Kitabı oku: «DAS BUCH ANDRAS I», sayfa 3

Yazı tipi:

Der Tonfall des Arztes hatte sich bei dieser Frage zwar nur unmerklich verändert, doch ich registrierte es wie ein hochempfindliches Thermometer, das sogar die kleinste Temperaturschwankung wahrnehmen kann. Diese Veränderung in der Tonlage teilte mir unterschwellig mit, dass Dr. Jantzen die Antwort auf diese Frage besonders wichtig zu sein schien, und zwar, wie ich meinte, nicht allein unter therapeutischen Gesichtspunkten, sondern auch aus einem anderen, mir im Augenblick allerdings noch unbekannten Grund. Dieses Mal musste ich nicht erst nachdenken, sondern wusste die Antwort darauf sofort: »Ich kann mich an absolut gar nichts erinnern, was in jener Nacht und davor passiert ist. Aber vielleicht können Sie mir mehr darüber sagen. Möglicherweise enthält meine Krankenakte nähere Informationen darüber.«

Ich glaubte fast zu sehen, wie Dr. Jantzen vor mir zurückwich. Zumindest gedanklich, denn körperlich bewegte er sich keinen einzigen Millimeter. Es war, als würde plötzlich eine dunkle Wolke über ihm schweben und einen Schatten auf sein Gesicht werfen. Aus irgendeinem Grund verschloss er sich meinem Versuch, von ihm Informationen über die Geschehnisse unmittelbar vor meiner Einlieferung in diese Anstalt zu erhalten, und ließ gewissermaßen die geistigen Jalousien herunter.

»Aus therapeutischen Gesichtspunkten ist es weder förderlich noch vollkommen ungefährlich, diese Thematik bereits in einem so frühen Stadium zu besprechen. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt darüber reden«, sagte der Arzt bestimmt und studierte – wie um jede weitere Diskussion über dieses anscheinend heikle Thema zu unterbinden – demonstrativ seine Gesprächsnotizen.

Mir wurde klar, dass Dr. Jantzen damit die Befragung abgeschlossen und vorerst alle wesentlichen Informationen für eine erste Diagnose gesammelt hatte. Ich ließ es daher vorerst bleiben, weiter auf dem Thema herumzureiten, das der Arzt partout nicht mit mir besprechen wollte. Stattdessen schwieg ich und wartete gespannt auf sein fachärztliches Urteil. Dabei interessierten mich weniger die medizinischen Details seiner Ausführungen, sondern vor allem die entscheidende Frage, ob und wie die Erinnerungslücke geschlossen oder die fehlenden Erinnerungen wiederhergestellt werden konnten.

Was immer Dr. Jantzen mir gleich mitteilen würde, würde den Verlauf meines gesamten weiteren Lebens bestimmen. Ich spürte, wie meine innere Anspannung kontinuierlich zunahm. Meine Kehle fühlte sich wieder staubtrocken und kratzig an. Rasch trank ich einen großen Schluck Wasser. Meine Hand zitterte dabei stark, sodass ich, nachdem ich das Glas wieder auf den Tisch gestellt hatte, schnell die Hände in meinem Schoß verbarg und ineinander verschränkte, um sie halbwegs ruhig zu halten.

Schließlich, als ich das Warten kaum noch ertragen konnte, weil meine Aufregung fast zu groß geworden war, um sie weiterhin unter Kontrolle zu halten, legte Dr. Jantzen seine Notizen zur Seite. Er sah mich mit ernstem Blick an und begann mit gerunzelter Stirn zu sprechen: »Frau Dorn, als vorläufige, erste Beurteilung kann ich Ihnen zum augenblicklichen Zeitpunkt Folgendes mitteilen: Bei dem von Ihnen geschilderten vorherrschenden Störungsbild handelt es sich meiner Meinung nach um eine dissoziative Amnesie. Das ist eine plötzlich auftretende Unfähigkeit, sich an Aspekte seiner persönlichen Lebensgeschichte zu erinnern, wobei dieses Unvermögen in Ihrem Fall Ihr gesamtes bisheriges Leben zu umfassen scheint. Die sogenannte dissoziative Amnesie geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz, also beispielsweise eine Droge oder ein Medikament, oder eines neurologischen oder anderen medizinischen Krankheitsfaktors, zum Beispiel aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas, zurück, sondern wird meist durch ein zurückliegendes traumatisches oder besonders belastendes Erlebnis ausgelöst. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von psychogener Amnesie, also eine Art von Verdrängung. Bei Ihrer Einlieferung wurden zwar große Mengen einer ganzen Reihe halluzinogener Substanzen in Ihrem Blut festgestellt, meiner Meinung nach wurde der Gedächtnisverlust allerdings nicht durch eine Substanzintoxikation, also einen sogenannten Blackout, hervorgerufen. Gegen diese Ursache spricht nämlich eindeutig, dass Ihr Kurzzeitgedächtnis nicht gleichermaßen gestört ist.«

»Ist diese … dissoziative Amnesie heilbar?«

»Eine dissoziative Amnesie ist für gewöhnlich reversibel. Da die Gedächtnisstörung in Ihrem Fall nicht auf eine organische Ursache, also eine tatsächliche Verletzung des Gehirns, zurückzuführen ist, besteht somit eine sehr große Chance auf eine komplette Wiederentdeckung oder Wiederherstellung der betroffenen Erinnerungen. Die Gedächtnisstörung kann dabei durchaus kurzlebig sein und spontan abklingen, insbesondere können die Erinnerungen in Situationen, die eine starke Ähnlichkeit mit den unterdrückten Erlebnissen haben, plötzlich wieder auftauchen, oft auch nur bruchstückhaft, was nicht selten zu Verwirrung und enormen Ängsten führt. Normalerweise ist eine dissoziative Amnesie aber – vor allem in einem schwerwiegenden Fall wie Ihrem – langwierig und erfordert eine mehrjährige intensive Therapie.«

»Und wie sieht diese Therapie aus?«

»Ohne schon jetzt allzu sehr ins Detail zu gehen, kann ich Ihnen zumindest die vorrangigen Ziele der stationären Psychotherapie nennen. Sie gliedert sich in einzelne Phasen aus Einzel- und Gruppentherapie. Die primären Ziele der Behandlung bestehen im Wesentlichen darin, dem dissoziativen Menschen beizubringen, mit der Belastung umzugehen, und die tieferliegenden Ursachen der Amnesie zu behandeln. Diese Ziele werden gleichzeitig behandelt. Oft wird dabei auch Hypnose benutzt, um bei der Erinnerung zu helfen und das durchlebte Trauma zu überwinden. Patienten mit dissoziativer Amnesie zeigen häufig eine hohe Hypnotisierbarkeit.«

»Sie sprachen von einem traumatischen Erlebnis als Auslöser«, kam ich zu einem wesentlichen Punkt seiner Ausführungen zurück, der mich besonders interessierte. »Was genau meinen Sie damit? Und welcher Auslöser ist für meine Amnesie verantwortlich?«

»Auch darüber werden wir im Rahmen der Therapie zu gegebener Zeit sprechen, Frau Dorn«, beschied er mich und bestätigte damit meine Vermutung, dass das traumatische Erlebnis und die Ereignisse der Nacht, in der ich eingeliefert worden war, eng zusammenhängen mussten.

»Muss ich neben dem Verlust meiner Erinnerungen unter Umständen noch mit anderen Folgen dieses Traumas rechnen?«, verlieh ich einer Befürchtung Ausdruck, die durch Dr. Jantzens Erläuterungen meines Zustandes plötzlich in mir Gestalt angenommen hatte. Gleichzeitig fragte ich mich aber auch, warum der Arzt das in meinen Augen wichtige Thema des Traumas so beharrlich ausklammerte. Denn gerade wenn ein wichtiges Ziel der Therapie die Behandlung der Ursache der Amnesie war, konnte es in meinen Augen doch nicht schaden, diesen Punkt so früh wie möglich zu erörtern. Warum bis zum offiziellen Beginn der Psychotherapie damit warten? Andererseits mochte der Arzt nachvollziehbare Gründe für sein Verhalten haben. Vielleicht war die Ursache für meinen Erinnerungsverlust so furchtbar, dass er mich behutsam darauf vorbereiten wollte. Bei diesem erschreckenden Gedanken, der mir plötzlich gekommen war, krampfte sich unwillkürlich mein Herz zusammen und schien sogar ein oder zwei Schläge auszusetzen. Mehrere Schreckensszenarien nahmen in meinem Kopf Gestalt an und quälten mich. Vielleicht, so dachte ich, war ich Mutter eines kleinen Kindes und hatte dieses durch eine schreckliche Gewalttat verloren? Oder war ich etwa die einzige Überlebende eines katastrophalen Unglücks, das Hunderte das Leben gekostet hatte?

Zum Glück vertrieb Dr. Jantzens beruhigende Stimme die Schreckensbilder aus meinem Bewusstsein, die sich auflösten wie Morgennebel unter den Strahlen der Sonne. Allerdings hatte ich in meiner Gedankenverlorenheit den Inhalt seiner Antwort nicht mitbekommen.

»Entschuldigen Sie, aber was sagten Sie?«

»Ich sprach gerade über weitere mögliche Symptome einer psychischen Traumatisierung. Aber Sie schienen mit Ihren Gedanken ganz woanders gewesen zu sein. Alles in Ordnung?«

»Ja, sicher. Mir geht es gut.«

Der Arzt schwieg und sah mich erwartungsvoll an, um mir Gelegenheit zu geben, ihm eine Erklärung für mein Verhalten zu liefern. Doch ich erzählte ihm vorerst noch nichts von den furchtbaren Schreckensvisionen, die meine lebhafte Fantasie aufgrund der Ungewissheit über das traumatische Erlebnis in mir hervorgerufen hatte. Wenn er Geheimnisse vor mir hatte, dann war es nur recht und billig, dass ich ebenfalls das eine oder andere für mich behielt.

»Könnten Sie die möglichen Symptome einer psychischen Traumatisierung, von denen Sie zuvor sprachen, bitte noch einmal wiederholen«, bat ich ihn schließlich, als er keine Anstalten machte, dies von sich aus zu tun.

Dr. Jantzen nickte zwar, aber eher widerwillig. Ich konnte ihm deutlich ansehen, dass er lieber erfahren hätte, was zuvor in meinem Kopf vorgegangen war und mich so beschäftigt hatte, dass ich den Inhalt seiner Worte nicht verstanden hatte. Schließlich war es ein wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit, den Patienten durch therapeutische Gespräche gewissermaßen in die Köpfe zu blicken und dort das Unterste zuoberst zu wenden.

»Eine psychische Traumatisierung kann zu Gefühlen von Leid und Angst, aber auch zu schwerwiegenden psychischen Störungen führen. Zu einem Psychotrauma kommt es in der Regel, wenn ein Ereignis die psychischen Belastungsgrenzen eines Menschen übersteigt und nicht entsprechend verarbeitet werden kann, vor allem extreme Gewalt, Krieg, Folter, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, Unfälle, Katastrophen oder Krankheiten.«

Ich hörte äußerst aufmerksam zu. Dr. Jantzen gab meiner ohnehin schon munteren Fantasie durch seine Erläuterung reichlich neue Nahrung.

»Schon die bloße Gegenwart am Schauplatz eines Unfalls oder einer Gewalttat als Augenzeuge kann auf manche Menschen traumatisierend wirken. Ein von Menschen verursachtes Trauma wirkt sich dabei in der Regel schlimmer aus als ein Trauma, das eher zufällige, dem menschlichen Einfluss entzogene Ursachen hat, wie beispielsweise eine Naturkatastrophe oder ein Unfall. Folgen eines traumatischen Erlebnisses können – wie in Ihrem Fall der Erinnerungsverlust – dissoziative Zustände sein. Es kann aber auch zu unverhältnismäßig heftigen Reaktionen kommen wie zum Beispiel Panikattacken, Angst- oder Zwangserkrankungen, selbstverletzendes Verhalten oder immer wiederkehrende Albträume. Es kann auch passieren, dass die Patienten ganz plötzlich von Erinnerungen überfallen werden – man spricht dann von sogenannten Flashbacks –, die oft in Gestalt einzelner Bilder, Gefühle oder auch Gerüche ins Bewusstsein treten. Gefühle und Angstreaktionen können aber auch durch bestimmte innere oder äußere Einflüsse, in der Regel durch einen an das Trauma selbst erinnernden Faktor, einen sogenannten Trigger, ausgelöst werden.«

»Und warum erzählen Sie mir dann nichts über dieses Trauma, wenn es der Dreh- und Angelpunkt meines Zustands ist?« Ich konnte mich nun doch nicht länger bremsen und brachte Dr. Jantzens Reizthema erneut zur Sprache. Ich wollte endlich erfahren, was mit mir passiert war und mir nicht nur all meine persönlichen Erinnerungen, sondern gewissermaßen mein Leben gestohlen hatte. Ich hoffte, damit sowohl der quälenden Ungewissheit als auch den furchtbaren Schreckensbildern, die mein Verstand mir zeigte, ein Ende setzen zu können.

Der Arzt seufzte in einer Art und Weise, als hätte er mit einer derartigen Reaktion gerechnet und wunderte sich insgeheim, warum ich so lang dafür gebraucht hatte. Geistesabwesend kraulte er seinen Bart, während er nach den richtigen Worten suchte. Anscheinend griff er nicht einfach in seine große Kiste voller therapeutischer Standardantworten, die wohl jeder »Psychodoktor« parat hat, sondern bemühte sich um eine individuelle Erklärung.

»Frau Dorn«, begann er schließlich ernst und eindringlich und ließ endlich von seinen Barthaaren ab. »Die Traumatherapie gehört zu meinen speziellen Fachgebieten. Neben dem theoretischen Grundlagenwissen kann ich mittlerweile auch große praktische Erfahrung darin vorweisen. Sie können mir also durchaus Glauben schenken, wenn ich behaupte, dass eine Konfrontation mit dem traumatischen Ereignis, vor allem in einem so frühen Stadium, durch den bereits erwähnten Triggereffekt eine Retraumatisierung bewirken kann.«

Ich nickte. Wenn psychologische Gründe dafür sprachen, dieses Thema vorerst auszuklammern, dann musste ich mich eben damit abfinden. »Ich verstehe. Aber können Sie mir wenigstens etwas über meine Vergangenheit oder über mich erzählen? Ich weiß schließlich überhaupt nichts darüber. Bisher habe ich lediglich meinen Namen erfahren. Aber nicht einmal der erscheint mir auch nur ansatzweise vertraut und hat nichts, weder weitere Erinnerungen noch eine sogenannte Retraumatisierung ausgelöst. Hätte denn nicht bereits die Nennung meines Namens, der schließlich auch zu den persönlichen Erinnerungen gehörte, die mir unmittelbar nach meinem Erwachen fehlten, so ein Trigger sein können?«

Der Arzt nickte und musste dann einräumen: »Im Prinzip haben Sie natürlich recht. Unter Umständen hätte bereits die Erinnerung an Ihren Namen einen Triggereffekt auslösen können. Aber eine einzelne, aus dem Zusammenhang gelöste Erinnerung, auch wenn es sich um etwas so Grundlegendes wie Ihren eigenen Namen handelt, unterscheidet sich natürlich grundlegend von dem vollständigen traumatisierenden Erlebnis, das die Amnesie ausgelöst hat. Grundsätzlich war die Gefahr einer Retraumatisierung daher äußerst gering. Außerdem müssen wir Sie schließlich irgendwie ansprechen können. Und wie sollte das gehen, wenn wir Ihren richtigen Namen nicht nennen könnten?« Er überlegte einen Moment und schlug mir dann Folgendes vor: »Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen zumindest ein paar Daten und Fakten zu Ihrer Vergangenheit nennen, die in Ihrer Akte enthalten sind. Es sind nicht sehr viele, wie ich vorausschicken muss, aber mehr ist uns leider auch nicht bekannt.«

»Ich wäre Ihnen für jede noch so kleine Information sehr dankbar.« Ich war erleichtert, wenigstens ein paar meiner verlorenen Erinnerungen wieder wie Puzzlestücke in die Lücken einfügen zu können, die sie in meinem Gedächtnis hinterlassen hatten. Und vielleicht würden Sie ja eine Lawine in meinem Verstand auslösen und die übrigen verschütteten Erinnerungen freilegen.

Dr. Jantzen blätterte durch die Seiten der Akte bis zum Anfang und überflog dann das erste Blatt, bei dem es sich – wenn die Patientenakte der Logik für derartige Schriftenbündel folgte – um ein Aufnahmeformular handeln musste, das vermutlich die wesentlichen Daten zu meiner Person enthielt.

»Ihr Name lautet – aber das wissen Sie ja bereits – Sandra Dorn«, begann der Arzt mit der einzigen Information, die ich bereits hatte, und fuhr dann langsam und methodisch fort, die spärlichen Daten vorzutragen. Bei jedem neuen Hinweis musterte er mich prüfend, ob dadurch in meinen Erinnerungen etwas ausgelöst wurde oder sogar die befürchtete Retraumatisierung eintrat. Möglicherweise hatte er Angst, ich könnte in den Zustand zurückversetzt werden, in dem ich mich bei meiner Einlieferung befunden hatte. »Geboren am 21. Juni 1996.« Dr. Jantzen runzelte für den Bruchteil eines Augenblicks die Stirn, als ob er angestrengt überlegte, dann blickte er auf und sah mich überrascht an. »Dann können Sie ja in drei Tagen Ihren neunzehnten Geburtstag feiern.«

Ich nickte bestätigend, war über diese Tatsache aber nicht ganz so aus dem Häuschen wie mein Gegenüber, denn nach ausgelassenem Feiern war mir im Augenblick weniger zumute. Die Tatsache meines demnächst bevorstehenden Geburtstags beinhaltete in meiner derzeitigen Gemütslage allenfalls zwei grundlegende Informationen, nämlich den Tag meiner Geburt und das heutige Datum. Sie waren mir aber derzeit nicht so wichtig, sondern stellten nur Mosaiksteinchen im Gesamtbild meiner Erinnerungen dar, von denen der größte Teil noch immer fehlte.

Dr. Jantzen stellte rasch fest, dass ich seine Begeisterung nicht teilte, räusperte sich verlegen und richtete den Blick wieder auf seine Unterlagen, um die übrigen Angaben vorzulesen: »Sie sind Studentin. Ihre Eltern heißen Martin und Elvira Dorn. Sie wohnen hier in München im Stadtteil Nymphenburg …«

Er nannte auch die genaue Anschrift, die mir jedoch nichts sagte. München kannte ich natürlich, ebenso den Stadtteil Nymphenburg, in dem sich meines Wissens ein bekanntes prunkvolles Schloss gleichen Namens, weitläufige Grünanlagen und zahlreiche Villen befanden. Ansonsten beschränkten sich meine Kenntnisse über diese Stadt jedoch auf allgemeine Informationen, die vermutlich auch viele Menschen wussten, die nicht hier lebten, und daher nicht unbedingt darauf schließen ließen, dass ich tatsächlich hier lebte und studierte. Selbst wenn all meine persönlichen Erinnerungen an meine Heimatstadt verschwunden waren, hätte ich eigentlich dennoch zahlreichere und konkretere Einzelheiten über sie wissen müssen. Auch die Namen meiner Eltern lösten weder Erinnerungen noch tiefere Empfindungen in mir aus. Ich hatte das Gefühl, dass es sich einfach nur um die Namen irgendwelcher Personen handelte, ohne dass ich eine besondere persönliche Beziehung zu ihnen feststellen konnte.

Dr. Jantzen registrierte meine Reaktionen oder, besser gesagt, das Fehlen jeglicher Reaktion auf seine Worte und fuhr fort: »Unter nahen Angehörigen ist hier noch eine weitere Person angegeben. Jemand namens Andras. Ich nehme an, das ist Ihr Bruder.«

Der Name klang für mich im ersten Augenblick ebenso fremd wie die meiner Eltern. Dennoch löste er, als der Arzt ihn aussprach, in den Tiefen meines Verstandes ein schwaches, kaum wahrnehmbares Echo aus. Es war wie der zaghafte Flügelschlag eines zarten Schmetterlings inmitten eines dichten Waldes, kaum zu bemerken und einen Sekundenbruchteil später auch schon wieder vorbei. Ich neigte daher zu der Annahme, ich hätte es mir nur eingebildet, weil ich so verzweifelt auf eine Reaktion auf eine dieser Informationen gehofft hatte. »Andras«, wiederholte ich daher noch einmal laut und deutlich, als wollte ich den Geschmack des Namens wie die Blume eines kostbaren Weins auf der Zunge spüren. Und da, kaum dass ich es tatsächlich zu hoffen gewagt hatte, bemerkte ich erneut die leichte Erschütterung innerhalb meines Gedächtnisses, die ebenso schnell wieder verging.

Dr. Jantzen hatte mich schweigend und aufmerksam beobachtet. Seinem geschulten Therapeutenblick entging natürlich nicht, dass ich in irgendeiner Weise auf den Namen meines Bruders reagierte. »Hat der Name Ihres Bruders ein Gefühl oder eine Reaktion ausgelöst?«

Ich nickte. »Ein ganz schwaches … Echo, könnte man sagen«, antwortete ich, unfähig, meine Empfindungen in adäquate Worte zu kleiden. »Aber so schwach und flüchtig, dass ich mir noch nicht hundertprozentig sicher sein kann. Was können Sie mir sonst noch sagen?«

Dr. Jantzen hob in einer Geste des Bedauerns die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Es tut mir aufrichtig leid, Frau Dorn, aber das waren alle persönlichen Daten, die in Ihrer Akte enthalten sind. Aber ich bin mir sicher, dass wir …«

Weiter kam der Arzt nicht, denn in diesem Augenblick wurde von draußen zaghaft gegen die Tür geklopft. Dr. Jantzen gab Gabriel mit einem Kopfnicken zu verstehen, die Tür zu öffnen. Den Pfleger, der sich die ganze Zeit über unauffällig im Hintergrund gehalten hatte, hatte ich schon ganz vergessen gehabt, so fixiert war ich während unserer Unterredung auf den Arzt gewesen.

Ich drehte den Oberkörper, da ich mit dem Rücken zur Tür saß, und beobachtete, wie Gabriel die Tür öffnete. Auf dem Flur stand eine junge Schwester in einem weißen Kittel, lächelte angespannt und rieb sich nervös die Hände, als hätte sie kalte Finger. Als sie den Therapeuten sah, stieß sie hastig hervor: »Entschuldigen Sie, Dr. Jantzen, aber ein Herr von der Kriminalpolizei will unbedingt mit der … äh, der Patientin sprechen. Er lässt sich nicht abweisen und behauptet sogar, er hätte einen richterlichen Beschluss, der es ihm erlaubt …«

Sie verstummte abrupt mitten im Satz und riss die Augen auf, als sie nicht sehr rücksichtsvoll zur Seite gedrängt wurde. Ein wesentlich älterer Mann in dunklem Anzug nahm augenblicklich ihre Position ein und gab ihr energisch Befehle, als hätte er das Kommando übernommen: »Sie können jetzt gehen, Schwester. Ab hier übernehme ich!«

Die sichtlich überrumpelte Schwester warf einen um Rat ersuchenden Blick auf Dr. Jantzen. Sie zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, dass sie nicht bemerkt hatte, wie der Mann ihr hierher gefolgt war, und sie nichts dafürkonnte. Dr. Jantzen nickte ihr beruhigend zu, worauf sie sich auf dem Absatz umdrehte und mit großen Schritten wegmarschierte.

Nun hielt nur noch Gabriels riesenhafte, kräftige Gestalt, die den Türrahmen locker ausfüllen konnte, wenn er sich direkt hineinstellte, den dunkel gekleideten Mann davon ab, den Raum zu betreten. Im Ernstfall wäre der Pfleger ein unüberwindliches Hindernis gewesen, da war ich mir sicher. Dieser Ansicht schien auch der Besucher zu sein, denn er erschien nun doch ein bisschen verunsichert und musterte den Hünen, der vor ihm aufragte, mit misstrauischer Miene.

»Gabriel, bitten Sie den Herrn von der Polizei herein«, wies Dr. Jantzen den Pfleger schließlich an und entschärfte damit schlagartig die spannungsgeladene Situation an der Tür.

Kapitel 6

Nachdem Gabriel – höchst widerstrebend, wie mir schien – zur Seite getreten war und den Durchgang freigegeben hatte, kam der Neuankömmling unverzüglich hereinmarschiert. Er schritt energisch, und ohne mich eines einzigen Blickes zu würdigen, an mir vorbei zur rechten Längsseite des langen Konferenztisches, um sich dort einen Platz zu suchen.

Dr. Jantzen hatte sich indessen von seinem Platz vor dem Fenster erhoben und kam dem Kriminalbeamten ebenso ernsthaft entgegen. Die beiden Männer wirkten auf mich in diesem Moment wie zwei Revolverhelden, die im Begriff waren, ein Duell darüber auszufechten, wer in diesem Raum das Sagen hatte. Dr. Jantzen machte keinen besonders freundlichen Eindruck, als er schließlich auf den anderen Mann traf, bevor dieser Platz nehmen konnte, sondern schien im Gegenteil in angriffslustiger Stimmung zu sein. Dies mochte weniger daran liegen, dass der Fremde einfach der Schwester gefolgt und dadurch hier hereingeplatzt war, ohne vorher die Zustimmung des Arztes einzuholen, sondern eher in der Art begründet sein, wie der Neuankömmling versucht hatte, das Kommando zu übernehmen. Wahrscheinlich sah der gute Doktor seine Autorität als Facharzt und Stationsleiter in Gefahr und wollte die Verhältnisse nun wieder gerade rücken, indem er den Mann in seine Schranken verwies.

»Ich hoffe, Sie sind tatsächlich in der Lage, mir den richterlichen Beschluss zu zeigen, von dem Schwester Hannah sprach«, fuhr der Arzt den älteren Mann an. »Wie Sie sich vermutlich denken können, bin ich über diesen Überraschungsbesuch alles andere als erfreut. Ich bin nämlich der Meinung, dass es für die Heilbehandlung meiner Patientin in dieser Phase nicht besonders förderlich ist, wenn sie sich auch noch mit den Ermittlungen der Polizeibehörden auseinandersetzen muss. Ich ging eigentlich davon aus, dass wir diesen Punkt dem Polizeipräsidium gegenüber klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hätten.«

Sein Gegenüber hatte während Dr. Jantzens aufgebrachten Worten in aller Ruhe ein Schriftstück aus der Aktentasche geholt, die er in der linken Hand getragen und nun auf der Platte des Tisches abgestellt hatte, und dieses umständlich auseinandergefaltet. Nachdem die Tirade verstummt war, überreichte der Besucher dem Arzt das Papier, ohne seinen starren Gesichtsausdruck dabei im Geringsten zu verändern.

»Das ist der richterliche Beschluss, der es mir erlaubt, die Zeugin Dorn unverzüglich zu befragen. Und zwar sowohl ohne Ihre Einwilligung als auch gegebenenfalls – das heißt, sofern es mir erforderlich erscheinen sollte – ohne Ihre Anwesenheit, Dr. Jantzen! Wenn Sie also Wert darauf legen, während der Zeugenbefragung dabei zu sein, sollten Sie einen anderen, deutlich weniger aggressiven Ton anschlagen. Ich hoffe, wir haben uns verstanden, Herr Doktor!«

Der Arzt wollte Einwände erheben, doch der Polizist ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Sparen Sie sich Ihre Ausführungen für einen späteren Zeitpunkt, Dr. Jantzen. Lesen Sie lieber sorgfältig den Gerichtsbeschluss und akzeptieren Sie endlich, dass mein Vorgehen rechtmäßig ist. Denn falls ich noch ein weiteres Wort des Widerspruchs von Ihnen höre, werde ich Sie unverzüglich des Raumes verweisen!«

Der Arzt gehorchte widerwillig und las stattdessen, nachdem er dem Polizeibeamten einen zornigen Blick geschenkt hatte, konzentriert den Beschluss in seinen Händen. Ich konnte ihm ansehen, dass er zumindest in Gedanken mit den Zähnen knirschte, als er ihn schließlich zurückgab. Allem Anschein nach hatte alles seine Richtigkeit, zumindest vor dem Gesetz, und die Behauptungen des Kriminalbeamten entsprachen der Wahrheit. Dr. Jantzen musste das wohl oder übel akzeptieren, konnte es aber dennoch nicht bleiben lassen, seiner Meinung darüber Ausdruck zu verleihen. »Für den Moment scheinen Sie tatsächlich am längeren Hebel zu sitzen, aber ich kann Ihnen schon jetzt versprechen, dass ich mich diesbezüglich an Ihre Vorgesetzten wenden und dort Ihr unfreundliches Verhalten deutlich zur Sprache bringen werde. Ich kann es nämlich nicht zulassen, dass der Therapieverlauf durch weitere derartige Querschläge Ihrerseits in Gefahr gebracht wird. Das Wohl meiner Patienten steht für mich im Vordergrund, und Ihre Ermittlungen interessieren mich dabei nicht im Geringsten. Im Übrigen wäre es wohl angebracht, dass Sie sich zuallererst einmal vorstellen und legitimieren.«

»Selbstverständlich«, beeilte sich der Beamte zu versichern, den sein eigenes Versäumnis in Verlegenheit und aus dem Konzept gebracht zu haben schien. Und dem Doktor hatte es nach seiner ersten Niederlage in diesem Machtkampf wenigstens einen kleinen Punktgewinn beschert.

»Kriminalhauptkommissar Klaus Gehrmann«, stellte sich der Polizist vor und zeigte dem Arzt sowohl seinen Dienstausweis in einem Lederetui als auch seine glänzende, goldene Dienstmarke, die er hastig aus der Innentasche seiner Anzugjacke geholt hatte. Den Gerichtsbeschluss hatte er zuvor wieder in seine Aktentasche gesteckt.

Dr. Jantzen studierte alles besonders sorgfältig. Dann nickte er mit einem verdrießlichen Ausdruck auf dem Gesicht, da ihm nichts anderes übrig blieb, als die Legitimation seines Gegenübers zu akzeptieren. Einen letzten Versuch, die Befragung zu torpedieren, unternahm er dennoch: »Ist es denn nicht erforderlich, dass Frau Dorn während der Vernehmung ein Rechtsanwalt zur Seite steht?«

Kriminalhauptkommissar Gehrmann schüttelte den Kopf, während er Ausweis und Dienstmarke wieder verschwinden ließ. »Ich kann Ihnen versichern, dass die Hinzuziehung eines Verteidigers nicht erforderlich sein wird. Frau Dorn wird von mir lediglich als Zeugin angehört. Aus diesem Grund ist es auch nicht notwendig, sie über ihre Rechte zu belehren. Sie können gerne hierbleiben, sofern Sie sich entsprechend zu benehmen wissen, und sich davon überzeugen, dass ich nichts unternehmen werde, was Frau Dorn Schaden zufügen könnte.«

Dr. Jantzen sparte sich eine Antwort darauf, nickte stattdessen nur und warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Womöglich ging ihm durch den Kopf, dass der Kriminalbeamte überhaupt nicht ermessen konnte, welchen Schaden er durch eine unbedachte Äußerung in meinem vorgeschädigten Verstand anrichten konnte. Allerdings fehlten ihm im Augenblick die Mittel, dem Polizisten wirksam Paroli bieten zu können.

Dr. Jantzens Blick in meine Richtung war die erste Aufmerksamkeit, die mir geschenkt wurde, seit der Polizeibeamte so überraschend aufgetaucht war. Während der verbalen Auseinandersetzung des Arztes und des Hauptkommissars war das Interesse aller Anwesenden nur auf die beiden Männer und ihr Kräftemessen gerichtet gewesen. Dr. Jantzen hatte dabei zwar für den Moment den Kürzeren gezogen, war aber bestimmt nicht bereit, kampflos das Feld zu räumen und mich mit dem anderen Mann allein zu lassen.

Er nahm das Heft, das er kurzzeitig verloren hatte, wieder dadurch in die Hand, dass er von seinem Recht als Stationsleiter und Hausherr Gebrauch machte und dem Kriminalbeamten einen Platz zuwies, der möglichst weit von mir entfernt war. Gehrmann akzeptierte dies auch ohne weitere Diskussion. Ihm musste ebenso wie uns allen klar sein, dass er den Machtkampf fürs Erste für sich entschieden hatte und nun hier die Spielregeln bestimmte. Aus diesem Grund konnte er dem Arzt diesen kleinen Triumph großmütig zugestehen.

Dr. Jantzen holte die Krankenakte und seine Notizen von seinem Platz und setzte sich näher zu mir, sodass er wie ein menschlicher Puffer zwischen mir und dem Polizisten dienen konnte.

Ich selbst war mir zunächst noch unsicher, was ich von diesem überraschenden Auftauchen des Beamten und der ganzen Situation halten sollte. Zunächst hatte mir sein Erscheinen einen Schreck versetzt, denn es hatte die Horrorszenarien, die meine Fantasie wie am Fließband produzierte, mit neuer, erschreckender Nahrung versorgt. Eine Zeitlang hatte ich sogar befürchtet, der Mann wäre gekommen, um mich zu verhaften und ins Gefängnis zu stecken. Dann hatte ich das Wortduell zwischen dem Arzt und dem Polizisten – bei dem es schließlich um mich ging – gespannt, aber auch mit zwiespältigen Gefühlen verfolgt. Denn einerseits erhoffte ich mir durch eine Befragung durch den Kriminalbeamten neue Informationen und Erkenntnisse, die mir Dr. Jantzen bisher nicht hatte sagen können oder wollen. Auf der anderen Seite fürchtete ich gleichzeitig aber auch das Gespräch mit dem Beamten, als könnten dabei Tatsachen oder Wahrheiten ans Tageslicht kommen, die mir letztendlich schaden würden. Lediglich die Zusicherung des Mannes, dass ich nur als Zeugin angehört werden sollte, überzeugte mich schlussendlich davon, dass mir durch den Polizisten im Moment nichts Schlimmes drohte und ich durch eine Unterhaltung mit ihm unter Umständen mehr gewinnen als verlieren konnte. Aus diesem Grund fieberte ich dem Beginn der Befragung sogar ein bisschen entgegen.

₺70,20
Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
563 s. 6 illüstrasyon
ISBN:
9783738007527
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

Bu kitabı okuyanlar şunları da okudu