich große Erinnerungslücken hat. Was sie mir dazu geschildert hat, klingt für mich überzeugend genug, um einen Fall von dissoziativer Amnesie zu diagnostizieren und den Verlauf der bevorstehenden Psychotherapie auch auf diese Diagnose abzustimmen.«

Gehrmann wirkte zwar, seinem zweifelnden Blick nach zu urteilen, alles andere als überzeugt, ließ das Thema aber fürs Erste auf sich beruhen. »Sie kann sich also an überhaupt nichts erinnern?«, vergewisserte er sich stattdessen erneut.

Dr. Jantzen beschränkte sich auf ein einmaliges, entschiedenes Nicken als Antwort.

»Und was haben Sie ihr über diese ganze … äh, Angelegenheit erzählt?«

»Im Grunde überhaupt nichts. Ich habe Frau Dorn bisher lediglich ein paar autobiografische Daten genannt, die in ihrer Patientenakte stehen. Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass es verfrüht wäre, sie schon jetzt mit den Ereignissen zu konfrontieren, die die Beeinträchtigung ausgelöst haben. Es besteht nämlich die akute Gefahr einer Retraumatisierung.«

»Aber unter Umständen könnte das Wissen über das, was vorgefallen ist, in Frau Dorns Gedächtnis auch eine Wiedergewinnung der verschütteten Erinnerungen auslösen. Können Sie das bestätigen, Dr. Jantzen?«

Dr. Jantzen nickte zögerlich. Auch wenn er diese Information nur widerwillig an den Polizeibeamten weitergab, so war er doch nicht in der Lage oder willens, diesen zu belügen.

Der Polizist dachte nach. Ich war mir aufgrund des Bildes, das ich mir auf der Grundlage seines bisher gezeigten Verhaltens über seinen Charakter erstellt hatte, ziemlich sicher, dass die von Dr. Jantzen angesprochene Gefahr einer Retraumatisierung in Gehrmanns Überlegungen nur eine untergeordnete Rolle spielte, sofern er sie überhaupt in seine Gedankenspiele einbezog. Er würde eine derartige Gefährdung billigend in Kauf nehmen, wenn er dafür im Gegenzug neue Informationen in Erfahrung bringen konnte, die ihm bei seinen Ermittlungen halfen.

Womit der Kriminalbeamte und ich – wenn auch nur in diesem speziellen Punkt – übrigens einer Meinung waren. Auch ich war bereit, die theoretisch bestehende Gefahr, erneut traumatisiert zu werden, auf mich zu nehmen, wenn nur so die Möglichkeit bestand, das klaffende Loch in meinem Gedächtnis zu stopfen. Denn eigentlich konnte mein Zustand meiner Ansicht nach nur unwesentlich schlimmer werden als im Moment.

Also fasste ich, ohne länger darüber nachzugrübeln, meinen Wunsch in Worte und richtete diese direkt an Gehrmann. »Warum erzählen Sie mir nicht, was in der Nacht meiner Einlieferung geschehen ist, Herr Kriminalhauptkommissar. Was hat dazu geführt, dass ich sämtliche Erinnerungen an meine Vergangenheit verloren habe? Sie sprachen vorhin von Morden. Wer wurde ermordet? Und was habe ich damit zu tun?«

Sowohl der Polizist als auch der Arzt fuhren zu mir herum, als ich mich so überraschend und zum ersten Mal, seitdem der Kriminalbeamte auf der Bildfläche erschienen war, zu Wort meldete. Beide sahen mich mit großen Augen an und begannen dann, als sie ihre Überraschung überwunden hatten, gleichzeitig zu sprechen.

»Ich rate Ihnen, das nicht zu tun, Frau Dorn«, sagte Dr. Jantzen.

»Wir können uns unter Umständen gegenseitig helfen«, bot mir hingegen Hauptkommissar Gehrmann an.

Der Vergleich, der sich mir in diesem Augenblick förmlich aufdrängte, hätte mich trotz des Ernstes der Lage beinahe zum Lachen gebracht, denn die beiden Männer gebärdeten sich wie Engel und Teufel, die mich in ihrem jeweiligen Sinne zu beeinflussen versuchten. Der Doktor personifizierte in diesem Fall den himmlischen Boten, der mich davon abhalten wollte, eine – zumindest in seinen Augen – Dummheit zu begehen. Und der Polizist stellte Beelzebub dar, der mich im Gegensatz dazu zu irgendwelchen Untaten verführen wollte. Für einen kurzen Augenblick war ich hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Polen, gewissermaßen zwischen Gut und Böse, doch schlussendlich siegte die Wissbegier über die Vorsicht. Wenn ich nichts wagte und mich aus Angst in einem Schneckenhaus der Unwissenheit verkroch, dann konnte ich auch schwerlich neue Erkenntnisse gewinnen und auf eine erfolgreiche und gegebenenfalls rasche Wiederherstellung meiner Erinnerungen hoffen.

Ich schenkte daher zunächst Dr. Jantzen ein um Verzeihung bittendes, etwas schief geratenes Lächeln, in dem darüber hinaus mein schlechtes Gewissen zu lesen sein musste. »Tut mir leid, Dr. Jantzen, aber ich muss das Risiko eingehen.«

Der Arzt zuckte die Schultern. »Es ist Ihre Entscheidung, Frau Dorn. Ich hoffe nur, dass Sie sie nicht bereuen.« Und wie um mir zu verdeutlichen, dass er es mir nicht übel nahm, zeigte er die Andeutung eines schmallippigen Lächelns und fügte hinzu: »Vielleicht hilft es Ihnen ja tatsächlich dabei, Ihre Erinnerungen wiederzuerlangen.«

Ich nickte dankbar und wandte mich dann an den Polizisten. »Also, Herr Kriminalhauptkommissar. Erzählen Sie mir bitte, was ich noch nicht weiß! Und das ist eine ganze Menge, das kann ich Ihnen versichern.«

Ein knappes Nicken seinerseits, und damit war die Abmachung zwischen uns besiegelt. Er würde mir alles sagen, was die Polizei über die Ereignisse jener Nacht wusste, in der ich hier in einem hochgradig verwirrten Zustand eingeliefert worden war. Und im Gegenzug würde ich ihm alles erzählen, woran ich mich erinnerte, vorausgesetzt natürlich, sein Bericht wirkte tatsächlich wie ein Trigger auf mein Gedächtnis und löste die Freisetzung weiterer, eigener Erinnerungen an diese Geschehnisse aus. Denn irgendwo mussten meine fehlenden Erinnerungen ja stecken. Sie konnten schließlich nicht vollkommen spurlos aus meinem Verstand gelöscht worden sein wie die Daten auf einer Diskette, auch wenn das saugende schwarze Loch, das ihre Stelle eingenommen hatte, etwas Derartiges vermuten ließ. In diesem Moment fiel mir ein, dass das englische Wort Trigger auf Deutsch auch Abzugshahn bedeutete. Hoffentlich war das kein böses Omen, und die nächsten Worte des Kriminalbeamten wirkten auf mein Bewusstsein nicht wie der Abzug einer Schusswaffe und richteten nicht ebenso verheerende Schäden an wie eine Pistolenkugel, die mir aus nächster Nähe in den Kopf geschossen wurde.

Hauptkommissar Gehrmann hatte seine eisgrauen Augen wieder auf den Inhalt seines Aktenordners gerichtet. Scheinbar war er noch immer nicht in der Lage, mir über einen längeren Zeitraum hinweg in die Augen zu sehen, denn er las nicht etwa aus der Akte, sondern erzählte mit eigenen Worten, was er mir über die Ereignisse jener verhängnisvollen Nacht mitteilen konnte.

Kapitel 8

»In den frühen Morgenstunden des 14. Juni, am letzten Sonntag also, um ca. 0:45 Uhr«, begann der Polizeibeamte in nüchternen Worten zu erzählen, »gingen bei der Polizeiinspektion 42 in Neuhausen, zuständig für den Stadtbezirk 9 ›Neuhausen-Nymphenburg‹, mehrere Notrufe aus dem benachbarten Stadtteil Nymphenburg ein. Es handelte sich um mehrere Anwohner eines exklusiven Villenviertels in Gern, die meldeten, dass aus einem der Häuser in ihrer Nachbarschaft schreckliche Schreie und lautes Gebrüll zu hören seien. Als nur wenige Minuten später zwei alarmierte Funkstreifenbesatzungen nahezu gleichzeitig am Einsatzort eintrafen, herrschte dort allerdings wieder nächtliche Ruhe. Das Haus, aus dem der Lärm gekommen sein sollte, wirkte verlassen. Einige Nachbarn gaben jedoch später zu Protokoll, dass unmittelbar vor dem Eintreffen der Einsatzkräfte mehrere Personen fluchtartig das Haus verlassen hätten und in dunklen Fahrzeugen, die vor dem Haus geparkt gewesen waren, mit überhöhter Geschwindigkeit davongefahren seien. An die Fahrzeugmarken oder Kennzeichen konnte sich aber leider niemand erinnern.

Da die Villa unverschlossen vorgefunden wurde und die Haustür weit offen stand, betraten die uniformierten Kollegen das Haus, um nach den Bewohnern, einem Ehepaar namens Dorn, zu sehen. Sie durchsuchten das ganze, nicht gerade kleine Gebäude vom Dach- bis zum Untergeschoss, konnten aber zunächst niemanden finden. Erst im Keller wurden sie schließlich fündig. In einem Raum, der aufgrund der vorgefundenen Situation und Ausstattung allem Anschein nach zur Durchführung eines Rituals, unter Umständen einer sogenannten schwarzen Messe, genutzt worden war, lagen zwei Leichname. Bei den Toten handelte es sich, wie sich später herausstellte, um die Bewohner des Hauses, Martin und Elvira Dorn. Sie trugen schwarze Gewänder, die an die Kutten von Mönchen erinnerten, was darauf schließen lässt, dass sie ebenfalls an dem Ritual in ihrem Haus teilgenommen hatten, und waren durch zahlreiche, äußerst brutale Messerstiche getötet worden.

Auf einem schwarzen Altarstein im Zentrum des Raumes wurde darüber hinaus eine erhebliche Menge Blut gefunden, das sich jedoch keinem der beiden Leichname zuordnen ließ. Da Sie selbst, Frau Dorn, körperlich unversehrt waren, kann es sich somit nur um das Blut einer vierten, bislang noch unbekannten Person handeln. Wir gehen daher davon aus, dass es von Ihrem Bruder Andras Dorn stammt, dessen Kleidung und Ausweispapiere in der Nähe des Tatorts gefunden wurden. Ein Vergleich mit einer Probe Ihres Blutes sowie ein DNA-Test, um diesen Punkt endgültig abzuklären, stehen noch aus und werden demnächst durchgeführt, sofern Sie Ihr Einverständnis zu einer Blutentnahme und einer Speichelprobe erklären.

Nachdem die Streifenbeamten vor Ort die Leichen gefunden hatten, informierten sie unverzüglich den Kriminaldauerdienst. Das ist der Bereitschaftsdienst der Kriminalpolizei, der als Bindeglied zwischen den Streifenbesatzungen vor Ort und den Fachkommissariaten dient. Da im Keller des Hauses Kleidung und Ausweise von Ihnen und Ihrem Bruder gefunden wurden, wurde sofort die nähere Umgebung der Villa abgesucht. Diese Maßnahme blieb aber vorerst ohne Erfolg.

Erst mehr als drei Stunden nach Eingang des Notrufs wurden Sie von einer Streife auf dem Westfriedhof aufgegriffen, nachdem ein vorbeikommender Autofahrer die Polizei benachrichtigt und hysterisch gemeldet hatte, der Geist einer nackten, blutüberströmten Frau würde zwischen den Gräbern des Friedhofs herumspuken. Wie sich herausstellte, waren Sie tatsächlich nackt und mit Blut bespritzt. Es handelte sich jedoch nicht um Ihr eigenes Blut, da Sie, wie bereits erwähnt, zumindest körperlich unversehrt waren, sondern war mit dem Blut auf dem Altarstein identisch. In Ihrer linken Hand hielten Sie zudem eine Art Ritualdolch mit schwarzem Griff und blutverschmierter Klinge.

Sie ließen sich von den Beamten widerstandslos das Messer abnehmen, eine Decke überstreifen und in den Streifenwagen bringen. Nachdem durch den zuständigen Ermittlungsrichter rasch entschieden wurde, dass Sie aufgrund Ihres bedenklichen psychischen Zustands in das Privatsanatorium Dr. Straub gebracht werden sollten, fuhren die Kollegen mit Ihnen an diesen Ort. Erst nach Ihrer Einlieferung begannen Sie damit, zu toben und ein höchst aggressives Verhalten an den Tag zu legen. Daraufhin wurden Sie mit Beruhigungsmitteln behandelt und waren während der letzten Tage leider nicht ansprechbar, was jegliche Möglichkeit einer Befragung ausschloss.

Das sind im Wesentlichen die Fakten, die in den Ermittlungsakten enthalten sind und die ich Ihnen daher nennen kann.«

Nachdem der Kriminalbeamte seinen Bericht abgeschlossen hatte, herrschte für mehrere Sekunden nahezu atemlose Stille im Raum. Alles, was ich hören konnte, waren mein eigener Herzschlag und das Rauschen des Blutes in meinen Adern.

Dr. Jantzen hatte mich die ganze Zeit über sehr aufmerksam beobachtet und sich gelegentlich Notizen gemacht. Der Hauptkommissar hatte hingegen nahezu ständig nach unten auf die Ermittlungsakte gestarrt und mir nur ab und zu einen kurzen Blick zugeworfen, als hätte er zwischendurch immer wieder überprüfen wollen, ob ich auf seine Worte in irgendeiner äußerlich erkennbaren Form reagierte.

Meine Reaktion auf die Schilderung des Polizisten enttäuschte mich selbst jedoch am allermeisten, denn es gab keine.

Im Grunde war ich auf nahezu alles, was meiner Ansicht nach geschehen konnte, gefasst gewesen. Dass möglicherweise eine Flut meiner wiedergewonnenen Erinnerungen mein Bewusstsein unter sich begraben würde. Dass nur einzelne, selektive Erinnerungen an die Geschehnisse dieser Nacht, ausgelöst durch die Worte des Kriminalbeamten, an der Oberfläche meines Verstandes auftauchen würden wie Gasblasen in einem Sumpf. Oder auch, dass das schwarze Loch in meinem Gedächtnis einfach verschwinden würde, als hätte es nie existiert, und all meine verlorenen Erinnerungen an seiner Stelle wieder auftauchen würden, jetzt und zukünftig jederzeit problemlos von mir abrufbar.

Für all diese erhofften Alternativen und sogar noch einige mehr, die ich mir gar nicht so genau ausgemalt hatte, war ich innerlich gewappnet gewesen. Mein ganzer Körper hatte sich zu Beginn des Berichts verkrampft, sodass es wehgetan hatte, und sämtliche Muskeln hatten sich vor Anspannung gestrafft, bis sogar die Hände in meinem Schoß nahezu unlösbar ineinander verkrallt gewesen waren. Doch allmählich, mit jedem weiteren Satz des Hauptkommissars, hatte ich mich wieder entspannt. Und die Verkrampfung war allmählich aus meiner Muskulatur gewichen, als jegliche psychische Reaktion auf seine Worte ausgeblieben und mir immer bewusster geworden war, dass auch keine solche erfolgen würde. Stattdessen hatte sich nach und nach in meinem Innern eine entsetzliche Leere ausgebreitet, verursacht durch die maßlose Enttäuschung über diesen erneuten Misserfolg.

Das lag nicht nur daran, dass die Worte des Kriminalbeamten keine eigenen Erinnerungen in meinem Bewusstsein zutage gefördert hatten, wie ich insgeheim natürlich gehofft hatte, sondern auch daran, dass sie mich nicht einmal sonderlich berührt hatten. Es kam mir die ganze Zeit eher so vor, als würde der Polizist über das Leben mir vollkommen fremder Menschen sprechen, gewissermaßen eine Märchenerzählung mit fiktionalen Charakteren. Weder die Erwähnung der Leichen meiner Eltern noch die Tatsache, dass mein Bruder ebenfalls viel Blut am Tatort verloren haben musste, schienen mir viel zu bedeuten oder auch nur nahezugehen. Ich kam mir deshalb vor wie ein Monster oder Psychopath, der überhaupt nicht in der Lage ist, Gefühle für die Menschen um ihn herum zu entwickeln, selbst wenn es seine eigenen Angehörigen waren. Doch das, versuchte ich mich zu trösten, konnte auch daran liegen, dass ich keinerlei eigene Erinnerungen an diese Menschen hatte. Die spärlichen Informationen, die ich über sie besaß, stammten nicht aus meinem Innern, sondern allesamt aus dem Munde Dritter. Es war daher auch nur logisch, dass ohne jeglichen inneren Bezug keine emotionale Bindung zu ihnen entstehen konnte, die in mir Trauer, Wut, Entsetzen oder ähnliche tiefgehende Gefühle über ihre Schicksale auslösen konnten.

Meine grenzenlose Enttäuschung musste auch auf meinem Gesicht deutlich abzulesen sein, denn Dr. Jantzen sagte: »Es tut mir wirklich leid, dass es nicht die von Ihnen erhoffte Wirkung hatte, Frau Dorn.«

Ich blickte ihn an, um zu sehen, ob er insgeheim vielleicht sogar erleichtert über diesen Misserfolg oder ebenfalls enttäuscht war, doch seiner Miene war nicht das Geringste über seine wahren Gefühle abzulesen. Allenfalls eine Spur von Anteilnahme konnte ich darin sehen.

»Wenn meine Worte nicht ausgereicht haben«, meldete sich in diesem Moment Hauptkommissar Gehrmann zu Wort, »dann können Sie sich gerne ein paar Lichtbilder ansehen, Frau Dorn. Vielleicht hilft es Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge, wenn Sie den Tatort mit eigenen Augen sehen.«

Für einen Augenblick stockte mir der Atem bei dieser unerwarteten Entwicklung. Ich schöpfte sogleich neuen Mut und stieß die angehaltene Luft aus. »Sie haben Fotos dabei?«

Der Kriminalbeamte nickte, ohne mich anzusehen, und blätterte in seiner Akte bis zum Ende. »Es gibt auch eine Videoaufnahme vom Tatort, aber die habe ich natürlich nicht bei mir.« Er nahm einen braunen Umschlag mit dem Aufdruck Lichtbilder aus dem Hefter, öffnete die Klappe und schüttelte einen schmalen Stapel Fotografien heraus.

Als sich Gehrmann von seinem Stuhl erheben wollte, um mir die Fotos zu bringen, sie mir eventuell sogar einzeln vorzulegen und jedes auch noch zu kommentieren, kam ihm Dr. Jantzen zuvor. Er nahm dem Polizisten den Stapel ab und kam damit zu mir. Der Beamte zuckte mit den Schultern und beobachtete dann aufmerksam den Arzt, als dieser sich auf einen Stuhl in meiner unmittelbaren Nähe setzte.

Dr. Jantzen schien seinen Widerstand gegen eine Konfrontation mit dem Tatort und damit auch mit den das Trauma auslösenden Ereignissen komplett aufgegeben zu haben und sich zwischenzeitlich sogar mir einem weiteren Versuch angefreundet zu haben, meine Erinnerungen mithilfe der Lichtbilder aufzufrischen. Vielleicht hatten ihm die bisherigen Misserfolge aber auch deutlich gemacht, dass die Gefahr einer Retraumatisierung nicht so groß war, wie er anfangs befürchtet hatte.

Bevor Dr. Jantzen die Fotografien Stück für Stück an mich weiterreichte, sah er sich selbst jede einzelne Aufnahme an. Bereits beim ersten Foto verzog er angeekelt das Gesicht, was mir einen Eindruck davon vermittelte, was mir bevorstand, bevor ich die Fotografie überhaupt in Händen hielt. Nachdem er mir allerdings das erste Bild übergeben hatte, achtete ich nicht weiter auf seine Reaktionen, da ich ab diesem Zeitpunkt viel zu sehr mit meinen eigenen Gefühlen und Gedanken beim Anblick der Aufnahmen beschäftigt war.

Kapitel 9

Das erste Lichtbild war ein Überblick über die vorgefundene Gesamtsituation am Tatort, denn es zeigte einen Raum – höchstwahrscheinlich den Kellerraum, von dem Hauptkommissar Gehrmann gesprochen hatte – in der Totale. Sämtliche sichtbaren Wände waren von schwarzen Laken oder Vorhängen verhüllt, was der ganzen Szenerie einen düsteren Eindruck verlieh. Auf den blanken Steinboden waren Linien aus schwarzer Farbe gezeichnet worden, die – darin war ich mir sicher, obwohl der Bildausschnitt nicht jedes Detail wiedergab – einen fünfzackigen Stern darstellten. In die Zacken waren unentzifferbare Zeichen und Symbole gemalt worden, und ein großer, gleichmäßiger Kreis, ebenfalls aus schwarzer Farbe, verband die Sternspitzen miteinander. An den vier Spitzen, die auf dem Bildausschnitt sichtbar waren, konnte ich schwarze Kerzen erkennen, zwei davon waren umgekippt und lagen am Boden. Genau in der Mitte des Pentagramms, also im inneren Fünfeck, stand ein massiver, tiefschwarzer Steinblock, der mir – auch wenn ich nicht unmittelbar, sondern nur anhand einer Fotografie mit ihm konfrontiert wurde – allein durch das Betrachten unwillkürlich Unbehagen bereitete. Ich konnte nicht sagen, aus welchem Material er bestand, doch das Gestein reflektierte den Schein des Blitzlichtes nicht, das der Fotograf benutzt haben musste, sondern schien es im Gegenteil zu absorbieren und an seiner Stelle Finsternis zurückzustrahlen.

Nur mühsam gelang es mir, meinen Blick von dem unheilvoll wirkenden Altarblock zu lösen, als ich das vollkommen verrückte Gefühl hatte, der schwarze Felsblock könnte mich ebenso in sich saugen und verschlingen wie das Licht. Stattdessen konzentrierte ich mich auf andere Details, die mir zunächst entgangen waren, weil der Altar meine Aufmerksamkeit gefangen genommen hatte, und mied mit den Augen das düstere Zentrum des Bildes.

Mit weißer Farbe waren Linien auf den Boden gesprüht worden, die teilweise über den schwarzen Strichen, aus denen der Drudenfuß und die Symbole bestanden, verliefen und einen auffallenden Kontrast zu diesen bildeten. Sie formten die Umrisse von zwei am Boden liegenden Personen nach, die Arme und Beine teilweise in so unnatürlicher Art und Weise abgewinkelt, wie es grundsätzlich nur den Toten möglich war. Die Leichen selbst mussten bereits vor der Aufnahme weggebracht worden sein, aber natürlich wusste ich aufgrund der Schilderung Gehrmanns, dass es sich dabei um Martin und Elvira Dorn, meine Eltern, gehandelt hatte. Doch auch in diesem Moment, als ich den Tatort vor Augen hatte, löste dieses Wissen noch immer keine Gefühle in mir aus. Große dunkle Flecken hatten sich innerhalb der menschlichen Umrisse auf dem Beton ausgebreitet. Lachen getrockneten Blutes, das auf der Aufnahme fast pechschwarz aussah. Mehrere kleine, aufrecht stehende gelbe Schilder aus Pappe oder dünnem Kunststoff, auf die schwarze Zahlen gedruckt waren, wiesen auf weitere gefundene Beweise oder Auffälligkeiten am Tatort hin. Eines der Schilder, bezeichnenderweise mit der Zahl 13, stand auf dem düsteren Altarblock. Ich wusste aber nicht, ob damit der Altar selbst, der auch ohne Markierung nur schwerlich zu übersehen war, das Blut, das man dort gefunden hatte und das wohl von meinem Bruder Andras stammte, oder ein anderes Beweisstück markiert worden war.

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