Kitabı oku: «DER REGENMANN», sayfa 4
Anja wurde noch immer von widerstreitenden Gefühlen erfüllt. Dabei beschlich sie vor allem die Angst, bei der Durchsuchung des Hauses über die Leiche der Bewohnerin zu stolpern. Allerdings hatte sie nicht vor, sich vor dieser Angst beherrschen zu lassen, sondern würde sich ihr stellen.
Nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte und rasch zu einer Entscheidung gelangt war, atmete Anja tief durch.
Wenn sie wissen wollte, was hinter der mysteriösen Nachricht steckte, die sie erhalten hatte, und warum das Haus scheinbar verlassen war, obwohl Licht brannte – und das wollte sie unbedingt! –, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als das Haus zu betreten.
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Anja griff erneut in die Tasche ihres Kapuzenpullis und holte zwei Überschuhe aus Polypropylen heraus, die sie nacheinander über ihre Schuhe streifte. Ihr Eindringen in das scheinbar verlassene Haus war bereits grenzwertig, da wollte sie nicht auch noch die Arbeit der Kriminaltechnik sabotieren, falls an diesem Ort eine Straftat begangen worden war.
Sie schob die Terrassentür weit genug auf, sodass sie bequem durch die Öffnung schlüpfen konnte, und betrat dann das stille Haus.
Schon von draußen hatte sie kleine Pfützen schmutzigen Wassers auf dem Parkettboden entdeckt, die in einer direkten Linie von der Terrassentür zur Zimmertür führten. Scheinbar hatte vor ihr jemand anderes, vermutlich während des Regens, mit nassen Schuhen und feuchter Kleidung, von der das Regenwasser tropfte, das Haus durch die Terrassentür betreten und dabei diese Spuren hinterlassen. Sie bemühte sich, nicht hineinzutreten, und hielt sich links davon. Als sie die Terrassentür schließen wollte, stellte sie fest, dass das nicht möglich war. Sie warf daraufhin einen genaueren Blick auf den Schließmechanismus und sah, dass die Tür aufgehebelt und die Verriegelung zerstört worden waren.
Allmählich verdichteten sich die Hinweise, dass an diesem Ort etwas nicht in Ordnung war. Doch da Anja jetzt im Haus war, wollte sie sich wenigstens kurz umsehen, bevor sie die zuständigen Kollegen informierte.
Sie ging neben den nassen Fußspuren in die Hocke und nahm sie genauer in Augenschein. In der Nähe der Tür waren die Wasserpfützen noch am größten und deutlichsten, wurden dann aber stetig kleiner, je weiter sie sich davon entfernten. Teilweise waren sie auch bereits getrocknet und hatten nur eine braune Schmutzschicht auf dem Parkett hinterlassen. Hier und da war sogar das Profil eines Stiefels erkennbar. Wer immer vor ihr auf diesem Weg ins Haus gekommen war, hatte sich nicht die geringste Mühe gemacht, die Spuren seines Eindringens zu verwischen. Zum Vergleich stellte Anja ihren rechten Fuß direkt neben einen besonders deutlich erkennbaren Abdruck und stellte fest, dass der Stiefel, der diese Spur hinterlassen hatte, ein paar Nummern größer als ihr Turnschuh gewesen sein musste.
Schließlich richtete sie sich wieder auf und sah sich im Wohnzimmer um, das mit hochwertigem Mobiliar geschmackvoll eingerichtet war. Es war sauber und aufgeräumt. Nirgends herrschte die geringste Unordnung, und alles war scheinbar an seinem Platz.
Es gehörte zu Anjas täglicher Routine, die Wohnungen und Häuser vermisster Personen zu durchsuchen. Deshalb hatte sie im Laufe der Zeit auch ein Gespür dafür entwickelt. Hier deutete ihrer Meinung nach nichts darauf hin, dass die Bewohnerin vorhatte, für längere Zeit wegzugehen. Wenn, dann hatte sie das Haus nur für kurze Zeit verlassen und vorgehabt, bald wieder zurückzukommen.
Falls sie das Haus überhaupt verlassen hat!
Anja rief sich in Erinnerung, dass dies hier – noch? – kein Vermisstenfall war. Aus diesem Grund war sie auch nicht als Ermittlerin der Vermisstenstelle in offiziellem Auftrag hier. Sie war nur hier, um sich einen raschen Überblick über die Situation zu verschaffen und dann die zuständigen Stellen einzuschalten, sollte das notwendig sein. Daher konnte sie sich auch nicht so viel Zeit lassen wie gewöhnlich, wenn sie die Wohnungen vermisster Personen durchsuchte, sondern wollte endlich einen Zahn zulegen.
Als sie das Wohnzimmer durchquerte und sich dabei weiterhin neben den nassen Fußspuren hielt, entdeckte sie an der Wand mehrere gerahmte Fotografien. Interessiert ging sie hin und sah sich die Aufnahmen aus der Nähe an. Auf fast allen war die Frau zu sehen, die sich auch auf dem ausgedruckten Foto befand, das Anja bekommen hatte.
Carina Arendt, rief sie sich den Namen in Erinnerung.
Diese letzte Bestätigung hätte sie nicht mehr gebraucht. Dennoch hatte Anja damit einen weiteren Beweis, dass die Frau aus der geheimnisvollen Vermisstenmeldung, die sie auf ihrer Fußmatte gefunden hatte, tatsächlich die Bewohnerin dieses scheinbar verlassenen Hauses war.
Auf den Fotografien an der Wand war die Frau teilweise deutlich jünger als auf dem, das Anja zugespielt worden war. Teilweise hatte sie darauf auch längere Haare oder eine andere Frisur. Auf mehreren Aufnahmen war auch ein dunkelhaariger Mann zu sehen, zu dem die Frau eine innige Beziehung zu haben schien, denn sie hielten sich im Arm oder schmiegten sich aneinander. Entweder handelte es sich um den Ehemann, den Lebenspartner oder einen Bruder der Frau. Auch die schwarze Katze war auf zwei Fotos verewigt worden.
Neben den Fotografien hingen zwei gerahmte Urkunden. Bei einer handelte es sich um eine Diplomurkunde der Fachhochschule München, in der Frau Carina Arendt aufgrund der im Studiengang Architektur erfolgreich abgelegten Abschlussprüfung der akademische Grad »Diplom-Ingenieur (FH)« verliehen wurde. Laut der anderen Urkunde war Frau Dipl.-Ing. (FH) Carina Arendt als ordentliches Mitglied in den Verband deutscher Architekten (VDA) aufgenommen worden. Als sich Anja die Geburtsdaten auf den beiden Dokumenten ansah, wurde ihr klar, dass sich die Ähnlichkeit zwischen ihr selbst und Carina Arendt nicht auf das Geburtsdatum erstreckte, denn die andere Frau war mehr als zehn Jahre älter als sie.
Schließlich wandte Anja sich ab und ging, eingedenk ihres Vorhabens, sich zu beeilen, rasch zur Tür. Sie war geschlossen. Aus diesem Grund hatte Anja, als sie durch die anderen Fenster hereingeschaut hatte, auch nicht sehen können, dass im Wohnzimmer Licht brannte.
Sie öffnete die Tür, trat jedoch nicht sofort hindurch, sondern horchte erst einmal, ob sie aus den anderen Teilen des Hauses etwas hörte. Doch es blieb weiterhin gespenstisch still.
Totenstill?
Anja ignorierte ihre innere Stimme erneut, denn ein solcher Gedanke war in einer derartigen Situation alles andere als hilfreich.
Da sie nicht im Dunkeln herumstolpern wollte und außerdem darauf achten musste, keine Fußspuren zu verwischen, griff sie durch den Türrahmen nach draußen und tastete an der Wand nach dem Lichtschalter.
Ihr kam der erschreckende Gedanke, dass urplötzlich etwas nach ihrer Hand greifen und sie nach draußen zerren könnte. Unter Umständen sogar derjenige, der die nassen Spuren auf dem Parkett hinterlassen hatte, schließlich hatte sie keine Gewissheit, ob er das Haus schon wieder verlassen hatte oder noch immer hier war.
Anja spürte, wie es ihr bei diesen Überlegungen eiskalt den Rücken hinunterlief und sich ihre Nackenhärchen aufstellten. Sie fragte sich unwillkürlich, warum sie völlig unbewaffnet hierhergekommen war. Ihre Dienstpistole befand sich in der verschlossenen Schreibtischschublade ihrer Dienststelle, und ansonsten besaß sie keine Schusswaffe. Allerdings hätte sie sich in diesem Augenblick auch mit einem Küchenmesser, einem kleinen improvisierten Knüppel oder sogar ihrem Regenschirm mit der Metallspitze zufriedengegeben.
Dann ertasteten ihre Finger endlich den Lichtschalter und betätigten ihn, worauf im dunklen Flur augenblicklich das Licht anging.
Anja zog die Hand zurück und sah sich um. Der Hausflur lag, soweit sie ihn überblicken konnte, genauso verlassen vor ihr wie das Wohnzimmer. Sie stieg mit einem großen Schritt über die Fußspuren und Wasserlachen hinweg, die direkt zur Treppe nach oben führten.
Sie überlegte, ob sie weiterhin den Spuren folgen oder sich erst einmal in den anderen Räumen des Erdgeschosses umsehen sollte. Allerdings sah sie keinen Sinn darin, das Haus systematisch abzusuchen und damit Zeit zu vergeuden. Wenn sie den Wasserpfützen auf dem Boden folgte, würden diese sie vermutlich ohne Umwege an ihr Ziel führen. Und am Ende der Spuren müsste sie unweigerlich das finden, wonach sie suchte.
Anja erschauderte.
Erneut kam ihr der erschreckende Gedanke, dass die Person mit den nassen Schuhen noch immer im Haus sein könnte. Und sie war leichtsinnigerweise völlig unbewaffnet hierhergekommen. Sie dachte darüber nach, ob sie erst noch einen Abstecher in die Küche machen und sich dort ein scharfes Messer schnappen sollte. Dann wäre sie wenigstens nicht völlig wehrlos und würde sich nicht so ausgeliefert fühlen.
Doch damit würde sie unter Umständen einen Tatort verändern, was eine Todsünde für jeden Polizisten war. Und falls hier eine Straftat verübt worden war, dann hatte sie als erste Polizeibeamtin vor Ort die Pflicht, Maßnahmen zur Tatortsicherung einzuleiten, die verhinderten, dass der Tatort verändert wurde. Doch darum konnte sie sich später kümmern. Erst musste sie abklären, ob es sich hier überhaupt um einen Tatort handelte. Anschließend konnte sie immer noch die zuständigen Kollegen informieren und notwendige Sicherungsmaßnahmen durchführen.
Aufgrund dieser Überlegungen verzichtete Anja darauf, sich zu bewaffnen, und folgte stattdessen den nassen Spuren zur Treppe. Nachdem sie im Treppenaufgang ebenfalls Licht gemacht hatte, warf sie einen vorsichtigen Blick nach oben; es war jedoch niemand zu sehen. Sie versuchte, wie sie es oft tat, ein Gespür für die Atmosphäre des Hauses zu entwickeln. Oftmals konnte sie spüren, ob eine Wohnung oder ein Haus verlassen war oder ob sich außer ihr noch jemand darin aufhielt. Es hätte sie beruhigt, wenn ihr das hier und jetzt ebenfalls gelungen wäre und sie gewusst hätte, dass sie allein im Haus war. Doch leider gelang es ihr nicht, sich in die Atmosphäre des Hauses einzufühlen. Sie zuckte mit den Schultern. Dann musste sie sich wohl oder übel überraschen lassen.
Als sie die Stufen nach oben stieg, hielt sie den Blick auf die Spuren gerichtet und bewegte sich am äußersten rechten Rand. Die Schuhüberzieher knisterten leise, und ihr eigener Herzschlag dröhnte ihr überlaut in den Ohren. Doch ansonsten war es im ganzen Haus mucksmäuschenstill.
Nachdem sie im Obergeschoss angekommen war, hielt sie erst einmal inne. Sie schaltete das Licht an und sah sich um. Sämtliche Türen waren geschlossen. Dunkle Flecken auf dem Teppichboden führten von der Treppe zu einer der Türen.
Anjas Erregung wuchs, denn sobald sie diese Tür öffnete, würde sie hoffentlich endlich erfahren, was hier los war. Ihr Herz klopfte schneller. Gleichzeitig begann sie zu schwitzen. Ihre größte Befürchtung bestand darin, hinter der Tür die Leiche der Bewohnerin zu finden. Deshalb versuchte sie, sich auf diesen Anblick vorzubereiten und dagegen zu wappnen. Sie wusste allerdings mit absoluter Sicherheit, dass der Fund eines Leichnams sie dennoch schockieren würde, gleichgültig, ob sie sich innerlich darauf vorbereitete oder nicht.
Nachdem sie noch einmal tief eingeatmet und die Luft wieder ausgestoßen hatte, marschierte sie neben den Feuchtigkeitsflecken durch den Flur. Unmittelbar vor der Tür, die ihr Ziel war, befand sich ein besonders großflächiger dunkler Fleck auf dem Teppich, als hätte die Person, die dafür verantwortlich war, hier eine Weile gestanden und gewartet.
Worauf?
Anja konnte sich eine Reihe von Antworten auf diese Frage vorstellen. Allerdings würde sie die Wahrheit vermutlich nie erfahren. Von daher war es müßig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, sodass sie es bleiben ließ.
Sie horchte aufmerksam, doch hinter der Tür war alles still.
Totenstill!
Anja schüttelte den Kopf. Der Gedanke, der sich mit einer Hartnäckigkeit in ihrem Bewusstsein festgesetzt hatte, als wollte er dort auf Dauer einziehen, war in diesem Augenblick absolut nicht hilfreich. Er ließ in ihrem Verstand eine Serie von Bildern der Frau von den Fotos entstehen. Auf jeder einzelnen dieser Momentaufnahmen war sie nicht mehr am Leben, und jede zeigte sie als Opfer einer anderen Todesart, jede furchtbarer als die vorherige.
Sie verdrängte die unerwünschten Überlegungen, die sie dazu veranlassten, unschlüssig an Ort und Stelle zu verharren, und sie letztendlich davon abhielten, endlich die Tür zu öffnen.
Anja gab sich daher innerlich einen Ruck und legte ihre Hand auf die Türklinke.
Die an sich alltägliche Bewegung erinnerte sie an andere Gelegenheiten, bei denen sie bestimmte Türen geöffnet hatte. Und es erinnerte sie vor allem daran, was sie jedes Mal dahinter entdeckt hatte.
An die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters in ihrem ehemaligen Elternhaus, hinter der sie seine erhängte Leiche gefunden hatte.
An die Tür zum Arbeitszimmer ihres Mannes Fabian, hinter der sie auch ihn erhängt aufgefunden hatte.
An die Schlafzimmertür ihres Ex-Freundes Konstantin Steinhauser, hinter der sie ihn in flagranti mit einer anderen Frau erwischt hatte.
An die Küchentür in einem alten, heruntergekommenen Bauernhof, hinter der sie ihren Stiefbruder Sebastian gefesselt auf einem Stuhl entdeckt hatte.
Erneut an die Tür zum ehemaligen Arbeitszimmer ihres Vaters, hinter der sie auf ihre Cousine Judith gestoßen war, die sich in der Gewalt ihres Bruders befunden hatte, bei dem es sich um einen Serienkiller gehandelt hatte.
Es gab noch zahlreiche andere Türen und Ereignisse, doch die Eindrücke wechselten sich immer rascher ab, sodass Anja komplett den Überblick verlor und nicht mehr mitkam.
Also drückte sie rasch die Klinke nach unten, wodurch die Erinnerungsflut abrupt gestoppt wurde. Dann schob sie entschlossen die Tür auf und betrat den dahinterliegenden Raum.
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Es handelte sich, wie Anja im Lichtschein, der vom Flur hereinfiel, rasch feststellte, um ein Badezimmer.
Sie griff nach dem Schalter und machte Licht. Dann stieß sie vor Erleichterung die angehaltene Luft aus, denn nirgends war eine Leiche zu sehen.
Obwohl sich ihre düstere Vorahnung somit nicht erfüllt hatte, worüber sie froh und zutiefst dankbar war, sah sich Anja dennoch gewissenhaft um. Schließlich war das Badezimmer offensichtlich das Ziel der Person gewesen, die die Spuren im Haus hinterlassen hatte. Es gab jedoch im ganzen Raum keinen einzigen Ort, der groß genug war, um eine Leiche zu verstecken.
Sowohl die Duschkabine als auch die Wanne waren leer und ebenso makellos sauber wie der Rest des Badezimmers. Und der Behälter für Schmutzwäsche in einer Ecke sowie der schmale Badezimmerschrank waren beide zu klein, um einen menschlichen Körper vollständig und in einem Stück aufzunehmen. Gleichwohl öffnete Anja sie und warf der Vollständigkeit halber einen kurzen Blick hinein, der ihre Schlussfolgerungen bestätigte.
Keine Leiche!
Anja hätte sich jetzt schulterzuckend abwenden und das Badezimmer verlassen können, um den Rest des Hauses zu durchsuchen; aber das tat sie nicht, denn irgendetwas in diesem Raum irritierte sie. Sie wusste allerdings nicht, was es war, das sie dermaßen beunruhigte, dass sie blieb.
Als sie sämtliche Sinneswahrnehmungen, die sie empfing, daraufhin einer genaueren Überprüfung unterzog, fiel ihr auf, dass es hier drin so warm und feucht war, als hätte erst vor Kurzem jemand ein Bad oder eine Dusche genommen. Außerdem roch es intensiv, allerdings nicht nach Shampoo, Duschgel oder Parfüm, sondern nach irgendeinem Putzmittel.
Bei diesem Gedanken fiel ihr erneut die makellose Sauberkeit auf. Sogar die Bodenfliesen sahen aus, als wären sie frisch gewischt worden. Außerdem fehlten hier drin eindeutig die nassen Fußspuren, die Anja erst hierher geführt hatten. Es sah aus, als hätte die Person, die die Feuchtigkeitsspuren im Haus hinterlassen hatte, das Badezimmer gar nicht betreten. Doch das erschien ihr unwahrscheinlich und unlogisch.
Als Anja nachdenklich den Fußboden betrachtete, fiel ihr zudem auf, dass ein flauschiger Badezimmerteppich fehlte. Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass es keinen gab, doch in der Mehrzahl der Badezimmer, die Anja bislang betreten hatte – und aufgrund ihres Jobs waren das einige –, war einer vorhanden gewesen. Deshalb kam ihr das Fehlen im Zusammenhang mit den anderen Dingen, die ihr aufgefallen waren, zumindest bemerkenswert vor.
Sie ging zum Waschbecken, das so blitzblank wie alles andere in diesem Raum aussah, und betrachtete die Gegenstände auf der Ablage unterhalb des Spiegels, die wie Soldaten ordentlich in Reih und Glied nebeneinanderstanden. Kopfschüttelnd warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel und betrachtete sich selbst. In ihrer dunklen Kleidung und mit der Kapuze über dem Kopf wirkte sie wie ein Fremdkörper in diesem Bad, das eher aussah, als gehörte es zu einem Hotelzimmer der gehobenen Klasse und wäre bereit für den nächsten Gast.
Doch dann bemerkte sie aus den Augenwinkeln doch noch einen Makel, der sie trotz seiner geringen Größe irritierte. Als sie ihren Blick darauf konzentrierte und unwillkürlich näher heranging, entdeckte sie in der linken oberen Ecke der rechteckigen Spiegelfläche einen länglichen ovalen, an den Rädern ausgefransten roten Fleck, der nur wenige Millimeter groß war. Anja hatte genügend Blutspritzer gesehen, um sofort zu erkennen, dass es sich auch hier um einen solchen handelte. Außerdem entdeckte sie in seiner unmittelbaren Nachbarschaft sogleich zwei weitere Exemplare, die dieselbe Form und Größe aufwiesen.
Sie suchte nach weiteren Flecken, konnte jedoch keine entdecken. Im Gegenteil: Ansonsten sah alles so aus, als wäre es gründlich gesäubert worden. Bis auf diese drei kleinen Spritzer, die man leicht übersehen konnte.
Endlich wusste sie, was sie die ganze Zeit über an diesem Ort irritiert hatte. Es war diese geradezu hygienische, steril wirkende Sauberkeit hier drin, obwohl vor Kurzem jemand geduscht oder gebadet zu haben schien.
Doch zusammen mit den drei kleinen Blutspritzern ergab die makellose Sauberkeit plötzlich ein anderes Bild. Das Badezimmer war offenbar erst kürzlich gründlich gereinigt worden. Und wie es schien, war es dabei offensichtlich darum gegangen, Blutspuren zu beseitigen.
Wie magnetisch angezogen fiel Anjas Blick wieder auf die drei Blutflecken, die dem Putzlappen entgangen waren. Sie betrachtete sich die länglichen ovoiden Spitzer, die parallel zueinander von rechts unten nach links oben verliefen. Sie waren an ihrem unteren Ende halbrund und verfügten an ihrem anderen Ende über sogenannte bärentatzenartige Ausziehungen. Anja wusste, dass mithilfe von Blutspuren der Hergang einer Tat rekonstruiert werden konnte. So konnten Blutspurenanalytiker beispielsweise anhand der Form und der Größe eines Blutspritzers dessen Einschlagwinkel berechnen und die Flugbahn bestimmen. Hatten die Analytiker genügend Spritzer vorliegen, konnten sie mithilfe der Flugbahnen sogar den gemeinsamen Ursprungsort des Blutes und damit den Standort des Opfers herausfinden. Allerdings bezweifelte Anja, dass die übrig gebliebenen drei Spritzer dafür ausreichten. Allerdings waren die Experten der Kriminaltechnik oftmals sogar in der Lage, weggewischte, für das bloße Auge unsichtbare, sogenannte latente Blutspuren wieder sichtbar zu machen.
Als Anja schließlich den Blick von den Blutspritzern abwandte, fiel ihr im Spiegel zum ersten Mal ein roséfarbener Bademantel auf, der an der Wand hinter ihr an einem Haken hing und ein merkwürdiges Muster aus dunkelroten Flecken aufwies. Aber rasch wurde Anja klar, dass es sich dabei gar nicht um ein Muster, sondern um weitere Blutflecken handelte.
Sie wandte sich um und ging hinüber, um sich den Bademantel aus der Nähe anzusehen. Allerdings nahm sie ihn dazu nicht vom Haken, sondern ließ ihn hängen. Stattdessen bückte sie sich, ergriff die beiden Enden des Saums und zog das Kleidungsstück vorsichtig auseinander. Als sie den Stoff ausgebreitet vor sich hatte, sah sie, dass er vor allem in dem Bereich, der sich im angezogenen Zustand an der Vorderseite des Körpers befand, großflächige rote Flecken aufwies. Der flauschige Frotteestoff hatte die Flüssigkeit gierig aufgesaugt. Die kleineren Flecken waren bereits getrocknet, doch die größeren glänzten im Zentrum noch immer feucht. Als Anja an einer Stelle roch, stieg ihr der unverkennbare Geruch in die Nase. Es handelte sich um Blut. Allerdings überraschte sie das nicht, denn sie konnte sich schwerlich einen Grund vorstellen, warum jemand rote Farbe oder Tomatensaft über seinen Bademantel schütten sollte. Und obwohl Anja insgeheim keine Zweifel daran hatte, stellte sich natürlich die naheliegende Frage, ob es sich überhaupt um menschliches Blut handelte. Aber das würden die Kriminaltechniker mit einem Schnelltest herausfinden.
Darüber hinaus wies der Stoff zwei ausgefranste Löcher auf, wo vom Hersteller keine vorgesehen waren. Beide Risse befanden sich jeweils im Zentrum eines großflächigen Blutflecks, der erste in Bauchhöhe, der zweite im Brustbereich. Auch ohne genauere Untersuchung kam Anja zu dem Ergebnis, dass an diesen Stellen ein Messer den Stoff durchbohrt haben musste.
Anja ließ den Bademantel los und richtete sich wieder auf.
Die nassen Fußabdrücke, denen sie von der offenen Terrassentür bis hierher gefolgt war, die Blutflecken auf dem Bademantel und schließlich die beiden Risse im Stoff verschafften ihr einen ersten Eindruck von dem, was in diesem Haus geschehen sein musste. Jemand war während des Regens ins Haus eingedrungen, hatte die Bewohnerin im Bad überrascht, nachdem diese geduscht oder ein Bad genommen hatte, und mindestens zweimal, wenn nicht noch öfter auf sie eingestochen. Und aufgrund der Zahl und Größe der Blutflecken auf dem Bademantel hegte Anja ernsthafte Zweifel, ob das Opfer diesen Angriff überlebt hatte.
Aber wo steckt dann ihre Leiche?
Anja sah sich erneut um, entdeckte jedoch keine weiteren Spuren der Bluttat, die an diesem Ort stattgefunden haben musste. Der Täter hatte nicht nur den Leichnam von hier weggebracht, sondern auch nahezu sämtliche Spuren seines Verbrechens beseitigt. Bis auf die drei kleinen Blutspritzer am Spiegel; die hatte er übersehen.
Aber wenn er sich schon so bemüht hat, alle Spuren restlos zu beseitigen, warum hat er dann den verräterischen Bademantel an den Haken gehängt und zurückgelassen?
Dieses Detail ergab für Anja absolut keinen Sinn. Während sie darüber nachgrübelte, war ihr Blick auf das Corpus Delicti gerichtet; sie nahm es allerdings überhaupt nicht wahr.
Warum hat er den blutigen Bademantel dagelassen?
Nach kurzem Nachdenken gab es für Anja nur eine logische Antwort auf diese Frage. Jemand hatte den Bademantel absichtlich für sie zurückgelassen. Und zwar dieselbe Person, die sie mithilfe der Mitteilung auf ihrer Fußmatte erst hierher gelockt hatte. Der Bademantel stellte insofern nur eine weitere Nachricht an sie dar. Er war trotz der Beseitigung aller anderen Spuren für sie zurückgelassen worden, damit sie auf jeden Fall erkannte, dass hier ein Messerangriff, höchstwahrscheinlich sogar ein Mord stattgefunden hatte.
Für Anja stank diese Geschichte, angefangen bei dem Umschlag vor ihrer Tür bis zu diesem widersprüchlichen Tatort, nach ihrem alten Widersacher, dem Mörder ihres Vaters und ihres Ehemannes. Ganz ähnlich war er bereits in den anderen Fällen vorgegangen, als sie es mit ihm zu tun bekommen hatte.
Allerdings hatte sich die Person, die sich zeitweise auch Jack nannte, in jüngster Vergangenheit vorwiegend anderer Psychopathen bedient, die für ihn die Drecksarbeit erledigten. Währenddessen war er im Hintergrund geblieben und hatte die Fäden gezogen. Es erschien Anja daher eher unwahrscheinlich, dass der Widersacher die blutige Tat, die hier allem Anschein nach stattgefunden hatte, auch eigenhändig begangen hatte.
Aber warum hatte er ihr überhaupt eine Nachricht geschickt? Wieso hatte er sie in dieses Haus gelockt, in dem höchstwahrscheinlich ein Mord geschehen war? Und aus welchem Grund hatte er penibel alle Spuren beseitigt, wenn er dann doch den blutigen Bademantel zurückließ, um sie gleichsam mit der Nase darauf zu stoßen, was hier geschehen war? Was bezweckte er mit alldem?
Auf all diese Fragen wusste Anja momentan natürlich noch keine Antworten. Um sie zu finden, würde sie der Sache auf den Grund gehen müssen. Und vielleicht wollte Jack genau das erreichen: dass sie den Mörder jagte. Für ihn war das alles unter Umständen nur ein weiteres makabres Spiel, das seinen offensichtlich abartigen Sinn für Humor befriedigte, während es für die Frau, die sein Handlanger getötet hatte, tödlicher Ernst gewesen war.
Anja seufzte tief. Nachdem es hier mittlerweile nicht nur um eine vermisste Frau, sondern voraussichtlich sogar um Mord ging, musste sie schleunigst die dafür zuständigen Kollegen informieren.
Außerdem empfand sie, seitdem sie wusste, dass hier eine Gewalttat verübt worden war, die Atmosphäre innerhalb des Hauses als bedrückend und unangenehm. Sie wollte sich daher nicht länger als unbedingt notwendig darin aufhalten. Möglicherweise hatte der Widersacher den Leichnam der Frau lediglich in einem anderen Zimmer deponiert und hoffte nun, dass Anja den Rest des Hauses durchsuchte und früher oder später darüber stolperte, denn zweifellos wusste er über ihre Ängste Bescheid. Aber den Gefallen würde sie ihm nicht tun. Und auch wenn sie sich insgeheim noch immer fragte, wo die Katze steckte, die auf dem Foto mit der Frau zu sehen war, würde sie es anderen Personen überlassen, nach ihr zu suchen. Schließlich war sie nur hier, weil sie einen Umschlag mit einer Nachricht auf ihrer Fußmatte gefunden hatte und der Sache kurzerhand nachgegangen war. Doch nach dem Fund des blutgetränkten, durchbohrten Bademantels ging es in diesem Fall ihrer Meinung nach nicht nur um eine vermisste Person, sondern vermutlich sogar um Mord. Und dafür war sie nun einmal nicht zuständig. Abgesehen davon hatte sie Urlaub.
Anja richtete sich auf und verließ das Badezimmer, ließ das Licht allerdings brennen. Als sie im Flur neben den Feuchtigkeitsspuren auf dem Teppich zur Treppe ging, hörte sie plötzlich von unten ein Geräusch.
Sofort erstarrte sie mitten in der Bewegung und blieb regungslos stehen, während ihr Herz das genaue Gegenteil tat und unwillkürlich schneller schlug.
Es hatte sich angehört, als wäre im Erdgeschoss leise eine Tür geschlossen worden. Doch nun, als Anja konzentriert lauschte und nicht einmal zu atmen wagte, war nichts mehr zu hören.
Nach einer Minute, in der ihr eigener Herzschlag der einzige Laut war, den sie vernahm, stieß sie die Luft aus und atmete tief durch. Anschließend setzte sie sich wieder in Bewegung, bemühte sich aber um absolute Geräuschlosigkeit, als sie ihren Weg fortsetzte. Am oberen Ende der Treppe verharrte sie erneut, um zu lauschen, doch es blieb weiterhin still. Daraufhin begann sie, langsam und leise die Stufen hinabzusteigen.
Der Erdgeschossflur war noch immer verlassen. Allerdings stellte Anja fest, dass die Tür zum Wohnzimmer, die sie offengelassen hatte, jetzt zu war.
Also hatte sie sich nicht getäuscht, sondern tatsächlich gehört, dass die Tür geschlossen worden war. Das hieß, dass sie nicht allein im Haus war, sondern Gesellschaft hatte.
Die Atmosphäre innerhalb des Hauses verwandelte sich schlagartig von bedrückend in feindselig.
Anja überlegte, was sie tun sollte. Das Haus durch den Vordereingang zu verlassen und so schnell wie möglich Verstärkung zu rufen, erschien ihr das Vernünftigste zu sein. Doch nicht immer war die vernünftigste Lösung auch die beste.
Was, wenn es der Widersacher war, der sich noch im Haus aufhielt? In dem Fall hätte sie die einmalige Gelegenheit, ihn auf frischer Tat zu ertappen oder zumindest einen Blick auf ihn zu erhaschen. Dann wüsste sie endlich, mit wem sie es zu tun hatte und ob ihr Verdacht, dass es sich um ihren Onkel handelte, richtig war.
Ungeachtet der Gefahr und der Tatsache, dass sie noch immer unbewaffnet war, ging Anja zur Wohnzimmertür. Die Aussicht, endlich den Mann zu erwischen, der ihren Vater und ihren Ehemann umgebracht hatte, ließ sie alle Sicherheitsbedenken und die Gefahr, in die sie sich dadurch begab, vergessen. Immerhin achtete sie wenigstens weiterhin darauf, sich von den nassen Fußabdrücken auf dem Boden fernzuhalten.
Vor der Tür blieb sie stehen und legte ihre behandschuhte Hand auf die Klinke. Ihr kam es so vor, als wäre der Türgriff noch warm von der Person, die ihn vor ihr benutzt hatte, doch das war vermutlich nur Einbildung.
Doch bevor sie die Tür öffnen konnte, zeigte ihr Verstand ihr Bilder dessen, was passieren könnte, wenn sie es tat. Die Person, die die Tür geschlossen hatte, befand sich unter Umständen noch immer im Wohnzimmer. Und sobald Anja die Tür geöffnet hatte, sprang sie auf sie zu und stieß ihr ein Messer in den Körper. Oder sie hatte sich aus dem Staub gemacht und dafür Carina Arendts Leiche zurückgelassen, die wie Anjas Vater und Ehemann von der Decke baumelte.
Die schrecklichen Vorstellungen ließen sie erschaudern. Dabei wusste sie nicht einmal, was schlimmer wäre. Von einem Killer mit einer tödlichen Waffe angegriffen zu werden, oder aber erneut einen von der Decke hängenden Leichnam zu finden, was ihr öfter widerfahren war, als ihr lieb war.
Anja nahm zögerlich die Hand von der Türklinke. Sie wollte sich abwenden und unverrichteter Dinge weggehen. Schließlich ging sie das, was in diesem Haus geschehen war, nichts an. Wieso sollte sie sich also deswegen in Gefahr begeben oder sich einem Anblick aussetzen, der ihr zu denen, die sie ohnehin bereits hatte, allenfalls weitere Albträume bescheren würde?
Doch dann besann sie sich darauf, dass es sie als Polizistin sehr wohl etwas anging. Und das nicht nur, weil jemand eine Nachricht mit dem Foto und dem Namen der Frau vor ihre Tür gelegt hatte und sie sich deshalb verantwortlich fühlte. Außerdem wollte sie in ihrer Suche nach dem Mann, der neben ihrem Vater und ihrem Mann zahlreiche andere Menschen umgebracht hatte, endlich einen entscheidenden Schritt vorankommen. Und das schien in diesem Moment in greifbare Nähe gerückt zu sein. Aus diesen Gründen musste sie diese Tür öffnen und nachsehen, auch wenn es bedeutete, dass sie einem Killer direkt in die Arme lief oder etwas Schreckliches fand. Und abgesehen davon war sie schlicht und ergreifend neugierig.