Kitabı oku: «Für ein Ende der Halbwahrheiten», sayfa 3

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3. Was wir heute Rassismus nennen

Die Abgrenzung des erwählten Volkes von den anderen nicht erwählten Völkern muss nicht so drastisch erfolgen, dass man sie ausrottet oder jedenfalls ausrotten möchte. Dass dies auch gar nicht gelungen ist, zeigt eine zweite allerdings nicht weniger befremdliche Forderung, die uns im Alten Testament begegnet: »Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben und sollst dich mit ihnen nicht verschwägern; eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen für eure Söhne (…). Denn du bist ein heiliges Volk dem HERREN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.«41

Nach der Rückkehr der führenden Schicht Judas aus dem babylonischen Exil stellte sich jedoch heraus, dass auch dieses Verbot der Vermischung nicht streng befolgt worden war. Es wurde daher vom Priester Esra erneuert und mit Sanktionen versehen. Die Erneuerung erfolgt mit einem bemerkenswerten Zusatz: »So sollt ihr nun eure Töchter nicht ihren Söhnen geben, und ihre Töchter sollt ihr nicht für eure Söhne nehmen. Und lasst sie nicht zu Frieden und Wohlstand kommen ewiglich, damit ihr mächtig werdet und das Gut des Landes esst und es euren Kindern vererbt auf ewige Zeiten.«42 Im nächsten Kapitel folgt der Bericht über die Durchsetzung: »Und Esra, der Priester, stand auf und sprach zu ihnen: Ihr habt dem Herrn die Treue gebrochen, als ihr euch fremde Frauen genommen und so die Schuld Israels gemehrt habt. Bekennt sie nun dem HERRN, dem Gott eurer Väter, und tut seinen Willen und scheidet euch von den Völkern des Landes und von den fremden Frauen. Da antwortete die ganze Gemeinde und sprach mit lauter Stimme: Es geschehe, wie du uns gesagt hast!«43 Die nichtjüdischen Frauen wurden daraufhin mit ihren Kindern verstoßen und vertrieben.44

Natürlich fallen uns demgegenüber sofort eine ganze Reihe von prominenten Fällen aus der Bibel ein, die dieses Verbot der Mischehe entweder nicht kannten oder glatt ignorierten. Abraham lebte mit der Ägypterin Hagar zusammen, Joseph heiratete eine Ägypterin, Moses eine Midianiterin, David eine Prinzessin aus Geschur, Salomo hatte gleich mehrere Frauen aus verschiedenen Völkern. Der Moabiterin Ruth, die sich mit Boas verband, ist sogar ein eigenes Buch gewidmet! Man könnte daher zu dem Schluss kommen, dass das Alte Testament, weil es ja sehr viele Texte aus ganz unterschiedlichen Zeiten enthält, sich natürlich auch widerspricht und überhaupt nicht auf einen Nenner gebracht werden kann. Aber so einfach ist es nicht. Zumal wegen ihrer gewaltigen Wirkungsgeschichte kommen wir auch um diese problematischen Texte nicht herum. Zwar hat das Buch Esra (auch Nehemia) in der christlich-theologischen Exegese wenig Beachtung gefunden. Umso mehr jedoch im Judentum. Hier steht Esra in höchstem Ansehen, das Buch gilt geradezu als Gründungsdokument der eigenen Religion und Ordnung des Zusammenlebens.45 »Erst das Reformwerk Esras und Nehemias hatte die Sonderstellung der Juden in der Welt vollendet – bis heute.«46

Auch die Relativierung der Aussagen durch Einordnung in die antike Umwelt fällt wieder schwer. Zwar war auch in Athen etwa die Ehe zwischen Bürgern und Fremden untersagt. Aber aufgrund der Weitherzigkeit des Polytheismus spielte die unterschiedliche religiöse Orientierung der Partner dabei keine Rolle. Die religiöse Mischehe ist in der griechischen Literatur überhaupt kein Thema. Probleme gibt es nur bei unterschiedlichem sozialen oder rechtlichen Status.47

Seit der Zeit des Hellenismus aber, als sich die Griechen stärker mit anderen Völkern vermischten, wurde im Judentum die Ehe mit Nicht-Juden bzw. Nicht-Jüdinnen gerade scharf verurteilt: Wer seine Tochter einem Heiden zur Frau gibt, soll gesteinigt und die Frau verbrannt werden! Umgekehrt sollen Heidinnen nicht geehelicht werden, weil das die eigene religiöse Bindung gefährdet.48 Dem erweiterten Horizont des römischen Reiches entsprechend wird das Verbot der Mischehe von Philo und Josephus nun auf alle möglichen heidnischen Völker bezogen.49 Denn nach Philo sind nur die Juden »Menschen« im wahren Sinne des Wortes.50

Bei den Rabbinen schließlich kommt es zu einer weiteren Verschärfung: Die Mischehe ist nicht nur aus religiösen und moralischen Gründen untersagt, sie ist rechtlich einfach ungültig und damit in der Konsequenz unmöglich gemacht.51 Um auch außereheliche sexuelle Beziehungen zu nichtjüdischen Frauen auszuschließen, werden sie mit Tieren verglichen. Der Akzent verlagert sich jetzt in bedeutsamer Weise von der Religion auf die Abstammung: Auch wer von der jüdischen Religion abweicht oder abgefallen ist, kann dennoch zum jüdischen Volk gehören und folglich zur Ehe zugelassen werden. Und umgekehrt: Auch der Heide, der zum Judentum übergetreten ist, darf mit einer Jüdin keine Ehe schließen, weil er eben kein »wirklicher« Jude ist.52 Wir sind damit offenbar auf der biologischen Ebene, der des »Blutes«, angelangt, und es fällt schwer, diese Auffassung noch von der zu unterscheiden, die wir heute »Rassismus« nennen. Der Unterschied ist jedoch, dass es sich hier um den Versuch handelt, das Volk nach verlorener Staatlichkeit zusammenzuhalten, während der moderne Rassismus ein Herrschaftsinstrument ist, das von aufstrebenden Staaten benutzt wird.

Der Bezug zur jüdischen Tradition ist manchen Vertretern der Rassentheorie selber auch durchaus bewusst gewesen. So war Houston Stewart Chamberlain, der bekanntlich starken Einfluss auf den Nationalsozialismus ausübte, der Meinung, dass die »Rasse« keine Naturgegebenheit sei, sondern politisch gewollt und historisch herausgebildet werden müsse. Eben darin seien die Juden das große Vorbild! Freilich zugleich, sofern die »Germanen« dem Vorbild folgen, ihr Hauptkonkurrent. Wer durch unsere Erziehung und öffentliche Meinung geprägt ist, wird diese Querverbindung zwischen Judentum und Rassenlehre als schlechten Witz empfinden und empört von sich weisen. Er würde aber erstaunt sein, bei Chamberlain immer wieder sehr positive, geradezu bewundernde Äußerungen über das Alte Testament und das jüdische Volk zu lesen. So spricht er etwa vom »Völkerchaos« des spätrömischen Reichs und stellt fest: »In seiner Mitte ragt, wie ein scharfgeschnittener Fels aus gestaltlosem Meere, ein einziges Volk empor, ein ganz kleines Völkchen, die Juden. Dieser eine einzige Stamm hat als Grundgesetz die Reinheit der Rasse aufgestellt; er allein besitzt daher Physiognomie und Charakter. Blickt man auf jene südlichen und östlichen Kulturstätten des in Auflösung begriffenen Weltreiches, lässt man das prüfende Auge durch keine Sympathien und Antipathien irregeleitet werden, so muss man sagen, als Nation verdient damals die jüdische allein Achtung.«53

4. Vom »Segen der Geldleihe« im Mittelalter

Das erwählte Volk hat sich noch auf eine andere Weise von den anderen Völkern abgegrenzt, beim Umgang mit Kredit bzw. Schulden. Diese Abgrenzung spielt allerdings in biblischer Zeit wegen der geringen Bedeutung des Außenhandels noch eine geringere Rolle, sie wird erst seit dem Hochmittelalter in größerem Maßstab wirksam. Vom Mittelalter ist uns in dieser Hinsicht zumeist präsent, dass die Juden – nicht ausschließlich, aber in beträchtlichem Umfang – das Kreditgeschäft betreiben mussten, weil es den Christen nicht erlaubt war, Zinsen zu nehmen. Das Infame daran war nicht nur, dass den Juden kaum etwas anderes übrigblieb, weil sie von vielen anderen Berufen ausgeschlossen waren, keinen Grund und Boden erwerben oder auch nicht Mitglied einer Zunft werden konnten. Die Infamie bestand zumal darin, jenes offenbar unumgängliche schmutzige Geschäft für die Christen erledigen zu müssen, dafür aber nicht etwa Dank und Anerkennung zu ernten, sondern nur Verachtung, die eine solche Arbeit der herrschenden Ethik nach eben verdiente. Vom Henker abgesehen wurde im Mittelalter (und auch danach noch) wohl niemand so verachtet wie der Geldverleiher. Freilich konnte der »Wucherer« im Unterschied zum Henker dabei zugleich reich werden. Es muss die Frage erlaubt sein, wieso die Juden denn von sich aus dieses zweideutige Geschäft überhaupt ausüben durften? War es ihnen von der Tora her denn nicht ebenfalls untersagt, Zinsen zu verlangen? War es ihnen nicht sogar geboten, Schulden nach sieben Jahren zu erlassen?

Um das zu verstehen, müssen wir auf das Alte Testament zurückgehen, das diesbezüglich wieder eine doppelte Moral lehrt, die wir schon kennen: eine Moral für die eigenen Volksgenossen und eine für die Auswärtigen. »Du sollst von deinem Bruder nicht Zinsen nehmen, weder für Geld noch für Speise noch für alles, wofür man Zinsen nehmen kann. Von dem Ausländer darfst du Zinsen nehmen, aber nicht von deinem Bruder (…).«54 Und weiter: »Alle sieben Jahre sollst du ein Erlaßjahr halten. So aber soll’s zugehen mit dem Erlaßjahr: Wenn einer seinem Nächsten etwas geborgt hat, der soll’s ihm erlassen und soll’s nicht eintreiben von seinem Nächsten oder von seinem Bruder: denn man hat ein Erlaßjahr ausgerufen dem HERRN. Von einem Ausländer darfst du es eintreiben (…).«55 Crüsemann nennt diese beiden Gebote die wichtigsten biblischen Wirtschaftsgesetze.56 Er lobt auch die großzügige Fremdengesetzgebung Israels, sagt aber seltsamerweise nichts zu der für die weitere Geschichte so bedeutsamen Lockerung dieser Gebote in Bezug auf Nichtjuden. Damit deutlich wird, dass es sich bei dieser Freigabe des Zinsnehmens und der Schuldeintreibung gegenüber Ausländern nicht bloß um eine Anmerkung zum eigentlichen Text handelt, müssen wir noch zwei weitere Stellen hinzunehmen. Sie besagen nämlich, was nach Auffassung der Tora in diesem Zusammenhang das jeweils Beste und Schlimmste wäre, das Israel im Verhältnis zu anderen Völkern widerfahren könnte. Diese Stellen belegen damit, dass man sich der Tragweite jener Abgrenzung sehr wohl bewusst war. Im Anschluss an die zuletzt zitierte Stelle zum Erlaßjahr folgt die recht handfeste Verheißung: »Denn der HERR, dein Gott, wird dich segnen, wie er dir zugesagt hat. Dann wirst du vielen Völkern leihen, doch du wirst von niemand borgen; du wirst über viele Völker herrschen, doch über dich wird niemand herrschen.«57 Und im Zusammenhang eines Katalogs von Fluchstrafen, die dem ungehorsamen Volk angedroht werden, heißt es: »Der Fremdling, der bei dir ist, wird immer höher über dich emporsteigen; du aber wirst immer tiefer heruntersinken. Er wird dir leihen, du aber wirst ihm nicht leihen können; er wird der Kopf sein, und du wirst der Schwanz sein.«58 Die Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden im eigenen Land hat demnach deutliche Grenzen, und am besten wäre es, wenn man das Ausland in finanzieller Abhängigkeit halten könnte.

Aber Israel unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von anderen Völkern der Antike, die Ausländer ebenfalls meist schlechter behandelt haben als die eigenen Leute. Zum Problem wurde die Abgrenzung erst, als die Juden kein eigenes Staatswesen mehr besaßen und weit verstreut leben mussten. Denn nun waren sie selbst ja überall nur noch Ausländer, und wenn die Völker, unter denen sie lebten, sich ähnlich verhielten, dann wurden sie nun so behandelt, wie sie es selbst früher anderen zugedacht hatten. Das erklärt zum Teil die Beschränkungen, die ihnen im Mittelalter auferlegt wurden. Wenn man diese Beschränkungen kritisiert und beklagt, so sollte man nicht unhistorisch und aus heutiger liberaler Sicht urteilen. Noch genauer gesagt, und auf das Schuldenthema bezogen: Die Kritiker und Kläger übersehen meist, dass der Missachtung, die die Juden im Mittelalter erfuhren, umgekehrt die Missachtung der Fremden durch die Juden bereits vorausging, es sich jedenfalls um ein Wechselverhältnis handelte. Diese Missachtung durch die Juden wurde sogar inhaltlich vorausgesetzt und in gewissem Sinne toleriert, indem man sie eben Zinsen nehmen und Schulden eintreiben ließ! Natürlich tat man das aus wirtschaftlicher Notwendigkeit und eigenem Interesse, aber grundsätzlich hätte man auch ihnen gegenüber das Zinsverbot und eine milde Behandlung der Schuldner durchsetzen können – unter Berufung auf die gemeinsame Tradition des Alten Testaments. Nur waren die Theologen der Meinung, dass der jüdische Wucher geduldet werden müsse, damit die Christen vor dieser Sünde bewahrt würden. Unter den Juden andererseits gab es zwar Diskussionen zum Thema, aber der Vorzug, den sie genossen, war ihnen wohl bewusst, und so siegte auch bei ihnen das eigene Interesse: Vom »Segen der Geldleihe« war die Rede und Rabbi Schalom aus Wiener Neustadt (gestorben um 1415) sprach es offen aus: »Wunder über Wunder, dass die Nichtjuden mit dem Zinsennehmen einverstanden sind – das kam wirklich von Gott.«59

Hinzu kam eine weitere Voraussetzung, die die Juden schon mitbrachten, als sie im Mittelalter genötigt wurden, sich auf Handel und Kredit zu spezialisieren. Schon in der Zeit nach dem babylonischen Exil hatte sich ein starker Gegensatz herausgebildet zwischen dem städtischen »Volljuden«, der am Torastudium teilnahm und die rituellen Regeln einhielt, und dem »Mann vom Lande« (»am haarez«), der die Regeln nur schwer einhalten konnte und weniger gesetzeskundig war.60 Es war der bekannte Gegensatz zwischen Stadt und Land, zwischen vorwiegend geistiger und vorwiegend körperlicher Arbeit in spezifischer kultureller Ausprägung. »Ihre folgenreichste soziale Besonderheit bestand von Anfang an darin: dass eine wirklich ganz korrekte Innehaltung des Rituals für die Bauern ganz außerordentlich erschwert war. Nicht nur weil der Sabbat, das Sabbatjahr, die Speisevorschriften an sich für ländliche Verhältnisse schwer einzuhalten waren. Sondern vor allem, weil mit zunehmender kasuistischer Entwicklung der für das Verhalten maßgeblichen Gebote eben die Lehre im Ritual zum Erfordernis korrekten Lebens werden musste. Die Priesterthora aber reichte naturgemäß in die Landorte nur wenig hinein (…). Der Festkalender der Exilspriester, den Esra oktroyierte, hatte alle alten Feste ihrer früheren Beziehung zu dem Ablauf der ländlichen Arbeit und Ernte beraubt. Vollends die unter Fremdvölkern lebenden Juden konnten nicht leicht in ländlichen Orten ein rituell irgendwie korrektes Dasein führen. Der Schwerpunkt des Judentums musste sich zunehmend in der Richtung verschieben, dass sie ein stadtsässiges Pariavolk wurden (…).«61 Durch den Verlust des eigenen Staatswesens und die Zerstreuung wurde also der städtische, intellektuelle Teil des Judentums noch dominierender und geradezu charakteristisch für das, was man nun unter Judentum verstand. Mit dessen Torastudium und der rituellen Korrektheit vertrug sich aber am besten die Spezialisierung auf Handel und Kredit. »Besonders wurde bei dieser Wendung zum Handel der Geldhandel bevorzugt, weil er allein die volle Hingabe an das Gesetzesstudium ermöglichte.«62 Das bestätigt wieder der schon zitierte Rabbi Schalom: »Was die Tora in Aschkenas mehr als in den übrigen Ländern bestehen lässt, kommt durch das Zinsennehmen von den Nichtjuden, denn sie [die Juden] müssen keine Arbeit verrichten, daher sind sie frei zum Torastudium. Und wer nicht lernt, unterstützt von seinem Gewinn die Talmudgelehrten.«63 Es war also keineswegs nur äußerer Zwang, der viele Juden zu Spezialisten in diesem Bereich machte, sondern auch eine Tendenz ihrer eigenen Geschichte.64

5. Der Vorteil, keinen eigenen Staat zu haben

Da einerseits von der Klassenspaltung im Judentum, andererseits vom Verlust des eigenen Staats und der Zerstreuung die Rede war, drängt sich die Überlegung auf, was diese beiden Tatsachen in ihrem Zusammenhang eigentlich bedeuten. Zumeist wird der gewaltige Nachteil betont, den es für ein Volk bedeutet, wenn es über keinen staatlichen Schutz im Innern und nach außen verfügt. Das ist gerade in den 1930er Jahren noch einmal sehr deutlich geworden, als den Juden im Dritten Reich die Bürgerrechte beschnitten wurden, sie aber auch im Ausland weithin keine Aufnahme fanden. Nur muss man hier differenzieren, denn die Benachteiligung trifft doch vorwiegend die unteren, weniger die oberen, begüterten Schichten. Dass dies auch im Dritten Reich der Fall war, werde ich noch zeigen, doch zunächst zum grundsätzlichen Problem: Ist es für die jüdischen Eliten nicht sogar ein großer Vorteil gewesen, nichts zu tun zu haben mit dem Kleinkram des politischen Alltags und sich nicht mit Staatsaufgaben herumschlagen zu müssen? Auch wenn es heute Mode ist, diese Aufgaben eher gering zu schätzen, darf vielleicht daran erinnert werden, wie bequem es ist, sich nicht im internationalen Machtkampf behaupten zu müssen und dabei womöglich harte Entscheidungen gegen das eigene Volk treffen zu müssen; wie angenehm es ist, sich nicht um das Gemeinwohl kümmern zu müssen, ein Land nicht durch eine Wirtschaftskrise steuern zu müssen oder soziale Gegensätze nicht ausgleichen zu müssen. Wenn man von diesen oft »schmutzigen« Arbeiten befreit ist, dann fällt es auch nicht schwer, alles unter einem höheren, globalen Gesichtspunkt zu sehen, als Besserwisser aufzutreten und damit unter ähnlich privilegierten Intellektuellen viel Beifall zu finden.

Ich glaube nicht, dass man die großen geistigen Leistungen des Judentums herabsetzt, wenn man an diese Bedingung erinnert, unter der sie zustande kamen. Hinzu kommt ein Vorteil, der vielleicht noch schwerer wiegt: Die jüdischen Eliten besaßen großen Einfluss, brauchten aber aufgrund des fehlenden eigenen Staatswesens auch keinen Widerstand oder gar Aufstand ihres Volkes zu befürchten. Das ist insgesamt eine recht komfortable Position. Gewiss blieben sie von den jeweiligen politischen Herrschern abhängig, was am Beispiel der Hofjuden noch zu zeigen sein wird, aber politische Verantwortung brauchten sie eben nicht zu übernehmen.

Wenn man nun davon ausgeht, dass ein jedes Volk aber lieber von eigenen anstatt von fremden Herren bedrückt wird, dann mag dies ein Stück weit die Schärfe der Judenfeindschaft erklären: Hier verband sich die allgemeine Wut über wirtschaftliche Unterdrücker mit der Wut über »Eindringlinge«. Freilich war es z.B. vielen Sozialisten des 19. Jahrhunderts gleichgültig, woher der Unterdrücker kam, und so galten die Sozialisten schließlich als »vaterlandslose Gesellen«. Deswegen waren sie auch für den Antisemitismus nicht empfänglich. Wer sich aber in den Nationalstaat eingebunden fühlte und von ihm den sozialen Ausgleich erwartete, der musste gegenüber Herren, die sich nicht einbinden ließen, misstrauisch sein.

6. Inspiration für das moderne Nationalbewusstsein

Angesichts der langen Existenz des jüdischen Volkes ohne eigenen Staat verkennt man aber auch leicht die gewaltige Bedeutung, die die Erinnerung an das Davidische Reich und die Hoffnung auf seine Wiederkehr in neuer Gestalt hatte, und zwar nicht etwa bloß für dieses Volk, sondern für die Herausbildung des modernen Nationalstaats insgesamt! Wer im Judentum den natürlichen Repräsentanten des Internationalismus sieht, sieht daher wieder nur die halbe Wahrheit. Dass dieses Volk ohne politische Form so lange bestehen konnte, hat Bewunderung hervorgerufen. Noch bewundernswerter erscheint, wie die Juden so eisern an jener Erinnerung und Hoffnung festgehalten haben und vielleicht deshalb viele andere Völker überleben konnten. Dieser feste Glaube konnte damit zum Vorbild für neu aufbrechende Nationen werden, im Unterschied zu den vielen Reichen der Vergangenheit, die zwar geglänzt hatten, aber auch wieder erloschen waren.

Man sollte meinen, dass diejenigen, die sich als Volk zusammenschließen und Macht entfalten wollen, sich doch an jenen orientieren werden, die dieses Ziel in ihrer Geschichte bereits erreicht haben, anstatt an den in diesem Punkt gescheiterten Israeliten! So hätte man es wohl in der Antike gesehen. In der Neuzeit aber verstand man sich nicht mehr als Teil der Natur, man dachte geschichtlich. Die Nation war eine kulturelle Größe, eine »imaginierte Gemeinschaft« (Anderson), sie musste »gebildet«, ja »entworfen« werden.65 Daher brauchte man für den nationalen Auf-bruch einen tiefen Ursprung und ein hohes Ziel. Und beides boten das Erwählungs- und Sendungsmotiv, das man aus der jüdischen Tradition übernahm.

Wir können mit guten Gründen davon ausgehen, dass England der erste Nationalstaat der Neuzeit war, und an ihm ist diese Inspiration geradezu mustergültig abzulesen. Er konstituierte sich bekanntlich in der Revolution des 17. Jahrhunderts, die hauptsächlich vom radikalen Protestantismus der Puritaner getragen wurde. Was war aber charakteristisch für sie? Eine unübersehbare Nähe zum Judentum, im Unterschied zur Katholischen Kirche wie auch zum Lutherischen Protestantismus. Die geistige Nähe zum Judentum zeigte sich in der starken Orientierung am Alten Testament: Die Revolution gegen Karl I. brach aus mit dem Ruf der Israeliten gegen ihren schlechten König Rehabeam: »Zu deinen Gezelten, Israel!« Die Soldaten Cromwells legten ihre »heidnischen« englischen Namen ab und gaben sich solche aus den alttestamentlichen Schriften. Sie zogen Psalmen singend in den Kampf und die ganze Sprache der Flugschriften, Reden und Predigten der Revolution war die des alten Bundes.66 Die Nähe zeigte sich auch an der Hochschätzung des Hebräischen, das als die Sprache Gottes und als die Ursprache der Menschheit galt.67 Außerdem nahmen die Puritaner das Bilderverbot ernst, sie lehnten die Sakramente als Heilsmittel ab, unterdrückten alles Sinnlich-Natürliche als »Kreaturvergötzung« und unterwarfen das Alltagsleben einer pedantischen moralischen Regulierung. In all diesen Aspekten zeigt sich das Vorbild des Judentums. Was aber für unsere Betrachtung das Wichtigste ist: Die Engländer verstanden sich als das neue erwählte Volk mit der besonderen Mission, die Menschheit zu ihrer Art von Christentum zu bekehren. So heißt es bei John Milton, dem Dichter der Revolution: »Wir haben starken Grund, zu glauben, dass die Gunst und die Liebe des Himmels uns besonders günstig und geneigt ist. Warum wurde sonst unsere Nation vor allen anderen auserwählt, dass von ihr aus wie aus Zion die erste Zeitung und Posaune der Reformation dem ganzen Europa verkündet werden und ertönen sollte? (…) Nach dem Zusammentreffen der Zeichen und nach dem allgemeinen Gefühl heiliger und frommer Männer hat Gott jetzt abermals beschlossen, eine neue und große Periode in seiner Kirche zu beginnen; was tut er denn, als sich seinen Knechten offenbaren und zuerst, wie es seine Weise ist, den Engländern?«68

Es ist überaus charakteristisch und besitzt eine innere Logik, dass sich die Puritaner in der Abwendung vom Universalismus, von der »Katholizität« der Römischen Kirche nun den volksreligiösen Zügen des Alten Testaments zuwandten.69 Die Frage war nur, was dabei dann vom Neuen Testament mit seinem Gebot der Feindesliebe und der Überwindung der Völkergegensätze noch übrigblieb.

Schon bei Cromwell blieb davon jedenfalls nicht viel, denn unter seinem Protektorat wurden so viele Kriegsschiffe gebaut wie nie zuvor und begann erst eigentlich die britische Expansion. Im Anschluss an die verständliche Verteidigung des Protestantismus gegen die spanische Weltmacht traten rein britische Interessen in den Vordergrund, nämlich im Kampf gegen die ebenfalls protestantischen Niederlande. Man konnte sehen, wozu der hochfliegende Messianismus gut war – er diente zur Stimulierung und Verklärung nationalen Machtstrebens. Die berühmten »Pilgerväter«, die zum Ursprungsmythos der Vereinigten Staaten gehören, hatten übrigens zunächst in Holland Zuflucht gefunden, um der Verfolgung der Anglikaner zu entgehen; doch 1620 verließen sie schließlich ihr holländisches Exil, um Engländer bleiben und ihre Mission in der Neuen Welt verwirklichen zu können. So wurde das Sendungsbewusstsein nach Amerika weitergetragen und beschäftigt uns noch heute.

Wenn damals auch Differenzen zwischen Juden und Puritanern bestehen blieben,70 änderte dies aber nichts an der weitgehenden Übereinstimmung im Messianismus und Chiliasmus. Hier gab es auch von Seiten des Judentums eine Annäherung – mit bedeutsamen praktischen Folgen! So identifizierte der berühmte niederländische Toralehrer Menasse ben Israel das Kommen des Messias ohne weiteres mit der Wiederkunft Christi und behauptete kühn, dass dann beide, Juden wie Christen, erlöst würden. Mit dieser Überzeugung reiste er 1655 nach London, um bei Cromwell ein Wiederansiedlungsrecht für die Juden zu erwirken, die schon 1290 geschlossen aus England vertrieben worden waren. Auch darin war das Land Vorreiter in Europa! In der Tat ließ Cromwell die Einwanderung seit 1656 zu, auch weil der Staat Geld brauchte. Eine offizielle gesetzliche Entscheidung kam allerdings erst 1685 bzw. 1698 zustande.71 Seither unterschied sich die rechtliche Situation der Juden in England deutlich von der auf dem Kontinent, und das ist sicher zu loben. Dennoch muss auch auf die Kehrseite dieses Fortschritts aufmerksam gemacht werden. Dazu zählt erstens die fragwürdige Verbindung, die der westliche Protestantismus seitdem mit dem Judentum als Volksreligion eingegangen ist. Sie war ja so innig, dass das Christentum dabei fast selbst zu einer Volksreligion wurde! In diesem Sinn war die Besserstellung der Juden in England eigentlich keine Überraschung. Zweitens muss auf die Gefahr einer bedenkenlos expansiven Außenpolitik hingewiesen werden, die in der Übernahme des Erwählungs- und Sendungsgedankens lag. Denn nun konnten andere Völker und Kulturen nur noch als Objekt gelten und in ihrem Eigensinn gar nicht mehr wahrgenommen werden.

Man kann gegen die Herleitung des nationalen Erwählungs- und Sendungsbewusstseins der Neuzeit aus der jüdischen Tradition den Einwand erheben, dass das Judentum selbst doch erst mit dem Zionismus zu einer solchen säkularen Auffassung gekommen sei. Zuvor seien diese Motive immer streng religiös verstanden worden, d.h. die Erwählung blieb immer abhängig vom Willen Gottes, und die Sendung bestand darin, die Menschen für Gott zu gewinnen. Der Zionismus sei daher eine – und zwar relativ späte – Folge des nationalen Erwachens der Neuzeit.72 Das Verhältnis von Ursache und Wirkung in Bezug auf das Judentum und die Nation sei somit in gewisser Hinsicht genau umgekehrt! Meine Antwort lautet zunächst, doch die enge Verbindung von Religion und Volk im Judentum nicht zu vergessen. Beide lassen sich nicht so trennen wie im Christentum. Außerdem haben wir doch gesehen, dass schon zwischen Puritanern und Juden des 17. Jahrhunderts eine weitgehende Übereinstimmung im Messianismus und Chiliasmus bestand, die streng religiöse Deutung der Heilsgeschichte also verlassen worden war. Richtig ist hingegen, dass der Zionismus die Säkularisierung noch weitergetrieben hat und in den Zusammenhang des sich bereits entwickelnden Nationalismus gehört. Aber das schließt ja nicht aus, wiederum nach dessen Wurzeln zu fragen.

Man kann die beiden Positionen, die hier skizziert wurden, widersprüchlich vereint studieren an Izchak Baer (1888–1980), einem bedeutenden Historiker an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 1936 veröffentlichte er in Berlin, und wohlgemerkt auf Deutsch, ein Buch mit dem Titel Galut (Exil), in dem es heißt: »Da die Juden eine nationale Einheit bilden, und zwar in weit höherem Grade als die anderen Völker, ist es nötig, dass sie wieder zu einer faktischen Einheit werden. (…) Die jüdische Erneuerung der Gegenwart ist ihrem tiefsten Wesen nach nicht von der nationalen Bewegungen Europas bedingt, sondern sie kehrt zurück zu dem uralten jüdischen Nationalbewusstsein, das vor aller europäischen Geschichte da war und ohne dessen geheiligtes, geschichtsgesättigtes Vorbild kein nationaler Gedanke in Europa vorstellbar ist.«73 Zwar übernimmt Baer den objektiven und sehr ausgeweiteten Begriff der Nation aus der deutschen Tradition des 19. Jahrhunderts und ist insofern gerade ein Kind seiner Zeit. Dennoch ist seiner These abzugewinnen, in welchem Maß das jüdische Religionsvolk mit seiner unverwüstlichen Erinnerung und Hoffnung den modernen Nationen als Vorbild gedient hat. Das gilt für England und die USA unmittelbar und inhaltlich. Für andere Nationen gilt es freilich nur mittelbar, sofern sie ihre Nationalität jedenfalls formal nach dem gleichen Muster entwerfen.74

Wenn wir das noch kurz an Deutschland, der »verspäteten Nation«, illustrieren wollen, so müssen wir einen Sprung ins 19. Jahrhundert machen. Hier ist die Herausbildung des Nationalbewusstseins nicht nur mit der schrittweisen Emanzipation der Juden verbunden, sondern auch mit einer sehr weitgehenden jüdischen Identifizierung mit der deutschen Kultur. Die Juden entdecken eine tiefe Verwandtschaft zwischen ihrer Sehnsucht und der Sehnsucht der Deutschen, und es beginnt die einzigartige jüdisch-deutsche Symbiose, die man sehr ernst nehmen muss, gerade weil sie 1933 so brutal beendet wurde. Oft wird betont, dass die Liebe der Juden zur deutschen Kultur recht einseitig gewesen und von den Deutschen kaum erwidert worden sei. Dabei wird aber der tiefere Einfluss verkannt, den die jüdische Tradition in diesem Prozess immer schon ausgeübt hat, die heimliche Liebe sozusagen, die die Deutschen dem Judentum entgegenbrachten. Sie könnte etwa daran abgelesen werden, dass die Deutschen bereits in der Kindheit mit den Geschichten des Alten Testaments vertraut gemacht wurden. Es war wirklich ein Verhältnis der Gegenseitigkeit. Man kann die Symbiose vielleicht am besten an Johann Gottlieb Fichte studieren, dessen Reden an die deutsche Nation (1807/08) als eine Art Programmschrift des deutschen Nationalismus gelten und heute oft verdammt werden. Wie aber reimt es sich damit, dass Fichte zugleich ein Jahrhundert lang »der bevorzugte Philosoph des Judentums« war, »und zwar in allen seinen Schattierungen«?75 Dass Fichte die Deutschen zum auserwählten Volk erklärte, gleichsam zum neuen Israel, störte dabei durchaus nicht, sondern wurde von den deutschen Juden oft sogar freudig aufgegriffen, weil sie darin eine ihrem eigenen Messianismus verwandte Denkweise entdeckten, selbst keine orthodoxen Juden mehr waren oder tatsächlich gute Patrioten sein wollten (wie etwa Ferdinand Lassalle, über den Fichte auf die deutsche Sozialdemokratie einwirkte). Die Fichte-Rezeption konnte freilich auch dazu führen, dass die eigene Tradition neu entdeckt und erschlossen wurde: »Nur weil wir Fichte hatten, fanden wir die entsprechenden Strömungen der jüdischen Kultur (…), verstanden wir erst das Judentum.«76

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