Kitabı oku: «Für ein Ende der Halbwahrheiten», sayfa 4

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Bevor ich auf diesen Punkt zurückkomme, sei noch an Heinrich Heine erinnert, der ja, als er an Deutschland dachte, »um den Schlaf gebracht« war, weil er in dieses Land die größten Hoffnungen setzte und an die Herrschaft seines Geistes über die ganze Welt glaubte. Er erkannte eine »innige Wahlverwandtschaft zwischen den beiden Völkern der Sittlichkeit, den Juden und Germanen«, und hielt beide für »auserwählt«. Denn die Sendung Israels sei noch nicht erfüllt, sie könne aber in Deutschland zur Erfüllung kommen. »Auch Letzteres erwartet einen Befreier, einen irdischen Messias (…), und dieser deutsche Befreier ist vielleicht derselbe, dessen auch Israel harret. (…) O teurer, sehnsüchtig erwarteter Messias. (…) O verzage nicht, schöner Messias, der du nicht bloß Israel erlösen willst (…), sondern die ganze leidende Menschheit!«77

Neben dieser Verbindung beider Kulturen, gab die eine aber auch bisweilen den Anstoß zum Wechsel in die andere. Diesen zunächst schwer begreiflichen, ja prinzipienlos erscheinenden Wechsel vom Glauben an das eine Volk zum Glauben an das andere finden wir in extremer Weise bei Arnold Schönberg. Noch 1919 schreibt er an Richard Dehmel: »Wenn ich an Musik denke, so fällt mir nur die deutsche ein.«78 Dabei müssen wir uns die außerordentliche Bedeutung vergegenwärtigen, die die deutsche Musik in der Welt und folglich für das Selbstbewusstsein der Deutschen erlangt hatte. Von daher ist auch Schönbergs berühmte Äußerung aus dem Jahr 1921 nach der Entwicklung der Zwölftonmusik zu verstehen: »Ich habe eine Entdeckung gemacht, durch welche die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert ist.«79 Auch seine Schüler Alban Berg und Anton Webern waren beseelt vom Glauben an die Vormachtstellung der deutschen Musik in der Welt. In den 1920er Jahren jedoch beginnt Schönbergs Rückkehr zur jüdischen Tradition und entsprechend überträgt er den Erwählungsgedanken auf das Judentum, was sich z.B. an seinem Drama Der biblische Weg von 1926/27 zeigt. Im Juli 1933 tritt er dann förmlich zum Judentum über, was man als verständliche Reaktion auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten deuten kann.

Doch Schönberg beschreibt das Verhältnis zwischen Judentum und Nationalsozialismus genau umgekehrt! In gewisser Hinsicht erklärt er, die Juden seien geradezu selbst schuld an dem, was ihnen widerfährt. So heißt es 1933 in einer Rede: Das Judentum habe »bis zu dieser Stunde nicht begriffen, dass der Antisemitismus nicht die Ursache für die Verfolgung der Juden ist, sondern nur die Auswirkung der jüdischen Existenz als ganzer, das Resultat unseres Glaubens, unserer Auserwählung, die Folge all der Eigenschaften, die wir dank unserem Schicksal und unserem Auftrag besitzen, die verständliche Reaktion auf all die Eigenschaften, die überall und immer in Erscheinung treten, wo Juden leben«.80 Der Kampf gegen den Antisemitismus sei daher so sinnlos wie der »Versuch, Regen und Schnee zu bekämpfen, Blitz und Schneesturm, Wirbelsturm und Erdbeben; ein Versuch, Tod und Schicksal zu bekämpfen. (…) Antisemitismus ist natürlich (…)«81, denn die anderen Völker werden das Volk, das sich erwählt weiß, immer hassen. Oder sie werden es imitieren wollen, sich selber eine solche Erwählung zusprechen, wie zurzeit die Nationalsozialisten, deren Rassenlehre nichts als eine Nachahmung der jüdischen Erwählungsidee sei.82 Die Verschärfung des deutschen Antisemitismus wird somit als Herausforderung zu radikaler Selbstbesinnung des Judentums verstanden. Schönberg wechselt nicht von einem Volksglauben zum anderen, sondern wendet sich zurück zum Ursprung des Erwählungsbewusstseins der Völker schlechthin.

Die praktische Schlussfolgerung, die er aus seiner Erkenntnis zieht, ist allerdings nicht zwingend und zeigt sogar, dass er sich von der Fixierung auf Deutschland doch nicht lösen konnte. Sie läuft auf einen höchst militanten und diktatorischen Zionismus hinaus: Gründung einer jüdischen Einheitspartei mit diktatorischer Führung und militärische Rückeroberung Palästinas nach dem Muster der Landnahme der Israeliten, von der oben die Rede war.83 Denn das Zeitalter der Demokratie sei vorüber und die Ideale des Humanismuswidersprächen der mosaischen Religion.84 Das entsprechende Programm hat Schönberg 1938 in den USA formuliert und für seine Publikation die Unterstützung Thomas Manns erbeten. Dieser hat jedoch in freundlich-diplomatischem Ton abgelehnt, wobei in seiner Antwort immerhin der Faschismusvorwurf anklingt. Jedenfalls betont Mann, »dass insbesondere der bedingungslos machtpolitische Standpunkt der besonderen Geistigkeit des Judentums« nicht gut zu Gesichte steht.85

Die ausführlichen Bemerkungen zu Schönberg waren erforderlich, weil sich hier das vertrackte Wechselverhältnis zwischen Judentum und Nationalsozialismus zeigt. Das Dritte Reich ist in der Tat eine späte Nachahmung des erwählten Volkes, aber kann dieses, wie Schönberg zeigt, nicht auch zu einer Nachahmung des Nationalsozialismus werden?

7. Privilegierte Hofjuden im Absolutismus

Schon im Mittelalter waren die Juden nicht nur Verfolgte, sie standen auch unter dem besonderen Schutz des Kaisers bzw. der Könige. Die Verfolgung ging sowohl von kirchlichen Bewegungen, etwa im Kontext der Kreuzzüge, und von der Gesellschaft aus, nicht aber von der Obrigkeit. Diese profitierte vielmehr in beträchtlichem Maße von den Judensteuern und hatte auch ein Interesse daran, eine Gruppierung auf ihrer Seite zu haben, die ihr mehr Gewicht verschaffte, weil sie außerhalb der feudalen Ordnung stand. Das ist nun auch der Hauptgrund, weshalb sich im 17. Jahrhundert das sogenannte Hofjudentum etablieren konnte – ein Phänomen, das angesichts seiner Bedeutung für die Herausbildung des modernen Staats viel zu wenig beachtet wird.

Den Ausgangspunkt für den Wiederaufstieg der Juden in Deutschland bildete der Dreißigjährige Krieg, in dem sie ihre überregionalen Beziehungen nutzten und den Fürsten bei der Versorgung ihrer Söldnerheere halfen.86 In England war es, wie wir sahen, der Bürgerkrieg, der Cromwell dazu brachte, sich für die Wiedereinwanderung der Juden einzusetzen, nicht zuletzt, um seine Armee zu finanzieren!87 Es war also die konfessionelle Spaltung der Christenheit und der Zerfall der alten Ordnung Europas, die dem Judentum eine neue Chance eröffnete.

Diese Chance nahm mit der neuen Wirtschaftspolitik des absoluten Staates, dem Merkantilismus, eine konkrete Gestalt an. Der Merkantilismus sah im Handel, nicht in der Arbeit, die Quelle des Reichtums und verstand unter Reichtum nicht eine Fülle von Gütern, sondern abrechenbares Geld bzw. öffentliche Einnahmen. Diese Annahme passte ausgezeichnet zu den Vorstellungen und Fähigkeiten, die die jüdische Elite entwickelt hatte. Und so besaßen schon Ende des 17. Jahrhunderts fast alle Fürsten einen oder gleich mehrere sogenannte »Hofjuden«, die sich um ihre finanziellen Angelegenheiten kümmerten und dafür reichlich belohnt wurden. »Der Name Hofjude war allgemein, nur in Preußen hießen sie charakteristischerweise ›generalprivilegierte Juden‹. Der Name war keine Übertreibung. Hofjuden genossen alle Privilegien: sie konnten Wohnsitz nehmen, wo es ihnen beliebte, reisen, soweit der Machtbereich ihrer Fürsten reichte, Waffen tragen und speziellen Schutz der lokalen Behörden fordern. Ihr Lebensstil pflegte sehr viel höher zu sein als der des Mittelstandes der Zeit.«88 Die Wiener Familien Wertheimer und Oppenheimer z.B. verfügten über mehrere Paläste und Gärten nicht nur in Wien, sondern zugleich in Worms, Frankfurt und Mannheim.89 Sie übten auch öffentlichen Einfluss aus. So erreichten sie, dass ein bekanntes Sammelwerk aller Argumente des Antijudaismus, Eisenmengers Entdecktes Judentum von 1703, im Habsburger Reich verboten wurde.90 Um noch einige prominente Fälle zu nennen: August der Starke wäre ohne die Kredite seines Hofjuden Behrend Lehmann nicht König von Polen geworden. Er beschäftigte darüber hinaus noch Hoffaktoren aus 35 Frankfurter Familien. Ebenso brauchte Ernst August von Hannover die finanzielle Unterstützung von Lettmann Behrens, um Kurfürst zu werden.91 Friedrich der Große gab seinen Berliner Hofjuden den Auftrag, zur Kriegsfinanzierung Münzmanipulationen vorzunehmen und ließ sie auf diese Weise zu Reichtum kommen.92

Wen wundert es da, dass diese Privilegierten, die aus ihrer ertragreichen Sonderstellung überhaupt kein Geheimnis machten, als Repräsentanten des Judentums genommen wurden und viel Unmut, ja Hass auf sich zogen? Zumal dann, wenn das Volk nicht den Mut hatte, die Fürstenherrschaft selbst in Frage zu stellen! Exemplarisch steht dafür der – im öffentlichen Bewusstsein noch durch den nationalsozialistischen Film Jud Süß verankerte – Stuttgarter Joseph Süß Oppenheimer, der von 1733 bis 1737 eine Art Finanzminister des Herzogs von Württemberg war. Wegen seiner in der Tat rigorosen Methoden der Geldbeschaffung wurde er nach dem plötzlichen Tod des Herzogs verhaftet, angeklagt und schließlich hingerichtet.

8. Das einflussreichste Finanzhaus Europas

Dieses Schicksal wäre ohne den Tod des Herzogs nicht denkbar gewesen, ein Umstand, der noch einmal die politische Abhängigkeit der Hofjuden von den Fürsten offenbart, die wiederum ökonomisch von jenen abhängig waren! Das Verhältnis änderte sich jedoch grundlegend nach der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen, und diese Veränderung zeigte sich exemplarisch am sagenhaften Aufstieg der Familie Rothschild zum reichsten und einflussreichsten Finanzhaus Europas. Dessen Staatsnähe bestand nun in einer bemerkenswerten Nähe zu mehreren, ja sogar zu den wichtigsten europäischen Staaten zugleich, und in der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, dass deren Oberhäupter vor den Rothschilds fast auf den Knien lagen.

Der Gründer des Familienunternehmens Mayer Amschel Rothschild stammte aus der Frankfurter Judengasse, war dann zunächst Hofjude beim hessischen Kurfürsten, bis er sich selbstständig machte und sein Geschäft mit Hilfe seiner fünf Söhne bewusst international ausbaute, indem er sie in Frankfurt, Paris, London, Neapel und Wien gleichzeitig platzierte. Den entscheidenden Durchbruch erzielte die Firma schließlich dank britischer Staatsaufträge im Krieg gegen Napoleon: wesentlich war die finanzielle Versorgung der Armee Wellingtons auf dem Kontinent und der Transfer der Hilfsgelder für Preußen und Österreich.93 Nach dem Krieg war der Finanzbedarf der Staaten gewaltig und wurde durch die Ausgabe von Staatsanleihen gedeckt. Diese Aufgabe musste wieder Rothschild übernehmen, denn die Anleihen wurden von den Leuten nur gezeichnet, wenn eine kapitalstarke Bank sie garantierte.94

Was war nun charakteristisch für die Rothschilds?

Erstens natürlich der irrsinnige und offen zur Schau gestellte Reichtum, den man in Beziehung setzen muss zum furchtbaren proletarischen Elend, das sich gerade in dieser Phase des Kapitalismus ausbreitete. »Reich wie Rothschild« wurde zum geflügelten Wort. Viele Sozialisten, besonders in Frankreich, waren daher zugleich antijüdisch eingestellt, weil sie dieses in der Tat dominierende jüdische Kapital als repräsentativ für das Kapital überhaupt ansahen.

Zweitens waren die Rothschilds aber ein Phänomen der Restauration und insofern gerade nicht repräsentativ für den aufsteigenden Kapitalismus. Das wird schon deutlich an ihrer Nähe zu den Herrschern der Restaurationszeit, besonders zu den Habsburgern, während sie mit den aufstrebenden Industrien eher wenig zu tun hatten – immerhin war die österreichische Eisenbahn in ihrer Hand. Sie galten als die »Großschatzmeister der Heiligen Allianz«95 und wurden schließlich geadelt. Den erste, ihnen gewidmete Eintrag im Brockhaus von 1827 hat kein Geringerer als Friedrich von Gentz, der Berater Metternichs, im Auftrag der Familie verfasst.96 Mit ihrer Nähe zu den Königshäusern provozierten sie letztlich auch den liberalen Antisemitismus, der aber erst im späten 19. Jahrhundert zu einer wichtigen Kraft wurde, was man an Georg Schönerer, dem Führer der Liberalen in Österreich, gut studieren kann.97 Dass Schönerer dann Hitler stark beeinflusst hat, ist bekannt.

Die Verbindung der Rothschilds mit der Politik der Restauration wird auch daran deutlich, dass sie gegen die allgemeine Judenemanzipation waren, weil sie um ihre Privilegien fürchteten.98 Das scheint zunächst paradox, wird aber sofort verständlich, wenn wir uns an das erinnern, was wir oben über die Klassenspaltung innerhalb des Judentums festgestellt haben. Insofern ist es natürlich missverständlich, von »den Juden« zu sprechen – wie bei allen anderen Völkern auch.

Nun war bei der rechtlichen Gleichstellung der Juden die Konversion zum Christentum oder die Reduktion des Judentums auf ein privates Bekenntnis erforderlich. Daher war es nur konsequent, dass die Rothschilds es auch selbst ablehnten, zum Christentum überzutreten, vielmehr auf ihrem Judesein beharrten, und zwar nicht nur im religiösen, sondern auch im »völkischen« Sinne. So wurde Lionel Rothschild mehrmals ins britische Parlament gewählt, konnte jedoch seinen Sitz nicht einnehmen, weil er es ablehnte, den traditionellen Eid auf »den wahren christlichen Glauben« zu schwören – bis er es 1858 erreichte, dass die Eidesformel geändert wurde.99 Dass sie ihr Judentum auch als Volkszugehörigkeit begriffen, wurde an ihrer entschiedenen Aversion gegen die Mischehe sichtbar, selbst wenn sie gesellschaftlichen Aufstieg versprach.100 Erst im späteren 19. Jahrhundert änderten die Rothschilds ihre Heiratspolitik, indem nun die Töchter nichtjüdische Adlige heiraten durften und nur die Söhne rein jüdisch bleiben mussten.101

Dass die Rothschilds so kompromisslos auf ihrem Judentum bestanden, lässt sich am besten aus dem Geist der Restauration erklären. Nach den Wirren, die die Aufklärung und die Französische Revolution mit sich gebracht hatten, sollten endlich alte, »echte« Religiosität, Frömmigkeit und Ordnung wiederhergestellt werden. Und war nicht gerade das Judentum eine bewundernswerte und außerordentlich stabile Gestalt einer solchen Frömmigkeit? Während die inhaltlichen Unterschiede der Konfessionen und Religionen an Bedeutung verloren, gab es demnach nicht nur eine Restauration des Christentums, sondern auch eine des Judentums.

Über die Nähe der jüdischen Eliten zur Geldwirtschaft braucht nach dem, was wir gesehen haben, wohl kein Streit mehr zu herrschen. Um aber noch einige glanzvolle Namen der Zeit nach den Rothschilds zu erwähnen: Bleichröder, der Bankier Bismarcks, vom Kaiser geadelt; Warburg, der Mitgründer der Commerz- und Disconto-Bank, mit wichtigen Beziehungen in die USA; oder Gutmann, Vorstandsvorsitzender der Dresdner Bank, einer der ersten Aktienbanken; in den USA wäre Seligman zu nennen, der die Nordstaaten im Bürgerkrieg finanzierte; auch Goldman-Sachs und Lehman Brothers, die ja in der letzten Finanzkrise wieder unser Interesse weckten.102 Nicht die Tatsache der Nähe zum Geldhandel kann strittig sein, nur ihre Bewertung. So heißt es in einem etwas übereifrigen Buch aus der Zeit der »New Economy«: »Wer dem Klischeebild vom Geldjuden das Gegenbild des gottesfürchtig-gütigen Rabbiners oder des anthroposophischen jüdischen Aufklärers entgegenstellt; wer krampfhaft versucht zu beweisen, dass auch die Juden »Kultur« haben, kapituliert vor der Logik der Antisemiten. Dem Judenhass kann man nur die Stirn bieten, wenn man sich entschieden zum ›Geldjuden‹ und zu seinen für Europa wegweisenden Leistungen bekennt.« Als »die lapidarste und zugleich genaueste Definition Europas« wird dann bekanntgegeben: »Europa ist Rothschild«.103 Wie so oft bleibt dabei im Eifer des Gefechts die Logik auf der Strecke: Dem Klischeebild kann man also nur begegnen, indem man sich zu ihm als zutreffend bekennt? Dem Judenhass kann man also nur die Stirn bieten, indem man ihn bestätigt? Bei weniger eifernden Autoren geht es zunächst um die Frage, wie viele Banken denn in jüdischem Besitz waren, so dass der Beweis der Nähe erst dann erbracht wäre, wenn es sich um eine deutliche Mehrheit handelt. Das war aber in Deutschland und Österreich vor dem Ersten Weltkrieg tatsächlich der Fall. 79 % der Privatbankiers in Deutschland waren Juden, und die Wiener Banken wurden zu 80 % von jüdischen Direktoren geleitet.104 In Frankreich und England war der Anteil weit geringer, er lag bei 20 % bzw. 7 %, was man als einen Grund für den schwächer ausgeprägten Antisemitismus ansehen kann.105 Noch überzeugender wird der Beweis, wenn wir die deutschen 79 % ins Verhältnis zum Bevölkerungsanteil der Juden setzen, der um die Jahrhundertwende nur rund 1 % betrug. Selbst wenn der Bevölkerungsanteil z.B. 10 % oder der Anteil der jüdischen Banker nur 37 % betragen hätte, wäre deren Zahl immer noch überproportional hoch. Ein weiterer Vergleich: Rund 50 % der jüdischen Beschäftigten waren im Handel und Bankwesen tätig, aber nur knapp 11 % der Gesamtzahl der Beschäftigten in Deutschland.106

Aber diese statistischen Erörterungen führen erst hin zum entscheidenden Punkt. Denn es ging in den damaligen Debatten z.B. zwischen Werner Sombart und Max Weber nicht um diese quantitativen Fragen, sondern um die Frage nach einer Wesensverwandtschaft zwischen dem Geist des Finanzkapitalismus und der jüdischen Ethik bzw. um die Frage nach dem ideellen Ursprung des Finanzkapitalismus. Wenn es aber zutraf, dass jüdische Verhaltensmuster von anderen Nationen längst übernommen worden waren und weiter Schule machten, dann war gar nicht mehr zu erwarten, dass eine Mehrheit der Finanzhäuser in jüdischer Hand sein würde. Deswegen ist das auch heute nicht mehr der springende Punkt.

9. Einer der ersten Rassentheoretiker wird zum mächtigsten Mann der Welt

Als wir vom Geist der Restauration sprachen, befanden wir uns auch schon ganz nah am Rassegedanken! Lassen wir seine spätere pseudowissenschaftliche Ausgestaltung beiseite, so erscheint er zuerst als ein Produkt der Restaurationszeit, und zwar noch vor Gobineau bei Benjamin Disraeli (1804–81), dem beliebten Schriftsteller und späteren britischen Premierminister.107 Er war mit den Rothschilds nicht nur eng befreundet, sondern sah genau in ihnen das Symbol der jüdischen Rasse, die aufgrund ihrer Reinheit und Überlegenheit nicht untergehen könne.

»Rothschild war in seinen Augen der Repräsentant des ganzen jüdischen Volkes, und er hatte es nicht nur am weitesten gebracht, sondern auch die strengste Familienpolitik befolgt. In den Rothschilds sah er die ›auserwählten Männer des auserwählten Volkes‹, und aus dieser Realität bezog er seine Rassentheorien.«108

Wir dürfen ohne weiteres hinzufügen: Disraeli bezog sie auch aus der Erfahrung seines eigenen wunderbaren Aufstiegs zum mächtigsten Politiker der damaligen Welt! Denn damit war ja der Durchbruch geschafft von der bisher nur indirekten, finanziellen zur direkten Herrschaft »eines auserwählten Mannes einer auserwählten Rasse«, wie er sich selbst verstand.109 Man muss sich den Triumph vor Augen führen, dass nach fast zwei Jahrtausenden jüdischer Existenz ohne Staat ein Vertreter dieses Volkes plötzlich an die Spitze des größten Imperiums der Geschichte gelangte! Die Restauration alter Religiosität und Ordnung, von der wir eben sprachen, schien also tatsächlich Erfolg zu haben. So wird der Rückgriff auf eine Substanzkategorie wie »Rasse« durchaus plausibel: Die Imperien kommen und gehen, die echte Rasse aber bleibt.

In seinem Roman Coningsby (1844) unterscheidet Disraeli fünf verschiedene Rassen, und die »kaukasische« wird von den Juden unvermischt repräsentiert: »Eine reine Rasse wie die kaukasische kann nicht vernichtet werden. Das ist eine physiologische Tatsache; ein simples Naturgesetz. (…) Kein Strafgesetz, keine Folter kann bewirken, dass eine überlegene Rasse in einer untergeordneten aufgeht oder durch sie zerstört wird. Die vermischten nachfolgenden Rassen verschwinden; die reine Rasse bleibt bestehen.«110 In seiner Biographie über Lord George Bentinck (1851), seinen Vorgänger in der Parteiführung, heißt es: »Alle Um- und Irrwege der Geschichte laufen auf eine Lösung hinaus – alles ist Rasse.« Und weiter heißt es: »Das einzige, was Rasse schafft, ist Blut.«111 Um sich den Briten verständlich zu machen, fragt er rhetorisch: »Was wäre die Folge für die angelsächsische Republik beispielsweise, würden ihre Bürger ihrem gesunden Grundsatz des Vorbehalts abtrünnig werden und sich mit ihren negriden oder farbigen Populationen vermischen?«112 So kommt Hannah Arendt zu dem Schluss: »Er war der erste Europäer, der viel radikaler als später Gobineau und viel konsequenter als die wissenschaftlich verkleideten Krämerseelen behauptet hat, dass ›Rasse alles‹ sei und auf dem ›Blut‹ beruhe. In diesem getauften Juden, der vom Christentum wenig und von jüdischer Religion nichts mehr verstand, treffen wir in voller Reinheit jenen naturalistischen Begriff der Auserwähltheit (…).«113

Dass Disraeli im restaurativen Kontext dachte, kann man schon daran erkennen, dass er Anfang der 1840er Jahre über die Bewegung »Junges England« den Einstieg in die Politik fand. Wobei das »Jung« nicht missverstanden werden darf, denn die Bewegung war gegen die Reformen der Whigs und den voranschreitenden Kapitalismus gerichtet und setzte auf eine Erneuerung des Adels und des christlich-mittelalterlichen Geistes. Ihre Ziele hat Disraeli in klassischer Weise zusammengefasst: »Die Oligarchie rückgängig machen und durch eine hochherzige Aristokratie ersetzen, die um einen wahren Thron versammelt ist; die Kirche mit neuem Leben und neuer Kraft erfüllen, damit sie wieder als Erzieher der Nation wirken kann; (…) den körperlichen und den moralischen Zustand des Volkes heben, indem statuiert wird, dass die Arbeiter ebenso geschützt werden müssen wie der Besitz; und das alles, indem historische Formen zur Anwendung gelangen und die Vergangenheit in ihre alten Rechte eingesetzt wird, und nicht durch politische Revolutionen, die in abstrakten Ideen wurzeln.«114

In der Bewunderung »echten« Adels, die Disraeli empfand, steckte der Rassegedanke, der allerdings im elitären Judentum nach seiner Meinung noch besser verwirklicht war.115 Er selbst erhielt später (1876) auch die Peerswürde mit dem Titel eines Earl of Beaconsfield. Was im Text anklingt, hat er als Führer der Tories tatsächlich umgesetzt, nämlich die Partei für die soziale Frage zu öffnen. Die Kehrseite der Stabilisierung im Innern war jedoch, dass er als Premier eine aktive imperialistische Außenpolitik betreiben konnte. Und zwar wieder – was oft vergessen wird – mit restaurativer Legitimation. Der Westen müsse sich durch Rückkehr zu den orientalischen Wurzeln der Religion geistig erneuern! Daher der Erwerb der Suez-Kanal-Aktien, die Einmischung in die Balkankrisen und die kuriose Erhebung Königin Victorias zur Kaiserin von Indien.116 Von irgendeiner Form jüdischer Weltherrschaft hat Disraeli offenbar lebenslang geträumt. Schon in seinem ersten Roman Alroy (1833) spielt eine abgesonderte jüdische Herrscherkaste eine Rolle, später ist vom jüdischen Geld die Rede, das über den Aufstieg und Fall der Reiche entscheidet oder von allen möglichen Geheimgesellschaften, die von Juden umtriebig geleitet werden.117 »Es ist verblüffend, zu sehen, wie vollständig dies später von den Antisemiten entworfene Bild einer jüdischen Weltherrschaft sich bereits in Disraelis Kopfe malte. Es fehlte nicht einmal der geschickteste aller Hitlerschen Propagandatricks, die Behauptung eines geheimen Bündnisses zwischen jüdischen Kapitalisten und Sozialisten.«118

Wenn Hannah Arendts These zutrifft, dass Disraeli der erste Europäer war, der das Rasseprinzip vertreten hat, und zwar radikaler und konsequenter als seine Nachfolger, so fragt man sich allerdings, warum er in neueren einschlägigen Werken über Rassismus (Imanuel Geiss, George M. Fredrickson) als solcher überhaupt nicht erwähnt wird. Und warum kommt er, obwohl doch recht prominent, auch in neueren Geschichten des Judentums (Michael Brenner, Martin H. Jung) gar nicht vor? Oder warum wird er in der Neuauflage des Jüdischen Lexikons zwar behandelt, aber ohne den geringsten Hinweis auf sein Rassedenken? Das kann nicht bloße Unkenntnis sein, da ist die bewusst selektive Wahrnehmung am Werk, von der eingangs die Rede war. Hätten wir nicht die redliche Hannah Arendt, so würden wir über diesen Propheten des Rassismus wohl kaum noch etwas erfahren.

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