Kitabı oku: «DER REGENMANN», sayfa 3

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ERSTER TEIL

6

Anja zuckte vor Schreck zusammen. Sie stieß einen kurzen Aufschrei aus, als Yin durch die offene Badezimmertür auf sie zusprang und sich mit aufgestelltem Schwanz augenblicklich an ihren nackten Beinen rieb.

»Puh!«, sagte sie, atmete erleichtert aus und legte die rechte Hand auf ihr Herz, das heftig und rasch schlug. »Jetzt hast du mich aber ganz schön erschreckt. Mach das bloß nie wieder!«

Der Kater sah mit einer Miene zu ihr hoch, als wäre er sich keiner Schuld bewusst, und miaute laut und langanhaltend.

Anja seufzte. »Was ist los? Nachdem du mich vorhin noch ignoriert hast, kommst du plötzlich wieder an und willst was von mir. Und dabei erschreckst du mich auch noch fast zu Tode.« Anja bemühte sich zwar um einen strengen Tonfall, sie konnte der Katze aber nicht böse sein. Und das wusste dieser kleine schwarze Teufel vermutlich auch haargenau.

Yin rieb seinen geschmeidigen Körper an ihrem Schienbein. Er ließ erneut ein langes und herzzerreißendes Miauen hören.

»Tut mir leid, dass es regnet und du nicht raus kannst, Kumpel«, sagte sie, während sie sich bückte und ihn am Kopf und am Hals kraulte, worauf der Kater sich hinsetzte und wohlig zu schnurren anfing. »Aber es hört sich für mich ganz danach an, als wäre der Regen nicht mehr so heftig wie zuvor. Wahrscheinlich hört es in zwanzig Minuten oder spätestens einer halben Stunde ohnehin zu regnen auf. Und dann kannst du immer noch nach draußen und dein Revier gegen deine Rivalen verteidigen, oder was auch immer du nachts treibst.«

Entschlossen, sich von der Katze nicht länger aufhalten zu lassen, richtete sie sich wieder auf und wandte sich um.

»Leider hab ich jetzt keine Zeit mehr, mich um dich zu kümmern, Yin. Ich muss zusehen, dass ich fertig werde, bevor Tanja vor der Tür steht.«

Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass die Katze sich hingebungsvoll putzte. Sie glaubte zwar nicht, dass ihre Worte dazu beitragen hatten, allenfalls ihr sanfter Tonfall, doch der Kater schien sich wieder etwas beruhigt zu haben.

Froh, dass sie jetzt eine Sorge weniger hatte, wandte sie sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Doch im selben Augenblick hörte sie, dass unten dreimal kräftig gegen die Haustür gehämmert wurde.

»O nein!«, entfuhr es ihr. Obwohl ihre innere Uhr etwas anderes sagte, befürchtete sie, zu viel Zeit unter der Dusche vertrödelt zu haben. Sie nahm ihre Armbanduhr, die sie auf die Ablage unter dem Badezimmerspiegel gelegt hatte, und las die Uhrzeit ab. Doch ihr Zeitgefühl trog sie nicht. Sie hatte noch mehr als ausreichend Zeit, um sich fertigzumachen, bevor sie mit ihrer Cousine verabredet war.

Wenn das Tanja ist, dann ist sie viel zu früh dran. Aber wieso kommt sie schon jetzt? Und warum klingelt sie nicht?

Augenblicklich machte sie sich Sorgen um ihre Cousine. Da sie beide keine echten Geschwister hatten – Anja hatte nur einen Stiefbruder, den sie nicht leiden konnte –, standen sie sich so nahe wie Schwestern. Ihr Verhältnis hatte sich sogar noch vertieft, nachdem Tanja wegen ihrer Krebserkrankung in die Gewalt des Apokalypse-Killers geraten war und Anja sie gerettet hatte. Den Krebs hatte Tanja mittlerweile besiegt, dennoch machten sich alle Sorgen, er könnte zurückkehren.

Ob etwas passiert ist?

Die Ungewissheit vergrößerte Anjas innere Unruhe. Sie nahm sich daher gar nicht erst die Zeit, sich etwas anderes anzuziehen, sondern lief im Bademantel und barfuß die Treppe nach unten und zur Haustür. Allerdings warf sie trotz ihrer Sorge gleichwohl nicht sämtliche Vorsichtsmaßnahmen über Bord, sondern zunächst einen Blick durch das winzige Fenster neben der Tür, um nachzusehen, wer draußen stand und Einlass begehrte.

Doch dort war niemand. Und auch sonst war weit und breit kein Mensch zu sehen. Obwohl es längst nicht mehr so heftig regnete, lag die Straße, auf deren anderer Seite sich der Waldfriedhof befand, einsam und verlassen vor ihr.

Hatte sie sich etwa getäuscht und das Klopfen nur eingebildet?

Ausgeschlossen!

Sie schüttelte entschieden den Kopf, denn sie war sich hundertprozentig sicher, dass es dreimal laut und deutlich geklopft hatte.

Anja trat vom Fenster zurück und überlegte. Wer immer gegen die Tür gehämmert hatte, hatte nicht gewartet, bis sie zur Tür gekommen war, sondern war schon wieder verschwunden. Und da augenscheinlich niemand draußen stand, gab es auch keine Veranlassung mehr, diese zu öffnen.

Trotzdem …

Anja wollte zumindest kurz nachsehen. Vielleicht war es doch Tanja gewesen. Und unter Umständen hatte sie nicht länger warten können und stattdessen eine Nachricht hinterlassen.

Aber warum hatte sie dann nicht einfach angerufen, wenn ihr etwas dazwischengekommen war? Da Anja Urlaub hatte, hätten sie den Termin ohne Probleme auf einen der nächsten Tage verschieben können.

Die Sache war ihr ein Rätsel. Und wenn Anja etwas nicht leiden konnte, dann waren es ungelöste Rätsel. Zumindest solange sie nicht in einer Zeitschrift abgedruckt waren und mit einem Kugelschreiber und etwas Nachdenken gelöst werden konnten. Bei allen anderen Mysterien, die ihr in ihrem Job oder im täglichen Leben begegneten, verspürte Anja sofort den unwiderstehlichen Drang, ihnen auf den Grund zu gehen und sie aufzuklären. Vielleicht war sie auch deshalb Polizistin geworden und in die Fußstapfen ihres Vaters getreten. Oder aber sie musste sämtliche Geheimnisse ergründen, auf die sie stieß, gerade weil sie Polizistin war. Anja wusste nicht, welche dieser beiden Möglichkeiten am ehesten zutraf. Es war beinahe wie die berühmte Frage, was zuerst da gewesen war. Die Henne oder das Ei? Doch letztendlich war es ihr auch egal. Sie schritt entschlossen zur Tat, bevor sie noch lange darüber nachgrübeln konnte.

Yin, der ihr gefolgt war, saß auf dem Läufer im Flur und beobachtete sie mit unergründlicher Katzenmiene.

»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, sagte Anja zu ihm, als sie einen Stockschirm mit metallener Spitze aus dem Ständer neben der Garderobe nahm und zum Zustoßen bereit vor sich hielt, während sie zur Tür trat.

Inzwischen ergänzte sie ihre täglichen einseitigen Konversationen mit der Katze in Gedanken manchmal mit möglichen Antworten des Tiers. Das tat sie auch jetzt. Und so hätte Yin, wäre er wie in einem Märchen der menschlichen Sprache mächtig, ihrer Meinung nach Folgendes als passende Antwort darauf erwidern können:

»Und Neugier ist der Katze Tod!«

Anja warf Yin über die Schulter einen irritierten Blick zu, so als hätte er tatsächlich zu ihr gesprochen.

»Ich pass schon auf«, sagte sie, legte mit einer Entschlossenheit, die demonstrativer wirkte, als sie war, ihre Hand auf die Klinke der Haustür und zog sie dann ebenso ruckartig auf, wie sie es vor wenigen Minuten mit der Tür des Badezimmers getan hatte.

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Obwohl sie sich innerlich darauf eingestellt hatte und vor Anspannung die Luft anhielt, sprang dieses Mal nichts auf sie zu, um ihr einen Schrecken einzujagen.

Vor der Tür und innerhalb ihres gesamten Blickfeldes, das von den Türpfosten rechts und links begrenzt wurde, war noch immer niemand zu sehen. Und außen an der Tür hing auch keine Nachricht ihrer Cousine, worauf sie insgeheim gehofft hatte.

Anja stieß die angehaltene Luft aus, blieb aber weiterhin wachsam. Sie war noch immer bereit, den Regenschirm jederzeit wie einen Stockdegen zu benutzen und zuzustoßen, sollte es erforderlich sein, während sie sich nach vorn beugte und zunächst einen raschen Blick nach rechts und dann einen Blick nach links warf.

Niemand da!

Das Rätsel, wer aus welchem Grund an ihre Tür geklopft hatte, blieb weiterhin ein Geheimnis.

Anja suchte dennoch nach logischen Erklärungsmöglichkeiten.

Kinder, die sich einen Scherz erlaubt haben und dann sofort weggerannt sind?

So etwas war schon mehrere Male vorgekommen. Aber nie so spät am Abend und schon gar nicht bei so einem Sauwetter. Um diese Uhrzeit und bei Regen waren keine Kinder mehr unterwegs, die nervige, aber letztendlich harmlose Streiche spielten. Außerdem klopften sie nicht an die Tür, sondern klingelten in der Regel vorn am Gartentürchen.

Was dann?

Halbwüchsige, denen es zu langweilig war und die zu übermütig waren? Vielleicht. Ausgelassene Betrunkene auf dem Weg von einer Kneipe zur nächsten? Ihrer Meinung nach vermutlich die einzigen Erwachsenen, die aufgrund ihres Zustands derartig infantile Streiche halbwegs lustig fanden.

Anja schüttelte den Kopf. Vermutlich würde sie nie erfahren, wer vor wenigen Minuten an ihre Tür geklopft hatte und aus welchem Grund die Person es getan hatte. Aber höchstwahrscheinlich war es nur ein harmloser Streich oder ein Versehen gewesen und damit das Tamtam nicht wert, das sie darum veranstaltete.

Sie zog sich wieder ins Haus zurück, um sich abzuwenden und die Tür zu schließen. Doch da fiel ihr zum ersten Mal der großformatige braune Umschlag auf, den jemand zum Schutz vor dem Regen in eine Klarsichthülle gesteckt und auf die Fußmatte gelegt hatte.

Anja erstarrte mitten in der Bewegung, während in ihrem Inneren plötzlich Chaos ausbrach und ihre Gedanken rasten.

Natürlich musste sie sofort an die Nachrichten denken, die ihr im Fall des Apokalypse-Killers von dessen Hintermann oder Komplizen geschickt worden waren. Auch nach dem Tod des Serienmörders hatte sie noch einen derartigen Umschlag am Grab ihres Vaters gefunden. Darin hatte sich ein Foto befunden, das ihren Vater unmittelbar vor seinem Tod zeigte und das nur der Mörder aufgenommen haben konnte. Erst durch dieses Foto war ihr bewusst geworden, dass ihr Vater keinen Selbstmord begangen hatte, wie jeder jahrzehntelang geglaubt hatte, sondern ermordet worden war.

Anja starrte noch immer auf den Umschlag zu ihren Füßen, der exakt so aussah wie die Kuverts, die sie regelmäßig nach den Morden des Apokalypse-Killers erhalten hatte. Allerdings hatte das natürlich nicht zwangsläufig zu bedeuten, dass sie vom selben Absender stammten, denn solche Umschläge waren weit verbreitet und es gab sie wie Sand am Meer. Außerdem stand im Gegensatz zu damals diesmal nicht ihr Name darauf. Allerdings gab es auch so keinen Zweifel, für wen der Umschlag bestimmt war, schließlich lag er vor ihrer Tür auf der Fußmatte. Außerdem hatte die Person, die ihn hier abgelegt hatte, an ihre Haustür geklopft, bevor sie wieder spurlos verschwunden war, um Anja dazu zu bringen, die Tür zu öffnen und nachzusehen.

Während sie über all das nachdachte, war sie blind und taub für ihre Umwelt. Jeder, der ihr etwas hätte antun wollen, hätte diesen Moment ausnutzen können, um sich ihr unbemerkt zu nähern.

Doch erst als sie die Berührung spürte, wurde sich Anja dieser Gefahr jäh bewusst. Sie sog die Luft ein und zuckte erschrocken zusammen. Doch da war es bereits zu spät, um zu reagieren und sich zu verteidigen.

8

Zum Glück war das aber auch gar nicht notwendig, denn es war wieder nur Yin, der ihr linkes Bein streifte, als er an ihr vorbeiging. Er schnüffelte an der Klarsichthülle mit dem Umschlag, verlor aber sofort wieder das Interesse, und sah nach draußen. Es nieselte zwar mittlerweile nur noch, doch der Kater machte dennoch keine Anstalten, das Haus zu verlassen. Vermutlich war es ihm immer noch zu nass. Er maunzte verärgert, drehte sich um und stolzierte davon, wobei er sich im Vorbeigehen erneut kurz an Anjas Bein rieb, bevor er schließlich im Wohnzimmer verschwand.

Anja, die ihm schweigend hinterhergeschaut hatte, richtete ihren Blick wieder auf den Umschlag. Allmählich spürte sie die Kühle der Nacht auf der bloßen Haut ihrer Beine und fröstelte. Außerdem wurde sie sich darüber bewusst, dass sie im Bademantel, barfuß und mit feuchten Haaren in der offenen Haustür stand. Sie bückte sich daher rasch und ergriff die Klarsichthülle mit den Spitzen ihrer Finger vorsichtig an einer Ecke. Für den Fall, dass Hülle und Umschlag Bestandteile einer offiziellen Ermittlung werden sollten, wollte sie keine Spuren verwischen und so wenige eigene Fingerabdrücke darauf hinterlassen wie möglich.

Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie, wie schon einmal an diesem Abend, das intensive Gefühl, jemand würde sie heimlich beobachten. Sie erschauderte und sah sich suchend um, konnte jedoch niemanden entdecken. Allerdings gab es in ihrem Blickfeld diverse Möglichkeiten, wo sich jemand vollständig vor ihren Blicken verbergen konnte.

Sie schloss daher rasch die Tür und schob für alle Fälle die Sicherheitskette in die Schiene. Dann ging sie, nachdem sie den Schirm an seinen Platz zurückgestellt hatte, mit der Klarsichthülle zwischen den spitzen Fingern in die Küche.

Als Erstes zog sie sich Einweghandschuhe an. Da sie diese stets dann benötigte, wenn sie das Haus oder die Wohnung einer vermissten Person durchsuchte, besaß sie einen Vorrat davon.

Sie holte ein Gemüsemesser aus der Besteckschublade und öffnete damit den Umschlag, sobald sie ihn aus der feuchten Hülle geholt hatte, die sie zum Trocknen auf ein Küchentuch neben der Spüle legte. Als sie einen ersten vorsichtigen Blick in das Kuvert warf, entdeckte sie darin ein einzelnes ungefaltetes DIN-A4-Blatt. Sie nahm das Papier heraus, legte den Umschlag auf den Tisch und sah sich dann an, worum es sich handelte.

Soweit sie sehen konnte, war es ein normales weißes Blatt Druckerpapier. Darauf war das Farbfoto einer Frau abgedruckt, die sich zu einer schwarzen Katze hinunterbeugte, um diese zu streicheln. Das Bild war allem Anschein nach heimlich nach Einbruch der Dunkelheit durch die geschlossene Terrassentür aufgenommen worden, denn die Frau und die Katze befanden sich im hellerleuchteten Wohnzimmer eines Hauses.

Anja musste unwillkürlich daran denken, wie sie vor dem Duschen versucht hatte, Yin zu trösten, als dieser im Wohnzimmer vor der Terrassentür gesessen und missmutig nach draußen in den Regen gestarrt hatte. Deshalb hätte sie die Aufnahme auch leicht für ein Foto von sich und Yin halten können. Allerdings hatte sie sich nicht zu ihm hinuntergebeugt, als sie ihn gestreichelt hatte, sondern war neben ihm in die Hocke gegangen. Und je länger sie das Foto betrachtete, desto mehr Unterschiede zwischen ihr und der abgebildeten Frau einerseits und dem Wohnzimmer auf dem Bild und ihrem eigenen andererseits fand sie.

Allerdings gab es auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Zum einen natürlich die schwarze Katze, die Yin sehr ähnlich sah, auch wenn sie etwas kleiner und zierlicher wirkte. Außerdem hatte die Frau auf dem Foto ebenfalls kurze blonde Haare, auch wenn ihr Haarschnitt ordentlicher wirkte als Anjas stets etwas zerzauste Frisur. Darüber hinaus waren die Haare der anderen Frau leicht gewellt, und ihr Pony war etwas länger.

Dennoch war die oberflächliche Ähnlichkeit der abgebildeten Person und ihres Haustiers zu Anja und Yin unheimlich und ließ sie frösteln. Vor allem, weil diese Ähnlichkeit nach Anjas Meinung nicht zufällig, sondern beabsichtigt zu sein schien.

Spielte etwa irgendjemand da draußen ein abartiges Spielchen mit ihr, indem er ihr dieses Foto geschickt hatte.

Falls ja, dann hatte Anja auch einen konkreten Verdacht, um wen es sich dabei handelte. Und zwar um denselben Mann, der ihren Vater und zahlreiche andere Menschen auf dem Gewissen hatte. Und bei dem es sich, wenn sie nicht komplett auf dem Holzweg war, um ihren Onkel handelte.

Erst als sie sich das Foto so genau angesehen hatte, als wollte sie sich jedes Detail einprägen, widmete sie sich den Dingen, die sich darüber hinaus auf dem Blatt befanden.

Über dem Foto stand in großen schwarzen Druckbuchstaben ein einzelnes Wort:

VERMISST!

Und unter der Aufnahme standen der Name CARINA ARENDT und eine Adresse.

Anja kannte die genannte Straße. Sie traf in weniger als dreihundert Metern Entfernung auf die Straße, in der sie wohnte, und grenzte ebenfalls an den Waldfriedhof. Die auf dem DIN-A4-Blatt abgedruckte Adresse konnte daher höchstens einen Kilometer und damit eine Viertelstunde entfernt sein, wenn man gemütlich zu Fuß ging. Mit dem Auto war man vermutlich sogar in zwei Minuten dort.

Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte.

Allerdings musste sie nicht lange darüber nachdenken. Auf keinen Fall wollte und konnte sie den Inhalt des Umschlags ignorieren. Er war gewiss nicht ohne Grund auf ihre Fußmatte gelegt worden. Und auch die Ähnlichkeit zwischen der Frau auf dem Foto und ihr dürfte alles andere als ein Zufall sein. Außerdem elektrisierte sie das Wort »VERMISST!«, denn immerhin gehörte es zu ihrem Aufgabenbereich als Kriminalbeamtin, vermisste Personen aufzuspüren.

Schon aus diesen Gründen musste sie der Sache auf den Grund gehen. Und da sie nicht wusste, ob es sich nicht doch nur um einen makabren Scherz handelte, würde sie trotz ihres Urlaubs erst einmal höchstpersönlich nach dem Rechten sehen, bevor sie die zuständigen Stellen darüber informierte.

9

Gerade einmal zwanzig Minuten später stand sie vor dem Haus, dessen Anschrift auf dem Papier stand.

Sobald sie sich spontan dazu entschlossen hatte, hierherzukommen und nachzusehen, hatte sie als Erstes ihre Cousine angerufen, um den Kinobesuch um ein paar Tage zu verschieben. Obwohl es extrem kurzfristig erfolgte, zeigte Tanja dennoch Verständnis. Anja brachte auch keine Ausrede vor, da sie ihre Cousine nicht belügen wollte, sondern legte ihr die wahren Umstände dar und erklärte, warum sie der Sache auf den Grund gehen musste. Tanja kannte ihre Cousine gut genug und wusste daher, dass sie diese nicht davon abbringen konnte, auch wenn es unter Umständen nicht ungefährlich war. Daher bat sie Anja lediglich, auf sich aufzupassen.

Nach dem Telefonat föhnte sich Anja die Haare, auch wenn diese ohnehin fast trocken waren und sich kaum noch in Form bringen ließen. Deshalb waren sie jetzt sogar noch zerzauster als sonst. Aber damit musste sie sich eben abfinden. Anschließend schlüpfte sie in ihre Joggingsachen und zog zum Schutz vor dem Regen, die Kapuze des Pullis über den Kopf. Sie verließ das Haus und rannte los, so als hätte sie vor, noch ein paar spätabendliche Runden zu joggen. Allerdings lief sie nicht wie gewohnt in Richtung Westpark, sondern in die andere Richtung.

Bereits wenige Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht.

Obwohl es inzwischen kaum noch regnete, nur vereinzelt fielen ein paar Tropfen, behielt Anja die Kapuze auf dem Kopf. Schließlich wusste sie nicht, was sie hier erwartete. Und falls jemand sie sah, würde die Kapuze es der Person erschweren, sie zu erkennen oder zu identifizieren.

Sie sah sich aufmerksam in alle Richtungen um, doch außer ihr war niemand unterwegs. Wie in der Straße, in der sie wohnte, gab es hier nur auf einer Seite bebaute Grundstücke, davor einen Bürgersteig und einen schmalen Grünstreifen, auf dem dünne Bäume und Laternenmasten standen. Mehrere Autos parkten auf dieser Seite am Straßenrand. Sowohl die Straße als auch der Bürgersteig waren menschenleer. Auf der anderen Seite der Straße befanden sich zugewachsene Schienen, die nicht mehr genutzt wurden. Dahinter kamen zunächst ein Grünstreifen, dann ein Fußweg mit Sitzbänken und schließlich ein Holzlattenzaun, hinter dem der Friedhof lag.

Anja fröstelte unwillkürlich, als sie an ihr Erlebnis mit dem Apokalypse-Killer auf dem nächtlichen Waldfriedhof dachte. Rasch verdrängte sie die Erinnerungen, die wie Gewitterwolken in ihrem Bewusstsein heraufgezogen waren, und konzentrierte sich wieder vollständig auf das Hier und Jetzt. Sie lauschte auf verdächtige Geräusche, konnte jedoch außer dem stetigen Tröpfeln von den Bäumen und dem Säuseln des leichten Windes nichts hören, das sie beunruhigte. Außerdem hatte sie auch nicht wieder das Gefühl, als ob jemand sie heimlich beobachten würde.

Sie beschloss, nicht darauf zu warten, bis sich das änderte und jemand kam, sondern endlich zu handeln. Deshalb öffnete sie das schmiedeeiserne Gartentürchen, das ein leises Quietschen hören ließ, und betrat das Grundstück. Dabei verhielt sie sich völlig natürlich und ungezwungen, als gäbe es trotz der fortgeschrittenen Stunde einen triftigen Grund für ihr Hiersein. Denn falls jemand zufällig aus einem Fenster der Nachbarhäuser sah, wollte sie aufgrund ihrer dunklen Kleidung keinen falschen Eindruck erwecken und nicht für einen Einbrecher gehalten werden. Als sie nur noch wenige Meter von der Haustür entfernt war, ging eine Lampe über der Tür an. In ihrem hellen Schein konnte Anja mühelos den Namen auf dem metallenen Türschild neben der Klingel lesen: C. Arendt.

Ihr Herz klopfte unwillkürlich schneller, als sie realisierte, dass sie hier richtig war. Zumindest der Name stimmte mit demjenigen aus dem geheimnisvollen Umschlag überein. Die Möglichkeit, dass jemand sie nur verarschen wollte, indem er willkürlich eine Adresse in der Nähe genommen und sich dazu einen Fantasienamen ausgedacht hatte, schied damit schon einmal aus.

Es gab also jemanden namens C. Arendt. Und diese Person wohnte auch in diesem Haus.

Doch wie verhielt es sich darüber hinaus mit dem Wahrheitsgehalt des Wortes VERMISST! über dem abgedruckten Foto?

Da sie es nur erfahren würde, wenn sie klingelte, drückte Anja kurzentschlossen auf den Klingelknopf. Von drinnen war die Türglocke zu hören, die eine kurze melodische Tonfolge spielte.

Sie wartete ungeduldig, knabberte dabei nervös an ihrer Unterlippe und sah sich um. Der Vorgarten machte einen gepflegten und ordentlichen Eindruck. Er ließ erkennen, dass hier jemand wohnte, der sich gewissenhaft und intensiv darum kümmerte und in der Auswahl und Anordnung der Pflanzen und Blumen auch noch einen guten Geschmack bewiesen hatte. Beinahe war Anja ein bisschen neidisch. Sie hatte heute ein paar anstrengende Stunden Gartenarbeit hinter sich gebracht, doch deshalb sah ihr Grundstück noch lange nicht aus wie dieses hier. Und vermutlich würde es das auch nie tun, denn dazu fehlte ihr sowohl die Freude an der Gartenarbeit als auch das richtige Händchen dafür.

Leise seufzend wandte sie sich wieder der Haustür zu. Nach dem Verstummen der Türglocke war es innerhalb des Hauses wieder absolut still geworden. Nichts rührte sich und deutete darauf hin, dass jemand zu Hause war und auf ihr Klingeln reagiert hatte.

Totenstille?

Anja ignorierte den irritierenden Gedanken. Obwohl sie insgeheim nicht mehr damit rechnete, dass ihr jemand öffnete, klingelte sie ein zweites Mal und übte sich weitere sechzig Sekunden, die ihr viel länger vorkamen, während sie sie in Gedanken abzählte, in Geduld.

Niemand zu Hause!, konstatierte sie schließlich das Offensichtliche, um sofort einschränkend hinzuzufügen: Zumindest niemand, der in der Lage wäre, zur Tür zu kommen, um sie zu öffnen.

Im Grunde hatte der Umstand, dass niemand auf ihr Klingeln reagiert hatte, aber noch nichts zu bedeuten. Möglicherweise war C. Arendt momentan im Urlaub. Oder sie hatte dieselbe Idee wie Anja und ihre Cousine gehabt und war an diesem Abend ins Kino gegangen.

Dennoch musste Anja natürlich ständig an das Wort denken, das in Großbuchstaben über dem Foto der Frau mit der schwarzen Katze stand: VERMISST!

Und je mehr Anja der Sache auf den Grund ging, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau mit dem Namen Carina Arendt tatsächlich verschwunden war.

Zum wiederholten Mal an diesem Abend hatte Anja das unangenehme Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Sie sah sich aufmerksam um, konnte aber noch immer niemanden entdecken. Dennoch blieb das Gefühl hartnäckig bestehen und ließ sich auch nicht abschütteln.

Anja ignorierte es daher, so gut es ihr möglich war, auch wenn das nicht leicht war und sie in ihrer Konzentration gestört wurde. Um keine Spuren zu hinterlassen, drückte sie mit dem Ellbogen probehalber gegen die Haustür, doch diese war fest verschlossen.

Was nun?

Es widerstrebte ihr, unverrichteter Dinge wieder gehen zu müssen. Deshalb beschloss sie, das Haus einmal zu umrunden und dabei durch jedes Fenster zu spähen. Vielleicht entdeckte sie dabei etwas, das es rechtfertigte, in das Haus einzudringen, weil Gefahr in Verzug war.

An jedem Fenster, zu dem sie kam, blieb sie kurz stehen. Mithilfe der Taschenlampenfunktion ihres Handys sah sie ins Innere des Hauses, konnte jedoch nichts entdecken, das ihr verdächtig vorkam. Auch wenn das Haus scheinbar verlassen war, schien darin alles so zu sein, wie es sein sollte. So gab es beispielsweise nicht die geringste Unordnung, geschweige denn umgeworfene Möbelstücke, was auf eine Auseinandersetzung hätte schließen lassen.

Sobald Anja um die zweite Ecke bog und die Rückseite des Hauses erreichte, sah sie jedoch einen hellen Lichtschein, der durch die Terrassentür und das Fenster daneben nach draußen fiel. Es sah genauso aus wie auf dem ausgedruckten Foto, das sie bekommen hatte. Die einzigen Unterschiede bestanden darin, dass in dem Bild, das sie jetzt vor Augen hatte, sowohl die Frau als auch die Katze fehlte.

Der Anblick sorgte dafür, dass Anja von einer düsteren Vorahnung erfüllt wurde. Ihr Herz klopfte daraufhin unwillkürlich noch heftiger.

Unmittelbar vor der Terrassentür blieb sie stehen. Durch die Scheibe sah sie ins erleuchtete Innere und versuchte dabei, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Es war allerdings keine Menschenseele zu sehen; und auch von der Katze fehlte jede Spur.

Anja holte die Einweghandschuhe, die sie vorher benutzt hatte, um das DIN-A4-Blatt aus dem Umschlag zu holen, aus der Tasche des Kapuzenpullis und streifte sie über. Anschließend hob sie die rechte Hand und drückte mit den Fingern gegen den hölzernen Rand der Glastür. Sie rechnete mit Widerstand, weil sie glaubte, diese Tür wäre ebenfalls verschlossen. Doch die Terrassentür gab sofort nach und schwang geräuschlos nach innen.

Erschrocken zuckte Anjas Hand zurück.

Ihre düstere Vorahnung, die bislang allenfalls ein vages Gefühl drohenden Unheils gewesen war, verfestigte sich zu einer handfesten Befürchtung. Ein verlassenes Haus für sich allein genommen war noch nichts, wegen dem man sich übermäßige Sorgen machen musste. Ihr fielen auf die Schnelle ein Dutzend harmlose Erklärungen dafür ein. Aber ein verlassenes Haus, in dem Licht brannte und darüber hinaus die Terrassentür offen war, war etwas anderes.

Anja wandte sich ab und sah sich aufmerksam um. Der Lichtschein aus dem Wohnzimmer reichte nur wenige Meter weit. Dahinter herrschte nahezu undurchdringliche Finsternis. Darüber hinaus boten mehrere Büsche am hinteren Ende des Grundstücks, unmittelbar vor dem Grenzzaun zum Nachbarn, zusätzliche Deckung.

Irgendwo dort hinten musste sich jemand zwischen den Büschen verborgen gehalten haben, um die Bewohnerin des Hauses heimlich zu beobachten und das Foto von ihr und ihrer Katze zu machen.

Seit Anja die Rückseite des Grundstücks erreicht hatte, fühlte sie sich nicht länger beobachtet. Aus diesem Grund war sie auch davon überzeugt, dass momentan niemand hinter den Büschen oder in der Finsternis jenseits des erleuchteten Bereichs lauerte.

Beruhigt wandte sie sich wieder der Terrassentür zu, die einen Spaltbreit offenstand.

Anja überlegte fieberhaft, was sie jetzt tun sollte. Sie hatte nach einem Vorwand gesucht, das Haus betreten zu können. Nur deshalb war sie nicht unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekehrt, nachdem niemand auf ihr Klingeln reagiert hatte, sondern stattdessen um das Haus herumgegangen und hatte dabei durch jedes Fenster geblickt. Doch jetzt, wo sie einen triftigen Grund und die Möglichkeit dazu hatte, hineinzugelangen, ohne eine Tür aufbrechen oder ein Fenster einschlagen zu müssen, schreckte sie dennoch davor zurück.

Was wenn die Frau tot war und sie im Haus ihre Leiche fand? Sie erschauderte bereits bei dem Gedanken daran, denn sobald sie sich einem Leichnam auch nur näherte, bekam Anja Herzrasen, Atemnot, Schwindelgefühle und heftige Schweißausbrüche. Sie machte daher nach Möglichkeit einen großen Bogen um jede Leiche. Außer natürlich, es ließ sich partout nicht vermeiden, weil ihr Job es von ihr verlangte oder sie, wie es in der Vergangenheit leider viel zu oft der Fall gewesen war, zufällig darüber stolperte.

Sie dachte daher für einen Augenblick ernsthaft darüber nach, eine Funkstreife zu Hilfe zu rufen, damit die uniformierten Kollegen an ihrer Stelle das Haus durchsuchten. Schließlich war sie für diesen Fall – sofern es überhaupt ein Fall war – gar nicht zuständig, momentan nicht einmal im Dienst und hatte außerdem Urlaub.

Allerdings wollte sie hinterher auch nicht wie eine Idiotin dastehen, wenn es für all das hier eine harmlose Erklärung gab. Denn natürlich bestand noch immer die Möglichkeit, dass die Bewohnerin das Haus verlassen und einfach nur vergessen hatte, das Licht im Wohnzimmer auszuschalten und die Terrassentür zu verschließen. Vielleicht nahm sie auch gerade ein Bad und hatte deshalb nicht an die Tür kommen können. Oder sie schlief tief und fest, sodass sie nichts gehört hatte.

Deshalb widerstrebte es Anja, die Sache an die große Glocke zu hängen. Vielleicht war das alles letzten Endes doch nur ein makabrer Scherz. Aus diesem Grund wollte sie zunächst selbst nach dem Rechten sehen. Sollte sich ihre düstere Vorahnung erfüllen und es sich hier tatsächlich um einen Vermisstenfall oder unter Umständen sogar um einen Mordfall handeln, konnte sie die Kollegen immer noch informieren. Und falls sie bei der Durchsuchung des Hauses auf die Leiche der Bewohnerin stieß, war sie schließlich nicht gezwungen, sich ihr mehr als unbedingt notwendig zu nähern.

Außerdem, das spürte Anja in diesem Moment deutlich, musste sie das Haus unbedingt betreten, egal, ob sich darin eine Leiche befand oder nicht. Und es war letzten Endes auch gleichgültig, ob jemand ein perfides Spielchen mit ihr trieb, indem er sie mithilfe der Nachricht vor ihrer Tür manipuliert und hierhergelockt hatte, oder die Sache nur ein makabrer Scherz war. Sie musste sich selbst davon überzeugen und mit eigenen Augen sehen, was hier vor sich ging. Schließlich war der Umschlag, der sie hierher geführt hatte, vor ihrer Haustür abgelegt worden. Außerdem gab es unzweifelhaft Gemeinsamkeiten zwischen ihr und der Frau auf dem Foto, und das konnte kein bloßer Zufall sein. Schon aus diesem Grund nahm sie die Sache persönlich. Im Übrigen war sie es der Bewohnerin des Hauses schuldig, dass sie der Geschichte auf den Grund ging und selbst nach dem Rechten sah.

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