Kitabı oku: «Für ein Ende der Halbwahrheiten», sayfa 2
Die napoleonischen Kriege verliefen nach einem ganz ähnlichen Schema: Die deutschen Länder hatten physisch die Hauptlast zu tragen, England bezahlte große Summen und stand am Ende als der unüberwindliche Weltherrscher da. Preußen blieb nach 1806 als Staat überhaupt nur bestehen, weil der Zar sich gegenüber Napoleon dafür eingesetzt hatte. Es musste in den Jahren der französischen Besetzung (bis 1808) für Kontributionen, Verpflegung, Sachlieferungen und Arbeitsleistungen eine Summe aufbringen, die dem Sechzehnfachen des Jahresaufkommens des preußischen Staates entsprach.18 Es wird oft als Verdienst der Briten angesehen, dass sie eine Hegemonie in Europa verhinderten und für das Gleichgewicht der Mächte sorgten. Bei näherem Hinsehen bildet dieses »Gleichgewicht« aber die Grundlage der britischen Expansion in die Welt! Und nicht nur dieses »Gleichgewicht« war die Grundlage, sondern das Kriegselend der Deutschen! Die Deutschen wurden deshalb unterstützt und »geliebt«, weil sie sich für Großbritannien in dieser Weise als nützlich erwiesen. Das ist für einen politischen Realisten zwar nicht überraschend, nur darf er dann die deutsche Politik des 19. und auch teilweise des 20. Jahrhunderts nicht pauschal verdammen, sondern muss sie als den verständlichen Versuch interpretieren, aus dieser Rolle des Dieners und Werkzeugs auszubrechen.
Von Bismarck ist eine Äußerung überliefert, die wieder auf die gegenwärtige Wendung der Dinge angewandt werden könnte: »Ich habe, was das Ausland anbelangt, in meinem Leben nur für England und seine Bewohner Sympathie gehabt und bin stundenweis noch nicht frei davon; aber die Leute wollen sich ja von uns nicht lieben lassen.«19 Der Satz ist übrigens von Tirpitz wörtlich in seine Erinnerungen übernommen worden.20 Was soll das aber heißen, dass die Briten nicht geliebt werden wollen? Sie wollen es nicht, weil sie dann Gegenliebe aufbringen müssten, selber lieben müssten. Ohne Lyrik ist der Satz von Bismarck nur eine Umschreibung des von Lord Palmerston (1784–1865), dem britischen Außenminister formulierten Prinzips, dass Großbritannien keine dauerhaften verpflichtenden Bündnisse eingehen dürfe.21 Das hat es bis 1945 im Großen und Ganzen auch so gehalten. Will es heute etwa – freilich mit den USA zusammen – zu dieser Tradition zurückkehren?
Im 19. und 20. Jahrhundert hat dennoch das Werben um die »Liebe« (oder wenigstens die Nichtfeindschaft) Englands auf deutscher Seite nicht aufgehört. So hat Wilhelm II., obwohl er selber zur Entfremdung von England nicht wenig beigetragen hatte, im Sommer 1914 bis zuletzt gehofft, dass es nicht in den Krieg eintreten werde, und seine späteren Hassreden können leicht auf enttäuschte Liebe zurückgeführt werden. Immerhin war er äußerlich gesehen in England so unbeliebt nicht: Königin Victoria war 1901 in seinen Armen gestorben; bei seinen regelmäßigen Besuchen in London wurde er umjubelt; er war Ehrenbürgervon London, Ehrendoktor von Oxford, Ritter des Hosenbandordens… Freilich beweist all das nur, welch geringe Rolle die Fürstenhäuser mit ihren Verbindungen 1914 letztlich spielten.22
Noch klarer liegen die Dinge aber bei Hitler. Denn es gab, soweit ich sehe, vor 1933 keinen deutschen Staatsmann, der die Briten und Amerikaner so bewundert hätte wie Hitler. Um nur ein charakteristisches Zitat zu bringen: »Wenn die Erde heute ein englisches Weltreich besitzt, dann gibt es aber auch zurzeit kein Volk, das aufgrund seiner allgemeinen staatspolitischen Eigenschaften sowie seiner durchschnittlichen politischen Klugheit mehr dazu befähigt wäre (…).«23 Entsprechend enttäuscht war Hitler 1939, als er keine Gegenliebe mehr fand. Es war ja von Anfang an seine Gegenkonzeption zur Politik des Kaiserreichs gewesen, in Richtung Osten zu expandieren, mit England zu einem Bündnis zu kommen bzw. zu einer Abgrenzung der jeweiligen Einflusssphären und die USA dabei möglichst herauszuhalten. Zunächst hatte er damit ja auch Erfolg, wenn wir etwa an die Appeasement-Politik unter Chamberlain denken, die Hitler außenpolitisch Auftrieb gab, oder überhaupt an die gewaltige Faszination, die das Dritte Reich auf viele Briten ausübte. Britische Besucher kamen seit 1933 in Scharen, um das neue Deutschland mit eigenen Augen zu sehen und sein Führungspersonal kennenzulernen. Sie berichteten meist begeistert über ihre Eindrücke in den Zeitungen. Eine solche Attraktivität hatte die Weimarer Republik für die Engländer nie besessen.24 Auch vergleichbare politische Zugeständnisse waren ihr nicht gemacht worden. Was in der Tat viel aussagt über die großen Verfechter der Demokratie! Dass die Engländer Hitler dann 1939 plötzlich die kalte Schulter zeigten, hat er daher nie verstanden. Das nennt man im persönlichen Leben eben verschmähte Liebe, und eine solche Kränkung kann sehr tief gehen. Heute, im Nachhinein, verstehen wir zwar, warum es wohl so kommen musste. Der Nationalsozialismus sollte, aus britischer Sicht, ein Bollwerk gegen den Bolschewismus bilden, aber weder sollte er mit ihm paktieren, noch ihn besiegen, denn dann wäre das Dritte Reich zu mächtig geworden. – Aber verstehen wir auch, warum uns, obwohl wir doch keine Nazis sind und es keinen Bolschewismus mehr gibt, heute wieder die kalte Schulter gezeigt wird?
Eine weitere Erklärung geht aus vom Ende des großen Systemgegensatzes nach 1989. Das gab den Blick frei auf die bedeutsamen Differenzen innerhalb der kapitalistischen Welt. So hat Esping-Andersen schon 1990 deutlich gemacht, dass es ein beträchtlicher Unterschied ist, ob man in einem Kapitalismus lebt, der die Gleichheit oder der die Freiheit institutionell präferiert. Albert hat 1992 sehr einprägsam zwischen rheinischem und angelsächsischem Kapitalismus, Hall und Soskice dann 2001 zwischen »coordinated« und »liberal market economies« unterschieden. Es stellte sich auch heraus, dass die so genannte Globalisierung der 1990er Jahre diese traditionellen Differenzen zwar infrage stellen, aber keineswegs nivellieren konnte. Bilden diese Differenzen das Fundament des aktuellen Konflikts? Angesichts der Konjunktur von Krisen, die diese Globalisierung mit sich gebracht hat, kann man sich sogar wundern, dass der Westen, nachdem er seinen Gegner verloren hatte, überhaupt so lange zusammengehalten hat. Aber da die neoliberale Globalisierung ein Projekt der glorreichen amerikanischen Sieger war, konnte leicht der Anschein entstehen, als gäbe es zu ihr gar keine Alternative. Man muss deshalb daran erinnern, dass es diese Alternative sehr wohl gibt und dass sie auf eine deutsche Tradition zurückgeht (»organisierter Kapitalismus«), die eben durchaus Widerhall in der Welt gefunden hat, in Europa und in Ländern, die eine nachholende Entwicklung betrieben haben. Wenn dieses Modell aber standgehalten hat und womöglich sogar erfolgreicher war als das neoliberale, dann lässt sich der Rückzug der Angelsachsen verstehen. Sie kommen von ihrer Lebensform nicht los und wollen das alternative Modell nicht länger unterstützen.
Ein Problem bei diesem Erklärungsversuch ist nur, dass Trump dem neoliberalen Muster gar nicht treu bleiben will, sondern eine Rückkehr zum Protektionismus betreibt. Sollte das mit der Krise von 2008 zusammenhängen, die den Amerikanern selbst die Grenzen ihres neoliberalen Projekts gezeigt hat, während die Deutschen die Krise ja relativ gut überstanden haben und die Chinesen von ihr ganz unberührt geblieben sind? Daher die Polemik Trumps gegen die deutschen und chinesischen Exportüberschüsse. Sie könnte mit der Gegenpolemik beantwortet werden, warum denn die USA so viel importieren und konsumieren, was ihnen seit Jahrzehnten eine negative Handelsbilanz beschert. Aber diese Frage stellt niemand, denn der »American way of life« ist heilig. Dahinter steckt jedoch die Schwäche der amerikanischen Realwirtschaft, gegen die Trump offenbar etwas tun will. Man muss auch einräumen, dass er mit seiner Idee in gewisser Hinsicht Recht hat, denn wenn es um das Wohl der Arbeitnehmer geht, sind die USA in der Tat auf Protektionismus angewiesen, weil sie keinen ausreichenden sozialen Schutz gewähren. Deutschland dagegen kann sich den Freihandel mit seinen Risiken auch deshalb leisten, weil die Arbeitnehmer sozial besser abgesichert sind.25 Hier zeigt sich sehr deutlich der Unterschied zwischen den verschiedenen Varianten des Kapitalismus.
Viele wissen heute gar nicht mehr, dass Protektionismus für die Angelsachsen gar nichts Ungewöhnliches ist, sondern historisch gesehen sogar die Grundlage ihrer Freihandelspolitik war. Die Briten haben ihn rund 200 Jahre lang praktiziert und sind erst Mitte des 19. Jahrhunderts, als sie den Weltmarkt unangefochten beherrschten, zum Freihandel übergegangen. Die Amerikaner haben sogar, als sie in den 1920er Jahren den Weltmarkt dominierten, noch am Protektionismus festgehalten, was eine wesentliche Ursache der Weltwirtschaftskrise war. Haben wir heute also, wenn Trump sich durchsetzt, ähnliche Verheerungen zu erwarten? Vermutlich nicht, denn die USA haben ihre beherrschende Stellung bekanntlich längst verloren. Aber sie scheinen gefangen zu sein in jenem Muster, nach dem sie einmal angetreten sind, und so zu ihrem Ausgangspunkt, eben zum Protektionismus, zurückzukehren. Damit aber schließt sich der Kreis ihrer Herrschaft.
EIN NÜCHTERNER BLICK AUF DIE JÜDISCHE GESCHICHTE
1. Das erwählte Volk
Als Theologe schätze und bewundere ich das Alte Testament. In diesem Rahmen können die zahlreichen Gründe dieser Wertschätzung gar nicht genannt, geschweige denn genauer erläutert werden. Für Leser, die der Theologie oder dem Christentum insgesamt ferner stehen, will ich nur auf einige Punkte aufmerksam machen, die auch sie von der Bedeutung des Alten Testaments überzeugen müssten. Da ist der Auszug der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten als das große Symbol der Befreiung von Fremdherrschaft für alle Völker; da ist die »Entzauberung« der Welt von Göttern und Dämonen als Grundlage der Naturwissenschaft; der – recht verstandene – Herrschaftsauftrag über die Natur als Grundlage von Kultur und Technik; die zehn Gebote als moralische Grundausstattung des Menschen; die Auslegung des Weltgeschehens als sinnvoller Geschichtsprozess statt als sinnloses Auf und Ab der Natur; eine Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, die die sonstige Antike in dieser Radikalität kaum kennt; eine ökologische Sensibilität, wie wir heute sagen würden, die sich etwa in der Institution des Sabbat- und Jubeljahres oder in Tierschutzgeboten zeigt; und da ist nicht zuletzt die Vision eines Friedens zwischen den Völkern und mit der Natur, die uns gerade heute tief berührt.
Umso mehr ist man dann allerdings erschüttert, in diesem Buch auch ganz andere Dinge zu lesen, nicht nur die Darstellung geschehener Grausamkeiten und anderer den Geboten widersprechender Taten, sondern die ausdrückliche Aufforderung dazu an das Volk Israel! Dies ist dem Umstand geschuldet, dass wir es hier mit dem Dokument einer Volksreligion, nicht einer Weltreligion zu tun haben. Dieser fundamentale Unterschied wird heute gern bagatellisiert, und zwar nicht nur, weil das Alte Testament so befruchtend auf Christentum und Islam gewirkt hat, sondern auch wegen der Leidensgeschichte der Juden, schon unter christlicher, insbesondere aber unter nationalsozialistischer Herrschaft. Die Verwischung des Charakters als Volks- bzw. Weltreligion ist zwar als Reaktion nachvollziehbar, ändert aber nichts an jenem fundamentalen Unterschied, der ja gerade heute, da es um die Einheit der Menschheit geht, an Bedeutung gewinnt. »Hier gilt nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht männlich noch weiblich, sondern ihr seid alle einer in Christus Jesus.«26 So lautet die Losung einer Weltreligion. Wo aber ein Volk sich exklusiv als von Gott erwählt versteht, da müssen die anderen als zweitrangig oder gar verworfen gelten, das besagt die schlichte Logik. Diese Logik bleibt auch dann bestehen, wenn die Erwählung nicht bloß als Auszeichnung, sondern zumal als schwere Aufgabe verstanden wird; oder wenn sie als Trost für ein politisch gescheitertes und unterdrücktes Volk erscheint.
Das Erwählungsbewusstsein hat natürlich praktische Konsequenzen. So können noch im heutigen Israel, das als säkularer Staat konzipiert war, Religion und Politik nicht klar getrennt werden, weil eben der Grund der Trennung, ein universaler Anspruch der Religion gegenüber dem partikularen Staat, nicht vorhanden ist. Entsprechend werden die äußeren Konflikte, die der Staat auszutragen hat, sehr schnell die Form von heiligen Kriegen annehmen. Denn es geht dabei nicht nüchtern um das Zusammenleben auf dieser Erde, sondern immer zugleich um letzte Fragen.
2. Was wir heute Völkermord nennen
Damit sind wir schon bei einer ersten Forderung, die im Alten Testament erhoben wird und die den Geboten des Dekalogs vollkommen widerspricht: »Aber in den Städten dieser Völker hier, die dir der HERR, dein Gott, zum Erbe geben wird, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat, sondern sollst an ihnen den Bann vollstrecken, nämlich an den Hetitern, Amoritern, Kanaanitern, Perisitern, Hiwitern und Jebusitern, wie dir der HERR, dein Gott, geboten hat (…).«27 An anderer Stelle heißt es: »Du wirst alle Völker vertilgen, die der HERR, dein Gott, dir geben wird.«28 Oder: »Dazu wird der HERR, dein Gott, Angst und Schrecken unter sie senden, bis umgebracht sein wird, was übrig ist und sich verbirgt vor dir. Lass dir nicht grauen vor ihnen; denn der HERR, dein Gott, ist in deiner Mitte, der große und schreckliche Gott. Er, der Herr, dein Gott, wird diese Leute ausrotten vor dir, einzeln nacheinander.«29 Oder: »So zieh nun hin und schlag Amalek und vollstrecke den Bann an ihm und an allem, was es hat: verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.«30
Es ist gar keine Frage – was Jahwe hier als »Bann« (Aussonderung) gebietet, würde man heute als Völkermord bezeichnen. Freilich dürfen wir unsere Begriffe und Vorstellungen, etwa des Völkerrechts, nicht auf diese weit zurückliegende Vergangenheit übertragen, stattdessen müssen wir zunächst verstehen, wie damals gedacht wurde. Die Massaker wurden nämlich als kultische Opferhandlungen aufgefasst. Dem Gott, der den Sieg gebracht hatte, wurden die Besiegten samt Frauen, Kindern und Besitz dankbar geopfert und damit übereignet. Dies geschah offenbar, um den Gott günstig zu stimmen, damit er weitere Siege ermöglichte. Denn von ihm war nach damaliger Auffassung letztlich der Kriegsverlauf abhängig. Eigentlich war er es, der primär kämpfte, während das Volk nur sein Werkzeug und dessen Kampf nur sekundär war. Dies erklärt auch das aus ökonomischer Sicht Sinnlose dieses Abschlachtens, der Verzicht auf Beute und auf Versklavung der Unterworfenen, was mit einiger moralischer Anstrengung als die positive Seite der Sache betrachtet werden kann. Sinnlos erscheint uns aber ebenso, dass Leben – wie auch bei anderen Opfergaben – vernichtet werden musste, wenn es dem Gott übereignet werden sollte. Ist denn nicht ohnehin alles Gottes Eigentum? Bedarf Gott der Tötung von Mensch und Tier und hat sogar Freude daran, während er andererseits doch den Schutz alles Lebendigen fordert?!
Aber dieser Widerspruch erklärt sich daraus, dass wir es eben mit dem einen Gott eines Volkes zu tun haben, nicht mit dem Gott der gesamten Menschheit. Sein Schutz gilt nur dem Volk seines Eigentums, fremde Völker können, eben weil sie fremd sind, nur durch Auslöschung sein Eigentum werden.
Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten, mit diesen mehr als anstößigen biblischen Aussagen zurechtzukommen. Eine Möglichkeit, an ihnen vorbei- oder um sie herumzukommen, besteht allerdings nicht. Denn sie finden sich gerade im Deuteronomium, der unbestrittenen Mitte des Alten Testaments, und darüber hinaus recht zahlreich in anderen Büchern (Numeri, Josua, Samuel), insgesamt an rund 70 Stellen.31
Ein verbreitetes und notwendiges hermeneutisches Verfahren besteht darin, inhaltlich zwischen Zentrum und Peripherie der biblischen Botschaft zu unterscheiden und jene Aussagen dann der Peripherie zuzuweisen. Notwendig ist dieses Verfahren, weil gerade die Texte über die Landnahme der Israeliten in der neuzeitlichen Geschichte eine unheilvolle Wirkung entfaltet haben,32 indem man gerade sie als zentral ansah oder indem man es in fundamentalistischer Weise überhaupt ablehnte, zwischen Zentrum und Peripherie zu unterscheiden und alle Aussagen der Bibel als gleichwertige Offenbarung nahm.
Dennoch halte ich jenes Verfahren in diesem Fall für fragwürdig, und zwar aus einem einfachen logischen Grund: Kann denn etwas Peripheres im strikten Widerspruch zu seinem Zentrum stehen? Offensichtlich nicht, denn das Periphere ist zwar das weniger Wichtige, aber doch positiv aufs Zentrum bezogen. Ähnlich verhält es sich, wenn man davon ausgeht, dass es eine geschichtliche Entwicklung im Gottes- wie auch im Rechtsverständnis gegeben hat. Dann zählt man die anstößigen Aussagen zur Vorgeschichte und lässt die eigentliche, uns betreffende Geschichte etwa erst mit den großen Propheten beginnen. Nur gerät man dabei in die Schwierigkeit, doch eine Kontinuität zwischen beiden annehmen zu müssen. Was hat aber der Gott, der von uns Feindesliebe verlangt, noch mit jenem Volks- und Kriegsgott gemein?
Eine weitere Möglichkeit, mit den unsäglichen Texten umzugehen, besteht darin, dass man nach gründlicher Forschung zu dem Schluss kommt, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde. Erstens geben antike Berichte die historische Realität meist ohnehin nicht getreu wieder, sondern übertreiben gewaltig. Zweitens kann man sich die Landnahme der Israeliten schon aufgrund der Kräfteverhältnisse zwischen ihnen und den entwickelten kanaanäischen Städten nur als einen allmählichen und im Wesentlichen doch friedlichen Prozess vorstellen.33
Gegen diese These spricht freilich, dass am Ende des angeblich friedlichen Prozesses doch das Davidische Großreich stand. Es gibt aber wohl kein Beispiel in der Geschichte, wo ein ähnliches Reich ohne massive Gewalt zustande gekommen wäre. Andrerseits kennen wir viele Beispiele dafür, dass »barbarische« Völker in eine entwickelte, aber kriegsmüde gewordene Zivilisation eingefallen sind, sie trotz ihrer geringeren technischen Rüstung aufgrund ihrer größeren Opferbereitschaft bezwungen und dann überschichtet haben. So ist denn auch die Theorie, dass es sich sehr wohl um eine Eroberung gehandelt habe (allerdings durch verschiedene Nomadenstämme und in einem längeren Zeitraum), lange vertreten worden, besonders eindrücklich durch den amerikanischen Archäologen William F. Albright. Sie hat gerade in Israel nach der Staatsgründung viel Beifall gefunden und eine intensive, staatlich geförderte archäologische Forschung ausgelöst. Der ruhmreiche Generalstabschef Moshe Dajan war selbst ein eifriger Sammler von Fundstücken. In seinem Buch Mit der Bibel leben (1978) erscheint die historische Zeit wie ausgelöscht: Die Eroberung Kanaans verschmilzt geradezu mit den Kriegen von 1948 und 1967.34 Allerdings waren die Ergebnisse der Forschung nicht immer überzeugend und schließlich sogar so widersprüchlich, dass inzwischen die Meinung vorherrscht, von einer solchen Landnahme, wie sie etwa im Josuabuch geschildert wird, könne doch keine Rede sein. So ergaben die Ausgrabungen, dass die Städte Jericho und Ai zur Zeit der angeblichen Eroberung um 1200 v. Chr. schon gar nicht mehr bestanden. Es handelt sich vielmehr um eine Geschichtskonstruktion aus sehr viel späterer Zeit. Sie will sagen, wie die Kriege »eigentlich hätten geführt werden sollen«, aber nicht, wie sie wirklich verlaufen waren.35 Da die erzählten Kriegshandlungen meist mit dem Bann enden, hätten die israelitischen Stämme das Land ja in eine tabula rasa verwandeln und kulturell völlig neu beginnen müssen.36 Wir kennen diese Art der Abrechnung mit der Geschichte und der Utopie eines radikalen Neuanfangs.
Was bedeutet das für unsere Fragestellung? Auch wenn die Texte nicht die Realität widerspiegeln, sondern das Bannen nur fordern, so bedeutet das im Grunde keine Entlastung, weil sie eine Denkweise der Verfasser offenbaren, die uns fremd und ungeheuerlich anmutet. Wobei wir nicht übersehen wollen, dass uns ein ähnlich ideologisches Denken aus unserer Zeit durchaus bekannt ist.
Eine etwas andere Deutung ergibt sich, wenn wir davon ausgehen, dass das deuteronomistische Geschichtswerk im Kern wahrscheinlich zur Zeit des Königs Josia (639–609 v. Chr.) entstanden ist, der eine Restauration des Davidischen Reichs anstrebte.37 War es da nicht naheliegend, zur Legitimation eine heroische Vergangenheit zu konstruieren? Auch das kennen wir sehr gut aus der modernen nationalen Geschichtsschreibung.38
Wenn wir demnach insofern einen gewissen Realitätsgehalt der Aussagen über das Bannen annehmen müssen, als jedenfalls der Wille dazu vorhanden war, so bleibt als letzte Möglichkeit die der Relativierung. Andere Völker haben es genauso gemacht, sind nicht weniger grausam gewesen. Das ist sicher richtig. Darüber hinaus muss man natürlich beachten, dass Israel ein kleines, von den mächtigen Reichen in seiner Nachbarschaft bedrängtes Volk war. Musste es nicht, wenn es überhaupt bestehen wollte, deren Methoden übernehmen? Nur stellt sich dann wieder die Frage, wodurch sich Israel dann vor ihnen auszeichnet, worin seine Erwählung besteht. Besteht sie etwa darin, dass es für seine grausamen Vorhaben im Unterschied zu den anderen eine gute Legitimation hatte? Oder darin, dass es sich überhaupt die Mühe gemacht hat, über sie zu reflektieren und Rechenschaft abzulegen, während die anderen blind und naiv handelten? Zwar wird an einigen Stellen des Alten Testaments auch den Assyrern die Vollstreckung des Banns zugeschrieben,39 ansonsten haben wir jedoch nur einen außerbiblischen Text aus jener Zeit, der die Vernichtung einer Stadt in analoger Weise als Opferhandlung deutete. Es ist die immer wieder zitierte Inschrift des moabitischen Königs Mesa aus dem 9. Jahrhundert v. Chr.40 In Bezug auf die ideelle Rechtfertigung der Grausamkeiten steht der Versuch der Relativierung somit auf schwachen Füßen.