Kitabı oku: «DAS BUCH ANDRAS I», sayfa 5

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Als ich der Ansicht war, alle wesentlichen Einzelheiten der Fotografie erfasst zu haben, legte ich die Aufnahme vor mir auf die Tischplatte und griff zur nächsten, die mir Dr. Jantzen bereits hingelegt hatte. Obwohl es mir erheblich länger vorkam, hatte ich das erste Foto tatsächlich nur wenige Augenblicke in der Hand gehalten und angesehen.

Das zweite Bild war eine Nahaufnahme des unheimlichen Altarsteins. Er war von schräg oben fotografiert worden. Auch hier war nicht die Spur einer Reflexion des Blitzlichts auf dem tiefschwarzen Material zu entdecken. Man konnte aber deutlich erkennen, dass die Oberfläche des Steins nicht vollkommen glatt war, wie ich aufgrund der ersten Aufnahme vermutet hatte, sondern dass zahllose Einkerbungen in schlangenartigen Linien den Felsblock überzogen.

Erneut nahm mich der Anblick gefangen, als wollte der Altarblock meinen Verstand in seine geheimnisvollen Tiefen saugen, und stieß mich gleichzeitig aber auch ab, indem es neben einem überwältigenden Gefühl des Ekels den Wunsch in mir erzeugte, mir die Hände am Stoff meiner geliehenen Jeans abzuwischen, obwohl ich nicht einmal den Altar selbst, sondern nur eine Fotografie von ihm berührte. Mir schwindelte, als ich einer der verschlungenen Linien mit den Augen zu folgen versuchte. Anfangs war kein Muster zu erkennen, sondern nur ein wirres Durcheinander wie das geistesabwesende Gekritzel eines Wahnsinnigen während eines längeren Telefonats, doch ganz allmählich formten sich Figuren und Muster aus dem Chaos, die man zuerst nicht wahrgenommen hatte, fast so, als wären sie soeben erst entstanden. Das konnte allerdings nicht sein, da der Inhalt der Fotografie bereits seit dem Zeitpunkt ihrer Aufnahme feststand und sich nicht verändern konnte. Dennoch sah ich plötzlich furchterregende Dämonenfratzen auf der schwarzen Oberfläche des Steins, die sich verzerrten und mich anzuknurren schienen, auch wenn ich natürlich keinen Laut hörte. Schreckliche Monster, wie ich sie noch nie gesehen hatte, eine Mischung aus Reptilien, Vögeln, menschlichen Körpern und Fabelwesen, krochen mir aus dem Inneren des Altarblocks entgegen, wurden größer und größer und rissen ihre abscheulichen, vor Zahnreihen starrenden Mäuler auf.

Ich schrie laut und gellend, als mich die Ungeheuer zu verschlingen drohten.

Kapitel 10

Plötzlich und unerwartet spürte ich eine Hand auf meiner Schulter, wodurch der Bann, unter dem ich scheinbar gestanden hatte, gebrochen wurde. Ich blinzelte irritiert, als hätte ich tief und fest geschlafen und nun große Schwierigkeiten, richtig wach zu werden. Dann blickte ich mich suchend um, um zu sehen, wer mich angefasst hatte. Es war natürlich Dr. Jantzen gewesen, der mich noch immer mit besorgter Miene ansah.

»Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Frau Dorn?«

Ich nickte. »Ja, wieso? Was ist passiert?«

»Sie haben geschrien. Erinnern Sie sich nicht?«

»Nein … Doch, ich glaube, jetzt erinnere ich mich …«

»Möchten Sie aufhören oder zumindest eine Pause machen?«

Ohne lange zu überlegen, schüttelte ich den Kopf. »Nein, es geht schon wieder.«

»Haben die Fotografien denn etwas bewirkt? Haben Sie deshalb geschrien, weil die Fotos es geschafft haben, eigene Erinnerungen in Ihnen zu wecken?« Es war natürlich Hauptkommissar Gehrmann, der diese Fragen stellte. Ich hatte ihn für den Moment ganz vergessen gehabt und erinnerte mich erst jetzt wieder an seine Gegenwart.

»Nein. Es war nur …« Ich stockte, wusste nicht, wie ich es erklären sollte, ohne wie eine komplett Durchgeknallte zu erscheinen, was ich nach dem soeben Erlebten vielleicht sogar war. »Ich glaubte, auf dem Foto etwas … etwas Schreckliches gesehen zu haben.«

Der Arzt und der Kriminalbeamte sahen mich verständnislos an. Wahrscheinlich warteten sie auf weitere Erklärungen, die ich ihnen aber weder geben konnte, noch wollte.

»Es war aber eigentlich gar nichts«, beeilte ich mich daher hinzuzufügen. »Nur ein Trugbild … eine optische Sinnestäuschung.« Das klang nicht einmal in meinen eigenen Ohren besonders überzeugend, aber ich hatte im Augenblick einfach nicht den Nerv, mir eine bessere Erklärung einfallen zu lassen. Die beiden Männer sollten sich entweder damit zufriedengeben oder es einfach bleiben lassen, basta!

Hauptkommissar Gehrmann verzog keine Miene und senkte den Blick rasch wieder, hin zu der aufgeschlagenen Akte vor ihm. Dr. Jantzen nickte nur, als akzeptierte er meine Erklärung, aber ich sah ihm an, dass er keineswegs davon überzeugt war, dass mit mir wirklich alles in Ordnung war, und er sich trotz allem Sorgen um mich machte.

Ich wandte rasch und schuldbewusst den Blick ab, um ihn wieder auf das Foto in meinen Händen zu richten, und stellte überrascht fest, dass ich es fallen gelassen hatte, ohne es bemerkt zu haben. Es war verkehrt herum auf der Tischplatte gelandet. Ich nahm es wieder zur Hand und drehte es um. Es zeigte natürlich noch immer dasselbe Motiv wie zuvor, doch als ich es nun betrachtete, hatte ich nicht mehr das Gefühl, in das Bild hineingezogen zu werden. Die verschlungenen Vertiefungen auf der Oberfläche des Altars waren noch vorhanden, doch sie blieben ein wirres Durcheinander von Linien und formten sich nicht länger zu Schreckensbildern. Stattdessen bemerkte ich nun zahlreiche dunkle Flecken, die mir zuvor entgangen waren und sich nur dadurch von der Schwärze des Altars abhoben, weil sie im Gegensatz zu diesem glänzten und das Licht zurückwarfen. Dabei musste es sich um die Blutspuren handeln, von denen der Kriminalbeamte gesprochen hatte und die von meinem Bruder Andras stammen sollten.

Andras.

Der Klang, den allein der Gedanke an diesen Namen in mir erzeugte, hallte erneut wie ein dumpfer Glockenschlag in meinem Verstand nach und überzeugte mich davon, dass mir dieser Name nicht gänzlich unbekannt war. Das war aber auch nicht verwunderlich, schließlich war es der Name meines leiblichen Bruders. Ansonsten löste er jedoch nichts aus, vor allem keine Erinnerungen an mein vergangenes Leben. Ich betrachtete ein letztes Mal die vielen Blutflecken und dachte, dass es sich in der Tat um eine große Menge Blut handeln musste, die auf diesem Altar vergossen worden war. War Andras überhaupt noch am Leben? Aber warum war dann seine Leiche nicht ebenfalls am Tatort gefunden worden, so wie die Körper meiner Eltern? Bedeutete nicht schon dieser Umstand, das Fehlen seines Leichnams, dass er noch am Leben war, wenn auch unter Umständen schwer verletzt? In einer Geste der Rat- und Hilflosigkeit zuckte ich mit den Schultern. Immer wieder tauchten neue verwirrende Fragen auf, bevor ich auch nur die geringste Chance hatte, Antworten auf ein paar alte Fragen zu bekommen. Da ich das erdrückende Gefühl hatte, all die neuen unbeantwortbaren Fragen würden meinen Verstand verstopfen und mich am Nachdenken hindern, steckte ich sie kurzerhand in die überquellende Schublade zu den anderen Problemen und konzentrierte mich stattdessen wieder auf die Fotografie in meiner Hand.

Da ich keine neuen Details darauf erkennen konnte, legte ich die Aufnahme auf die erste und griff nach der nächsten. Ich spürte, dass Dr. Jantzen mich während alldem aufmerksam musterte, sah jedoch nicht auf, sondern hielt den Blick krampfhaft auf das zehn mal fünfzehn Zentimeter große Bild in meinen Händen gerichtet.

Ich schluckte schwer, als ich das Motiv erkannte. Es handelte sich um die Aufnahme eines auf dem Boden liegenden Menschen, dessen Umrisse auf dem Beton mit weißer Farbe nachgezeichnet waren. Der Fotograf musste sich weit über den Körper gebeugt haben, um diese Aufnahme zustande zu bringen, denn die Kamera schien direkt über der ausgestreckten Gestalt zu schweben.

Mit war natürlich sofort klar, dass ich die Fotografie einer der beiden Leichen vor mir hatte, die bei der Totalansicht des Kellerraums gnädigerweise gefehlt hatten. Aber nun kam ich nicht mehr darum herum, mich mit ihrem Anblick zu konfrontieren. Natürlich hätte ich das Foto auch einfach zu den anderen legen können, ohne es mir genauer anzusehen. Aber mir war sofort bewusst, dass ich das nicht tun konnte. Denn im Nachhinein hätte ich mich nur immer und immer wieder gefragt, ob es meinem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge geholfen hätte, wenn ich mir die Bilder der Leichname nur länger und vor allem genauer angesehen hätte.

Ich schloss die Augen, zählte in Gedanken bis zehn und versuchte in dieser Zeit, meine Gefühle zu analysieren, ohne dabei vom Anblick der Leiche irritiert zu werden. Ich stellte fest, dass das Wissen, dass die dargestellte Person auf dem Foto nicht nur tot, sondern sogar ermordet worden war, mir erhebliches Unbehagen bereitete. Aber das war im Grunde auch schon alles, was ich empfand.

Ich öffnete die Augen wieder und betrachtete nun genauer, was auf dem Lichtbild zu sehen war. Im ersten Augenblick wirkte es beinahe so, als wäre mit der abgebildeten Frau alles in Ordnung. Es hatte ganz den Anschein, als hätte sie sich freiwillig für den Fotografen auf den Boden gelegt, um dort kurz den Atem anzuhalten und für eine gelungene Aufnahme, beispielsweise für ein Modemagazin, zu posieren – auch wenn es sich in diesem Fall um spezielle Abendgarderobe für den modebewussten Satanisten handelte. Aber nach und nach, als fielen Stück für Stück die Teile eines Puzzles an ihren angestammten Platz, fügten sich die übrigen erschreckenden Einzelheiten ins Bild und veranschaulichten die ganze grausame Wahrheit hinter der Aufnahme.

Da war zum Beispiel die höchst unnatürliche Haltung, in der die Gliedmaßen vom Körper abgewinkelt waren. Außerdem die Risse in der schwarzen, samten glänzenden Kutte, durch die teilweise bleiche Haut und dunkles Blut sichtbar waren. Ferner die gespenstisch anmutende Fahlheit der Gesichtshaut und die Leblosigkeit und Starre in den weit aufgerissenen Augen. Und schließlich die klaffende Wunde, die sich wie eine Kette aus dunkelrot glitzernden Perlen um ihren Hals gelegt hatte, und die Lache getrockneten Blutes, die sich wie ein dunkler See unter der Frau auf dem Steinboden ausgebreitet hatte.

All diese Mosaiksteinchen sprachen für sich und in ihrer erschreckenden Gesamtheit eine mehr als deutliche Sprache. Die Frau auf dem Bild war mausetot, und nichts und niemand auf dieser Welt würde daran etwas ändern können.

Nachdem ich all diese Anzeichen eines gewaltsamen, furchtbaren Todes registriert hatte, blendete ich sie nach und nach wieder aus, denn sie waren für mich, sobald ich sie wahrgenommen hatte, nicht mehr wichtig. Viel bedeutsamer waren für mich das Gesicht und die Identität der Toten, bei der es sich schließlich um meine Mutter handelte, an die ich keinerlei bewusste Erinnerung als lebende und atmende Person besaß.

Beinahe zärtlich ließ ich meine Augen über ihr langes, wie bei einem Fächer auf dem Beton ausgebreitetes Haar gleiten, dessen weizenblonde Färbung zu unnatürlich wirkte, um echt zu sein, und das an der Kopfhaut bereits dunkelbraun nachwuchs. Aufmerksam ließ ich meinen Blick über jeden einzelnen Quadratzentimeter ihres gleichmäßig geformten, schmalen Gesichts wandern, über die hochstehenden Wangenknochen und das spitze, zierlich wirkende Kinn, als wollte ich mir alles ganz genau einprägen. Gleichzeitig stellte ich mir Lebendigkeit und Wärme in ihren braunen Augen vor, was mir jedoch nicht gelang. Ich versuchte, die im Tode erstarrten Züge der Frau vor meinem inneren Auge mit Leben zu erfüllen, und bemühte mich, die sprachlosen Lippen zu einem Lächeln zu zwingen. Durch all dies wollte ich etwas Vertrautes in ihrem Gesicht entdecken und gleichzeitig auch etwas in mir selbst finden, und sei es auch noch so tief in meinem Innersten vergraben, das mir bewies, dass ich diese Frau gekannt hatte und mich an sie erinnerte. Schließlich war sie diejenige, die mich jahrelang zu Bett gebracht, mir unter Umständen Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen, mich in meinem Kummer getröstet und vor Freude mit mir gelacht hatte. Doch all meine Bemühungen halfen mir nicht im Geringsten, eine zarte Erinnerung an oder auch nur den Anflug eines Gefühls für diese Person hervorzurufen. Alles, was ich empfinden konnte, war lediglich Bedauern über die Tatsache und die schreckliche Art ihres Todes, so wie für jeden anderen auch. Ansonsten blieb die Tote auf der Fotografie nicht nur tot, sondern eine absolut Fremde für mich.

Ich seufzte und öffnete die Finger, sodass das Foto mir aus den Händen glitt und auf die Tischplatte fiel, wo es bei den übrigen landete.

»Es hat keinen Sinn«, sagte ich laut und an niemanden im Speziellen gerichtet. »Die Fotos bringen auch nichts. Wenn ich nicht einmal etwas Vertrautes im Gesicht meiner eigenen Mutter erkenne, was soll mir dann überhaupt noch helfen?«

Ich zog eine düstere Miene und sah auf, um die Reaktionen der beiden am Tisch sitzenden Männer auf meine resignierenden Worte zu beobachten. Dr. Jantzen nickte zustimmend, als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass es so kommen würde. Doch Hauptkommissar Gehrmann war anscheinend noch nicht bereit, so schnell aufzugeben. Er wirkte in diesem Moment auf mich wie ein Bluthund, der die Fährte schon aufgenommen hatte und nun nicht mehr lockerlassen würde, bis er sein Jagdziel erreicht und die Beute erlegt hatte.

»Warum sehen Sie sich nicht erst noch die übrigen Fotos an, bevor Sie die Flinte ins Korn werfen?«, versuchte er an mein Gewissen oder mein Pflichtbewusstsein – vielleicht auch an beides – zu appellieren. »Sie haben doch erst drei Fotos gesehen. Ich habe insgesamt ungefähr zwei Dutzend Aufnahmen mitgebracht.«

»Haben Sie auch ein Foto meines Bruders?« Da die Nennung seines Namens immerhin ein fernes Echo in mir ausgelöst hatte, hoffte ich, dass ein Bild von ihm einen ähnlichen, wenn nicht sogar erheblich stärkeren Effekt haben könnte.

»Wir haben seinen Ausweis sichergestellt«, sagte Gehrmann. »Darin befindet sich natürlich auch ein Passbild Ihres Bruders. Diese Aufnahme habe ich allerdings nicht bei mir, denn die Pässe befinden sich in der Asservatenkammer. Warum sehen Sie sich also fürs Erste nicht alle Bilder durch, die ich mitgebracht habe?«

Ich seufzte erneut, dieses Mal über die Hartnäckigkeit des Beamten, und sagte dann: »Weil ich mir mittlerweile sicher bin, dass wir auf diesem Weg keinen Schritt weiterkommen. Wenn irgendwo da drin …« Dabei klopfte ich mit den Fingerknöcheln meiner rechten Hand gegen meine Schläfe, als würde ich bei einer Tür Einlass begehren. »… noch immer meine verlorenen Erinnerungen stecken, dann lassen sie sich auf diese Weise ganz bestimmt nicht hervorholen. Das können Sie mir ruhig glauben, Herr Kriminalhauptkommissar!« Ich lehnte mich demonstrativ in meinem Stuhl nach hinten und verschränkte die Arme vor der Brust.

Dieser Wink mit dem Zaunpfahl, dass ich zu keinen weiteren Diskussionen über dieses Thema bereit war, schien bei Gehrmann sogar angekommen zu sein. Er nickte, strich sich mit der Hand über das Gesicht, als wäre er erschöpft, und schürzte dann die Lippen, während er kurz überlegte. »Und was schlagen Sie stattdessen vor?«

In diesem Augenblick kam es mir so vor, als wäre die ganze Besprechung nur auf diesen Punkt hinausgelaufen. Als hätte alles, was zuvor in diesem Raum getan und gesagt worden war, nur dem Zweck gedient, diesen kritischen Moment vorzubereiten. Mir kam sogar ganz kurz der Gedanke, der Kriminalbeamte hätte die ganze Zeit nur auf diesen Abschluss des Gesprächs gehofft und darauf hingearbeitet und würde sich nun heimlich ins Fäustchen lachen, weil sein genialer Plan ganz hervorragend aufgegangen war. Und ich lieferte ihm auch noch die Vorlage dazu. Doch mir wurde gleichzeitig bewusst, wie irrational und unwahrscheinlich diese Vermutung war.

Ich wischte daher diese irrwitzigen Überlegungen beiseite und gab die einzige Antwort, die mir in diesem Augenblick möglich und folgerichtig erschien: »Bringen Sie mich in mein Elternhaus betreten und lassen Sie mich alles mit eigenen Augen sehen!«

Kapitel 11

Wie ich es nicht anders erwartet hatte, protestierte Dr. Jantzen sofort heftig gegen mein Ansinnen, während Hauptkommissar Gehrmanns ansonsten stoische Miene zum allerersten Mal überhaupt leichte Risse bekam und er – zumindest kam es mir so vor – nur mit Mühe einen siegessicheren oder zumindest selbstzufriedenen Gesichtsausdruck unterdrücken konnte.

Erneut kam mir der Gedanke, dass er die Befragung geschickt bis zu diesem Punkt gelenkt haben und alles, was zuvor geschehen war, nur ein Vorgeplänkel gewesen sein könnte, um mich dazu zu bewegen, mir die Villa meiner Eltern persönlich anzusehen. Aber vielleicht überschätzte ich in diesem Punkt sowohl die Motive als auch die Fähigkeiten des Kriminalbeamten.

Aber trotz der sehr zweifelhaften Ahnung, dass all dies von dem Polizisten inszeniert worden war, und trotz der Proteste des Arztes, die meiner Meinung nach ohnehin von Beginn an nur halbherzig vorgetragen und außerdem von Minute zu Minute schwächer wurden, beharrte ich auf meinem Wunsch. Hauptkommissar Gehrmann unterstützte mich natürlich darin und drohte Dr. Jantzen sogar damit, einen weiteren richterlichen Beschluss zu erwirken, der die Sanatoriumleitung dazu verpflichtete, mich mit ihm und einem seiner Mitarbeiter, aber unter Ausschluss des Arztes und anderer Sanatoriummitarbeiter zum Tatort fahren zu lassen. Es musste die Befürchtung gewesen sein, mich allein und ohne fachkundige Begleitung durch einen Arzt oder Pfleger der Obhut der ermittelnden Kriminalpolizisten zu überlassen, die Dr. Jantzen schließlich dazu bewog, seine Zustimmung zu unserem Ausflug zu erteilen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass der Direktor des Sanatoriums, der die Hauptverantwortung trug, ebenfalls damit einverstanden war.

Nachdem das geklärt war, verabschiedete sich der Kriminalbeamte und vereinbarte mit dem Arzt, uns am Nachmittag um vier Uhr vor der Villa zu treffen, vorausgesetzt, der Direktor gab seine Einwilligung. In der Zwischenzeit wollte er einige Vorbereitungen für den beabsichtigten Ortstermin treffen. Und da Dr. Jantzen mit dem Direktor sprechen musste, ging er ebenfalls und ließ mich mit Gabriel allein.

Ich beschloss, die Zeit, die mir bis zur Abfahrt blieb, sinnvoll zu nutzen, denn ich sehnte mich nach einer heißen Dusche. Ausgelöst durch Gehrmanns Worte, hatte ich noch immer das deutliche und abschreckende Bild vor Augen, wie ich nackt, und von Kopf bis Fuß mit dem Blut meines Bruders besudelt, mitten in der Nacht zwischen den Gräbern des Friedhofs herumspazierte. Ich bezweifelte zudem, dass ich seit meiner Einlieferung gründlich gewaschen worden war. Wahrscheinlich war das wegen meines Zustands und vor allem meiner Aggressivität überhaupt nicht möglich gewesen. Aus diesem Grund fühlte ich mich plötzlich total schmutzig und wie besudelt. Als ich mit den Fingern wie mit einem groben Kamm durch mein kurzes Haar strich, konnte ich spüren, dass es teilweise verklebt war und sich fettig anfühlte. Was auch kein Wunder war, wenn meine Haare tatsächlich seit fünf bis sechs Tagen nicht mehr gründlich gewaschen worden war. Als ich mir anschließend meine Hände ansah, konnte ich zahlreiche kleine, dunkle Partikel erkennen, die wie blutige Schuppen an meinen Fingern hafteten. Dabei konnte es sich durchaus um Flocken getrockneten Blutes handeln. Spätestens zu diesem Zeitpunkt stand für mich fest, dass ich mir zuallererst eine ausgedehnte und gründliche Dusche gönnen würde.

Nachdem ich Gabriel meinen Wunsch mitgeteilt hatte, nickte er nur knapp – anscheinend hielt auch er es für eine gute Idee, und möglicherweise roch ich bereits etwas unangenehm – und führte mich zum Gemeinschaftsduschraum der Abteilung, der um diese Uhrzeit leer war. Dort überreichte er mir – wahrscheinlich erneut aus dem reichhaltigen Fundus des Sanatoriums – Duschgel, Shampoo, mehrere Handtücher und frische Unterwäsche. Es sah ganz danach aus, als hätte man schon damit gerechnet, dass ich heute duschte, und die Sachen bereitgelegt. Dann ließ mich der Pfleger allein und bezog zweifellos vor der Tür Aufstellung, während ich mich rasch auszog und unter einen der Duschköpfe stellte.

Ich genoss das herrliche Gefühl des heißen Wassers auf meiner Haut und ließ es zunächst nur minutenlang über meinen Körper fließen. Anschließend wusch ich mich mehrmals äußerst gründlich von Kopf bis Fuß. Allein mein Haar schäumte ich dreimal ein und spülte es danach wieder aus, bis ich endlich das Gefühl hatte, wieder richtig sauber zu sein und zumindest alle körperlichen Spuren der nächtlichen Ereignisse, die zu meiner Einlieferung geführt hatte, beseitigt zu haben.

Hinterher fühlte ich mich – eigentlich erstmals seit meinem Erwachen – relativ wohl in meiner Haut, obwohl ich am Rand meines Bewusstseins bereits spüren konnte, dass erneut dunkle Wolken aufzogen. Schließlich war meinen wirklichen Problemen – und davon hatte ich im Moment mehr als genug – durch eine simple Dusche nicht beizukommen. Sie schienen nur darauf zu lauern, erneut über mich herfallen und mir das Leben schwer machen zu können. Doch für diesen kostbaren Augenblick des Wohlbefindens schob ich all diesen Ballast an den Rand meines Verstandes und genoss den kleinen Luxus wie jede andere normale Frau.

Erst als ich vor dem Spiegel stand und die beschlagene Fläche frei gerieben hatte, um darin mein Abbild sehen zu können, nahm ich zum ersten Mal an diesem Tag mein Äußeres wahr und blickte mir selbst erst einmal für mehrere Minuten absolut sprach- und regungslos entgegen.

Was mir bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewusst gewesen war – aus dem einfachen Grund, weil es bisher keinen stichhaltigen Grund dafür gegeben hatte –, wurde mir nun mit aller Deutlichkeit klar und traf mich beinahe wie der Hieb mit einem Vorschlaghammer. Neben allen persönlichen Erinnerungen, denen ich bereits ausgiebig nachgetrauert hatte, ohne sie im Einzelnen zu kennen, und allen biografischen Details zu meiner Person war natürlich auch die Erinnerung an mein eigenes Aussehen aus meinem Gedächtnis getilgt gewesen. Ich hatte also sogar vergessen, wie ich aussah, und nun das Gefühl, zum ersten Mal diesem Menschen gegenüberzustehen, der mir mit großen, staunenden Augen aus dem Spiegel entgegenblickte.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, das ich gar nicht richtig einordnen konnte. Manche Leute machen Witze darüber, dass sie nach einer feuchtfröhlichen Nacht am nächsten Morgen ein Fremder aus dem Spiegel anzusehen scheint, doch mir war in diesem Moment nicht nach Scherzen zumute. Versonnen und teilweise auch kritisch musterte ich mein neu entdecktes Äußeres. Zuerst den Kopf und dann, indem ich das große flauschige Handtuch, das ich nach dem Duschen um meinen nassen, tropfenden Körper gewickelt hatte, wieder öffnete, auch den Rest von mir.

Im Großen und Ganzen war ich mit meinem Aussehen zufrieden. Meine Haare hatten, im Gegensatz zum gefärbten Haar meiner verstorbenen Mutter, von Natur aus eine weizenblonde Farbe und waren relativ kurz geschnitten. Die leuchtend hellgrünen Augen meines Ebenbilds blickten mir freundlich, aber auch eine Spur misstrauisch und zweifelnd entgegen, so als würden sie der Person, die sie sahen, noch nicht so recht über den Weg trauen. Mein Körper war schlank, zwischen eins siebenundsiebzig und eins achtzig groß und machte insgesamt einen sportlichen und trainierten Eindruck. Sogar meine Brüste gefielen mir auf Anhieb, denn sie hatten genau die Größe, die ich mir auch gewünscht hätte, wenn das Leben ein Wunschkonzert wäre. Und mein Hintern war zum Glück nur eine Spur zu breit.

Alles in allem konnte ich mit meiner äußeren Erscheinung also durchaus zufrieden sein, auch wenn ich mich im Augenblick – mit mir selbst vor Augen – noch etwas fremd im eigenen Körper fühlte. Doch ich gewöhnte mich erstaunlich schnell an meinen eigenen Anblick und begann, nachdem sich die größte Verwunderung gelegt hatte, mich abzutrocknen. Mithilfe eines bereitliegenden Föhns trocknete ich mein Haar und bürstete es dabei, was aufgrund seiner geringen Länge nicht viel Zeit in Anspruch nahm. Danach zog ich mir frische Unterwäsche, dazu die Jeans von vorhin, ein neues, diesmal hellblaues T-Shirt und noch original verpackte Socken an, die ebenfalls in dem Stapel enthalten gewesen waren, den Gabriel mir gegeben hatte.

»Haben Sie Hunger«, fragte mich der Pfleger, nachdem ich den Sanitärbereich verlassen und ihm das Bündel, bestehend aus feuchten Handtüchern und meiner getragenen Wäsche, überreicht hatte. Er warf die Sachen in einen fahrbaren Wäschesack, der neben der Tür zu den Duschen im Flur stand, und musterte mich dann von oben bis unten. Anscheinend war er zufrieden mit dem, was er zu sehen bekam, denn er nickte anerkennend und sagte: »Sie sehen schon viel besser aus.«

Ich nahm das Kompliment schweigend, aber dennoch dankbar zur Kenntnis. Mir wurde bewusst, dass ich tatsächlich Hunger hatte. Wie auf ein geheimes Kommando meldete sich mein Magen zu Wort und knurrte laut. Nachdem ich mir bislang – und das aus gutem Grund – eher um meinen geistigen Zustand Sorgen gemacht und mich um die Lücken in meinem Gedächtnis gekümmert hatte, war es nun an der Zeit, auch all meine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen.

»Ich könnte tatsächlich etwas zu essen vertragen. Haben wir denn noch Zeit dafür?«

»Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen. Fürs Essen haben wir allemal genügend Zeit. Im Grunde ist es bei Ihnen wie mit einem Piloten. Ohne den startet das Flugzeug schließlich auch nicht. Und da Sie die Hauptperson unseres bevorstehenden Ausflugs sind, werden die anderen auch schwerlich ohne Sie beginnen können.«

Ich lachte herzhaft. Wann, wenn überhaupt, hatte ich das zum letzten Mal getan? »Da haben Sie natürlich recht.« Am liebsten hätte ich Gabriel in diesem Moment, in dem wir zusammen Spaß hatten, gefragt, was er persönlich von meinem Wunsch hielt, mein Elternhaus aufzusuchen, doch ich verkniff mir die Frage dann doch. Erstens befürchtete ich, dass er mir gar nicht antworten, sondern ausweichend reagieren würde. Und zweitens hatte ich das Gefühl, dass ich damit trotz der scheinbaren augenblicklichen Vertrautheit zwischen uns eine unsichtbare Grenzlinie überschreiten und verletzen und unser Verhältnis für die Zukunft über Gebühr strapazieren würde.

Also fragte ich nicht, und Gabriel führte mich in den Speiseraum, in dem um diese Zeit ebenfalls nicht mehr viel los war, denn die meisten hatten bereits vor Stunden zu Mittag gegessen. Aber anscheinend hatte der vorausschauende Pfleger in der Zeit, die ich unter der Dusche verbracht hatte, eine Mahlzeit für mich organisiert, die bereits auf mich wartete. Als ich am Tisch, auf dem das Tablett mit meinem Essen stand, Platz genommen hatte und mir der Duft der verschiedenen Speisen in die Nase stieg, merkte ich erst, wie ausgehungert ich war. Ich langte daher kräftig zu und hörte erst auf zu essen, als ich pappsatt war.

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Serideki Birinci kitap "DAS BUCH ANDRAS"
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