Kitabı oku: «Tingeln durch das Land Danach – Band 1», sayfa 2

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Denn schon sehr früh durften wir „runter“ auf die Straße und wurden zu selbstständigen kleinen Stromern. Bereits im Alter von drei Jahren spielten wir frei und ohne Aufsicht in den Straßen unseres Viertels – wie auch die Nachbarskinder um uns herum, ja, wie die meisten Kinder in den Vierziger Jahren. Natürlich gab es durchaus einigen Straßenverkehr – Autos und Pferdewagen, Motorräder (oft mit Beiwagen), Fahrräder natürlich –, aber der Verkehr galt nicht als gefährlich: wir sollten halt aufpassen – und die Größeren hatten die Kleinen zu beaufsichtigen. So streunten wir schon im zarten Alter souverän durch die Straßen der Stadt, meist in kleinen Horden, kleinen „Kinderbanden“. Manchmal allerdings machte ich mich auch allein auf die Pirsch durch die alte Stadt. Ich begann schon früh zu „tingeln“.

Wenn ich mir heute auf einer Karte anschaue, welch abenteuerliche Eroberungszüge wir im Alter von drei, vier, fünf Jahren durch die Straßen der Stadt veranstaltet haben, stelle ich fest: eine längst vergangene Epoche. Eine solche Kindheit gibt es nicht mehr: der Autoverkehr hat sie abgeschafft.

Natürlich waren immer auch Erwachsene um uns herum in den Straßen und auf den Plätzen, die uns auch irgendwie wahrnahmen – aber es gab keine „Aufsichtspersonen“, die uns sagten, was wir zu tun und was wir zu lassen hatten oder die sich in unsere Händel einmischten. Meist spielten wir ja durchaus harmonisch und lustvoll stundenlang miteinander, aber natürlich gab es auch Konflikte, Streitereien, Zank und Krieg zwischen den Kinderbanden meines Viertels. Wir waren keine „kleinen Engel“, wir übten auch Macht aus, wir stänkerten uns an, wir kämpften miteinander und schlugen zu. Dann allerdings war da niemand, der eingriff und uns auseinander zerrte.

So durchlebte ich die Traumzeit meiner „ersten Welt“. Der Schutz und die Geborgenheit im Nest meiner Mutter gehörten so selbstverständlich zu meinem Leben wie die Freiheit und das Abenteuer in den Straßen und Gassen der alten Stadt, in denen ich flügge wurde.

In der neuen Welt

Ich habe kaum eine Erinnerung an den Tag, an dem wir unser Nest gegen die Baracke austauschten. Die Umsetzung in unser neues Habitat erfolgte abrupt und kam für uns Kinder völlig überraschend.

Man hatte uns zur Oma gebracht, die ganz in der Nähe unserer Zentralstraße wohnte und die uns immer dann betreute, wenn es nötig war. Sie nahm ihre fünf Enkelkinder alle auf einmal für einen ganzen Tag in ihre Obhut, während die anderen Erwachsenen, unsere Eltern und der „Alte“, unser Großvater, verschwunden waren.

Am Abend dieses sonnigen Herbsttages geschah es. Sie nahm die Kleine bei der Hand, sie schob den Kinderwagen mit dem Jüngsten, der noch keine zwei Jahre alt war, und führte uns die Wittekindstraße entlang, unter der Eisenbahnunterführung hindurch, über die Schafbrücke, die die Hamel überquert, immer weiter in Richtung der Werkstatt unseres Großvaters, den wir „Oppa“ nannten. Wir gingen schließlich die lange Kuhbrückenstraße entlang und hinter der Weide mit den weißen Ponys schwenkten wir nach rechts, kurz danach nach links auf den großen Hof vor der Werkstatt unseres Oppas. Plötzlich waren sie alle wieder da: unsere Eltern, der Großvater, aber auch Theo, der Geselle, Hubert, der Lehrling, und auch noch einige andere Männer, die ich nicht kannte. Unsere Oma führte uns durch einen kleinen weißen Vorbau, der in die Räume im nördlichen Endstück der Baracke führte, wo bisher das Büro der Firma meines Oppas und die Pausenräume für die Mitarbeiter untergebracht waren.

„Hier werdet ihr von nun an wohnen“, sagte meine Oma. Es klang nicht sehr fröhlich, nein, im Gegenteil, es klang ziemlich bedrückt.

Ich schaute mich um und war baff. Alles, was ich sah, war mir völlig vertraut und doch völlig fremd. Es war mir, als sähe ich die Welt meiner Kindheit durch einen Zerrspiegel, und als ich den ersten Rundlauf durch die fünf Räume unserer neuen Wohnung machte, hatte ich das Gefühl, als bewegte ich mich in einer völlig verrutschten Wirklichkeit.

***

Wenn man den kleinen weißen Vorbau durchquerte, landete man zuerst in dem Raum, der unsere Küche sein würde. Die Küche wurde in den folgenden Jahren unser Empfangszimmer, hier spielte sich fast unser ganzes Leben ab.

Hinten links stand der klassische Kohleherd, wie er noch in den meisten Küchen der Vierziger Jahre zu finden war. Er hatte einen Backofen und drei Kochplatten, deren Hitze man dadurch regulierte, dass man die Anzahl der Ringe veränderte. Man musste den kleinen Deckel in der Mitte und die heißen inneren Ringe mit einem Schürhaken herausfischen, wenn man die Hitze erhöhen wollte. Einen solchen Herd hatten wir auch in der alten Wohnung gehabt. Der wurde allerdings nur im Winter zum Kochen benutzt, wenn man gleichzeitig die Küche heizen wollte. Ansonsten kochte meine Mutter auf dem Gasherd. Hier, in dieser seltsamen „Küche“, gab es keinen Gasherd. Vier Jahre lang kochte meine Mutter nur auf diesem Herd mit Holz und Kohle, sommers wie winters. Ihr oft geäußerter Wunsch nach einer Elektrokochplatte ging nie in Erfüllung. Die beiden „Puttker“, der Oppa und sein Sohn, mein Vater, stellten sich jahrelang taub und schafften es nicht, ihr so ein Ding zu beschaffen. Einen Gasherd mit Propangasflasche aufzustellen, wie ich das später bei Nachbarn sah, die ebenfalls in einer Baracke wohnten, lag wohl auch außerhalb ihres Horizontes.

Es gab keine Anrichte, keine Spüle mit einem Wasserhahn darüber, wie es bisher für uns selbstverständlich war, sondern rechts in der Ecke stand eine rote altmodisch geformte eiserne Pumpe mit einem geschwungenen Schwengel. Daneben sah ich einen gemauerten rechteckigen Bottich, der mit breiten passenden Holzbrettern abgedeckt war. Wie ich alsbald lernte, war dieser Bottich unser „Badezimmer“. Unsere Mutter stellte einmal in der Woche eine Zinkwanne hinein, erhitzte Wasser in großen Töpfen auf dem Herd, mischte es mit dem kalten Wasser aus der Pumpe und schrubbte ihre Kinder sauber. Und wenn sie allein war, war dieser Ort, der mit einem kleinen Spiegel an der Wand ausgestattet war, ihr „Bad“, in dem sie sich wusch, frisierte und schön machte. Duschen und wohlig in der Wanne liegen wie bisher – das gab es nicht mehr. Der gemauerte Bottich verwandelte sich zu bestimmten Zeiten dann auch in unsere „Waschküche“: hier wurde die „kleine“ und die „große“ Wäsche gewaschen.

In der Mitte des Raumes stand ein neuer Küchentisch. Den alten, an dem ich oft gesessen und gegessen und in den magischen Vorhang geträumt hatte, gab es nicht mehr. Bei unserem neuen Küchentisch konnte man seitlich ein Gestell herausfahren, in dem zwei Waschschüsseln hingen. Eine Spüle gab es ja nun nicht mehr. Bei jedem Abwasch musste erst ein Kessel mit Wasser auf dem Herd erhitzt werden, das wir dann in die eine der Schüsseln kippten, kaltes Wasser zum Mischen holten wir aus der Pumpe. Die zweite Waschschüssel wurde mit klarem, kaltem Wasser gefüllt – zum Nachspülen des Geschirrs und der Bestecke. So wuschen wir vier Jahre lang ab.

Unser großer elfenbeinfarbener Küchenschrank stand hinten rechts an der Wand, der einzige Gegenstand, der unverändert aus der alten in die neue Welt ausgewandert war – das Einzige in dieser verzerrten Küche, was mir noch vertraut war.

Neben dem Küchenschrank gab es eine Tür, die in einen kleinen schmalen Raum führte. Als ich neugierig eindrang, stellte ich fest, dass hier das edle Schleiflack-Esszimmer untergebracht war, auf das meine Mutter in unserer alten Wohnung so stolz war. In dem Barackenambiente kam es mir allerdings deplatziert vor, denn ich wusste schon vom ersten Tag an: an diesen Ort würde unsere Mutter keine ihrer alten Freundinnen mehr einladen, hier würde es überhaupt keine Feste mit Freunden mehr geben. Das sahen wohl auch die beiden „Puttker“, Vater und Oppa, so, denn schon wenige Monate später, als mal wieder Ebbe in der Firmenkasse herrschte, verhökerten sie das Esszimmer. Von dem Erlös landete nur wenig in der Haushaltskasse meiner Mutter.

Jedes der Zimmer meines Rundlaufs hatte zwei Türen, denn jeder Raum war mit zwei Nachbarräumen verbunden. Es gab keinen Korridor. Das nächste Zimmer in meinem Rundlauf war das Wohnzimmer. Es wirkte ziemlich voll geprumpst. Es enthielt die alten schönen Eichenmöbel, den schwarz gebeizten Schreibtisch mit dem schwarz gebeiztem Arbeitsstuhl und den schwarz gebeizten Bücherschrank, einen runden, schwarz gebeizten Esstisch mit vier Stühlen und die beiden „Clubsessel“ mit ihrem „Rauchtisch“. Das Wohnzimmer war der einzige Raum – abgesehen von der Küche –, der einen eigenen Zugang zum Kamin hatte und den man daher auch beheizen konnte. Vor dem Schornstein stand in der Tat ein schlanker, hoher Kohleofen. Das Wohnzimmer wurde allerdings nur sehr selten beheizt und bewohnt. Nur zu Weihnachten und zu Silvester/Neujahr wurde es zum Festzimmer. Es war sehr behaglich, denn es hatte eine Besonderheit. Während alle sonstigen Räume schräge Zimmerdecken hatten, Barackendecken, hatte man hier eine neue Decke eingezogen, so dass die Schräge des Barackendaches nicht sichtbar war. Die Decke bestand aus Holzfachen, getäfelt mit glänzenden Pressspanplatten. Sie sah sehr schön aus, so empfand ich, als ich meinen ersten Rundlauf veranstaltete.

Das nächste Zimmer war das Elternschlafzimmer mit den vertrauten Möbeln, die allerdings anders arrangiert waren. Da hatte sich wenig geändert. Ich rannte durch zur zweiten Tür und landete schließlich im Kinderzimmer. Es war so groß, dass alle fünf Betten gut hineinpassten, dazu noch unser Kleiderschrank, aber kein Stuhl und kein Tisch: dazu war der Raum dann doch zu klein. Ich rannte durch die zweite Tür unseres Kinderzimmers und landete wieder in der Küche. Das war’s. Das war der Rundlauf durch die „zweite“ Welt meiner Kindheit.

Die Waschkaue

Eine Besonderheit unseres Kinderzimmers möchte ich nicht unerwähnt lassen. An der westlichen Außenwand, die auf die Zwischenwand zur Küche hinlief, befand sich ein gemauerter „Schweinetrog“ – so nannten wir Kinder das seltsame Gebilde, das wir da vorfanden. Tatsächlich – so ließ ich mir irgendwann erklären – handelte es sich um eine „Waschkaue“, die ursprünglich einmal an unserer Wasserstelle, der Pumpe, begann und durch einen einzigen langen Raum an der Wand entlang lief, den es nun nicht mehr gab, weil dieser Raum durch eine Zwischenwand in zwei Teile geteilt worden war, um Küche und Kinderzimmer abzuteilen. In der neu entstandenen „Küche“ hatte man die Waschkaue weggekloppt. Ursprünglich war die Waschkaue also um die acht oder neun Meter lang. Wenn man sie mit dem Wasser aus der Pumpe füllte, konnten sich – so stellte ich mir vor – ungefähr zehn bis fünfzehn Menschen gleichzeitig in der Brühe waschen.

In unserem Kinderzimmer war die übrig gebliebene „Waschkaue“ mit Holzdeckeln versehen, die man aufklappen konnte. So wurde sie zu einem Möbelstück für uns: hier brachten wir unsere vielen Schuhe unter und außerdem das Schuhputzzeug: Bürsten, Lappen und Schuhcreme.

Dieser eigenartige Fremdkörper – die „Waschkaue“ – irritierte mich als Kind immer dann, wenn ich ihn bewusst wahrnahm, z. B. wenn ich Schuhe herausangelte oder hineinwarf. Die Kaue war mir rätselhaft und ich bin lange Zeit nicht darauf gekommen, warum sie da war und was es damit auf sich hatte.

Erst Jahre später, als ich mir klarmachte, welchem Zweck „unsere“ Baracke einstmals gedient hatte, löste sich auch das Rätsel der „Waschkaue“.

***

Das also war unser neues Zuhause.

Die Zivilisation, so wie ich sie bisher kannte, hatte sich mit einem Tag verändert: sie war verrutscht, sie wurde „verrückt“. Mein Leben veränderte sich gründlich, denn die zweite Phase der Kindheit, die Zeit der Bewusstwerdung und des Nachdenkens über das, was rundum geschieht, durchlebte ich außerhalb der bürgerlichen Normalität.

Die Jahre zwischen sechs und zehn sind ja einerseits die Zeit, in der man mit der Zuckertüte im Arm in die Zivilisation eingeführt wird und lesen, schreiben, rechnen und nachdenken lernt. Andererseits war das die Zeit, in der ich meine vertraute Kinderwelt verließ. Was ich stattdessen bekam, war eine „geschrumpfte“ Zivilisation, eine andere Welt, eine neue Zeit: neue Spiele, neue Freunde, neue Arbeiten und Mühen, neue Abenteuer und Katastrophen. Eine Fülle von Bildern und Geschichten lagerte sich in meinem Kopf ab und schwoll im Laufe der Zeit immer mehr an.

Denn so ist das mit unseren Erinnerungen: mit dem Älterwerden, mit dem Zuwachs an Erkenntnissen, mit dem wachsenden Durchblick fangen wir an zu verstehen. Unsere Geschichten werden voll und präzise, sie erzählen sich zu Ende. Die frühen Bilder und Erlebnisse jener Jahre meiner Kindheit verloren mit der Zeit ihre unerklärlichen Schatten, ihre zuweilen bedrückende Rätselhaftigkeit, und wurden deutbar.

2 Neue Spiele, neue Freunde

Vier Jahre Barackenzeit: ein langer Tag und eine lange Nacht, zusammen gebacken aus fast eintausendfünfhundert Tagen und Nächten. Vier Jahre, die später, in meiner Erinnerung, zu einer Einheit zusammenschmolzen, angefüllt mit den Urgeschichten meiner bewussten Kindheit, die mir für immer blieben.

Herd und Holz

Schon in den ersten Tagen und Wochen sahen wir beiden „Großen“, meine um fünfzehn Monate ältere Schwester und ich, dass sich das Leben unserer Mutter böse verschlimmert hatte, denn ihre Arbeitslast und Mühsal hatten sich vervielfacht gegenüber dem, was in unserer gutbürgerlichen, komfortablen Wohnung in der Innenstadt zu tun war.

Ihre fünf Kinder hatte sie jetzt unter Barackenbedingungen zu versorgen und großzuziehen – und der Jüngste war nicht einmal zwei Jahre alt. Der brauchte ja noch täglich seine Fläschchen und seine Breichen, wir anderen mussten täglich bekocht werden, es musste warmes Wasser bereitstehen zum Waschen und zum Abwaschen, der große Zinktopf musste erhitzt werden, in dem unsere Wäsche und die vielen Windeln des Kleinen gekocht wurden – all diese viele Wäsche über all die vielen Jahre, die dann hinterher auch noch in dem primitiv gemauerten Trog neben und unter der Pumpe gespült werden musste …

Die einzige Kochstelle, über die sie vier Jahre lang verfügte, war der Küchenherd. Der musste also täglich beheizt werden, das hieß: es musste täglich Anmachholz da sein, Holzscheite mussten gehackt, Kohlen herangeschafft werden, Papier und Streichhölzer mussten bereit liegen – und zwar immer, vier Jahre lang, sommers wie winters, Tag für Tag. Der kalte Ofen musste morgens ausgeleert, die Asche weggeschafft werden. Aus Papier und Anmachholz musste man ein Feuernest basteln, Scheite in die Flammen werfen, vorsichtig Stein- oder Eierkohlen in die Glut schütten und ständig auf der Hut sein, dass das Feuer nicht ausging, denn dann ging alles wieder von vorne los.

In der „normalen“ alten Wohnung hatte unsere Mutter auf einem Gasherd gekocht, das Wasser holte sie mit einer kleinen Handbewegung aus dem Wasserhahn – hier musste sie erst einmal kräftig pumpen, um den ersten Wasserschwall aus der Erde zu holen.

Ich spürte schon in den ersten Tagen und Wochen die raueren Bedingungen unseres neuen Lebens und nahm mir vor, meiner Mutter beizustehen, so gut ich es vermochte, und ihr in ihrer Not zu helfen. Ich war nicht allein: meine ältere Schwester verspürte von Anfang an den gleichen Wunsch. Wir beiden „Großen“ schlüpften in unsere Rollen als Mitorganisatoren unseres neuen Lebens und hielten diese Rollen vier Jahre lang durch. Wir waren die Einzigen, die halfen.

Meine jüngere Schwester war gerade mal fünf Jahre alt, als wir „umgesetzt“ wurden. Sie steckte noch in einer früheren – „kindlicheren“ – Phase des Lebens und nahm einfach hin, vermutlich ohne groß darüber nachzudenken, was das Schicksal ihr da bereitet hatte: eine merkwürdige Veränderung der Lebensumstände, von Papa und Mama nun einmal so angerichtet. Jedenfalls: sie hatte keinerlei Verpflichtung zur Mitarbeit – und das war in Ordnung so, denn dazu war sie einfach noch zu klein.

Der Älteste, unser Halbbruder, war meiner Mutter keine Hilfe. Er war schon zehn Jahre alt, als wir an den Rand zogen und er zog alsbald wieder zurück in die Innenstadt. Seine – leibliche – Mutter war wieder in Hameln aufgetaucht, vermutlich alarmiert durch die Nachricht, dass ihr Ex-Ehemann seine Frau und seine vielen Kinder in einer Barackenbehausung untergebracht hatte und zwar in einem „Nachtjackenviertel“, denn so nannten die Hamelner Gerechten Gegenden wie die unsere. Diese Frau, unseres Bruders Mutter, eröffnete eine Kneipe in der Alten Marktstraße, wo sie auch wohnte, und dort hielt sich mein Bruder von nun an am liebsten auf. Dort lernten sich Mutter und Sohn überhaupt erst kennen, denke ich heute, denn ihr Kind war ihr nach der Scheidung weggenommen worden. Nun hatten sie sich also wieder.

Auf jeden Fall: bei uns dort draußen ließ er sich immer seltener blicken und er beteiligte sich nicht an der gemeinsamen Arbeit. Er kam mir vor wie ein Gast, der sich immer mal wieder von unserer Mutter bedienen ließ, denn er mochte die Frau, die ihn großgezogen hatte.

Die Einzigen, die sie in ihrer Mühsal unterstützten, waren also wir: die beiden Anführer der Viererbande, die sie in die Welt gesetzt hatte, die „Großen“ in der Geschwisterreihe.

***

Axt und Beil waren die ersten Werkzeuge, mit denen ich in meinem Leben hantierte und die ich schon nach sehr kurzer Praxis perfekt handhabte, denn auf das Holzhacken verfiel ich bereits in den ersten Tagen nach unserer Umsetzung, also im Alter von sechseinhalb Jahren.

In der Nische zwischen dem kleinen weiß gekalkten Küchenvorbau und dem großen Garagentor lag ein großer Haufen Holz, als wir einzogen: runde, vom Stamm gesägte etwa fünfzehn Zentimeter dicke Baumscheiben, die unser Vater mit seinem Auto herangeschafft und dorthin abgeladen hatte. Er hatte sich vorgenommen, das Holz alsbald zu hacken, aber dazu kam es erst einmal nicht – er hatte immer etwas anderes zu tun, er verschwand Tag für Tag mit seinem Auto irgendwo in Niedersachsen und kam meistens erst sehr spät zurück – oder auch gar nicht. Ein paar Tage nach unserem Einzug in die Barackenwohnung beobachtete ich, wie unsere Mutter eine der Baumscheiben auf den Hackklotz legte und mit einem kurzstieligen Beil an ihm herumhackte. Sie brauchte dringend Holz für den Herd und versuchte, vom Rand der Baumscheibe Anmachholz abzuspelzen. Das sah sehr hilflos aus – und sie hatte auch kaum Erfolg damit. Das Bild rührte mich sehr und ich empfand zum ersten Mal den Drang, ihr zu helfen. Nachdem sie mit einer winzigen Menge Brennholz wieder in ihrer Küche verschwunden war, wurde ich aktiv.

Als Erstes ging ich durch das große Garagentor in die Werkstatt des Alten und fand schnell, was ich suchte. An der Wand, gleich hinter dem Tor, lehnte eine langstielige Axt, ein ziemlich schweres Ding, als ich sie mir zum ersten Mal griff. Man muss bedenken, dass ich noch keine sieben Jahre alt war, körperlich also noch ein ziemlich schmächtiges Hämelken. Ich legte eine der vielen Baumscheiben auf den Boden, stellte mich breitbeinig davor, schwang die Axt über meinen Kopf und ließ sie mit voller Wucht auf den Holzklotz niedersausen. Voller Erfolg auf den ersten Hieb! In der Mitte durchgeschlagen! Ich war glücklich. Ich legte mir eine der Hälften zurecht und als ich wieder zuschlagen wollte, öffnete sich das Küchenfenster. Ich sah das entsetzte Gesicht meiner Mutter.

„Du hörst sofort auf damit. Das ist viel zu gefährlich. Du kannst dich böse verletzen.“

„Nein“, sagte ich, „ich höre nicht auf!“ Ich guckte sie trotzig an. „Und das ist auch überhaupt nicht gefährlich. Ich mache doch die Beine breit – siehst du doch – wie soll ich mich denn so verletzen? – Geht gar nicht!“

„Ich möchte, dass du aufhörst! Die Arbeit ist viel zu schwer für dich.“

„Nein.“

Ich machte weiter und zerhackte eine gute Menge Baumscheiben zu Scheiten. Danach fing ich an, Anmachholz herzustellen – auch das war neu für mich. Ich stellte einen Scheit oben auf den Hackklotz, nahm jetzt das kurzstielige Beil zur Hand und teilte ihn mit einem einzigen Hieb. Danach wurde meine neue Arbeit komplizierter und auch gefährlicher. Die kleinen Holzscheite, die übrig blieben, waren noch zu grob und zu dick zum Anfeuern und daher als Anmachholz ungeeignet. Sie fielen allerdings meist um, wenn ich sie auf dem Hackklotz aufstellte, um sie zu zerspalten. Ich musste sie also mit der linken Hand festhalten, wenn ich mit dem Beil zuschlug. Kurz bevor das Beil in das Holz einschlug, zuckte meine linke Hand zurück – aus der Gefahrenzone. Ich gebe zu: hierbei hätte ich mir durchaus in die Finger hacken können, ich war ja Anfänger in dieser Technik, aber das ist nie passiert. Am Ende schaffte ich die Scheite und das Anmachholz in den winzigen Lagerschuppen in unserem Küchenvorbau und stapelte alles an der Wand auf. Ich war überrascht und ein wenig enttäuscht darüber, wie mickrig das aussah und war mir bewusst, dass ich von nun an immer wieder zuschlagen würde – mit der Axt fürs Grobe und dem Beil fürs Feine …

Holzhacken wurde eines meiner neuen Spiele, und ich muss sagen, dass ich es mit Lust und Spaß spielte. Immer wieder lagen dort die Baumscheiben, die mein Vater mit seinem Auto herangekarrt hatte. Nur selten hackte er selbst das Holz, meist am Wochenende, wenn er nicht unterwegs war und wir dann mal einen fröhlichen Vater um uns herum hatten. Wir brauchten aber nicht nur dann und wann einmal gehacktes Holz, wir brauchten jeden Tag unser Holz – kontinuierlich. Eine gute Tat irgendwann einmal an einem sonnigen Wochenende reichte da nicht aus. Ich hatte also reichlich Gelegenheit, in all den Jahren das Holzhackerspiel zu spielen. Einerseits machte es Spaß, körperlich aktiv zu sein und immer perfekter und routinierter zu werden. Andererseits wusste ich, dass ich etwas Nützliches tat: ich half meiner Mutter.

***

Auf die Dauer erkannte ich, dass man das Werkzeug, mit dem man ständig umgeht, in Schuss halten muss. Wenn sich der Stiel in seiner Fassung lockerte, nahm ich das Beil (oder die Axt) und spannte es fachmännisch in eine der schweren Schraubzwingen ein, die an der Werkbank in der Werkstatt des Alten befestigt waren. Ich suchte mir aus seinem Abfallschrott eiserne Keile, die ich in das Stielende, das in seiner eisernen Fassung steckte, mit einem geeigneten Hammer einschlug und damit den eingefassten Stiel auseinanderquetschte. Danach saß alles wieder bombenfest.

Waren die Schneiden von Axt und Beil stumpf geworden, ging ich in die Werkstatt und startete die Maschinen. Wenn die Schleifscheibe auf ihrem Bock in höchster Geschwindigkeit rotierte, ging ich ans Werk und schliff so lange, bis alles wieder messerscharf war – was ich mit dem Daumenballen überprüfte. Ich liebte das Kreischen, wenn ich ansetzte und loslegte. Ich stand dann in einem Funkenregen – und um meine Augen zu schützen, tat ich etwas, was ich dem Alten abgeguckt hatte. Auf seinem kleinen Schreibtisch, der in einer Ecke vor einem der Fenster stand, lag immer eine Nickelbrille mit runden Gläsern, die er aufsetzte, wenn er schliff. Diese Brille hat mich ziemlich amüsiert, als ich sie mir das erste Mal aus Jux auf die Nase setzte, denn ich sah fast nichts mehr. In die Gläser hatten sich mit der Zeit die winzigen glühenden Metallfunken eingeschossen und eine Oberfläche aus Eisenpickeln hergestellt. Wenn ich die Nickelbrille des Meisters dann allerdings selber beim Schleifen aufsetzte, konnte ich genau sehen, was ich tat: der grelle Funkenregen, der mich übersprühte, gab mir das Licht.

In der Werkstatt

Überhaupt: einer der interessantesten Spielorte in unserer neuen Welt war diese Werkstatt gleich nebenan, von unserer Wohnung nur durch eine massive Mauer getrennt. Eigentlich war sie ein verbotener Ort für uns, wir durften dort nicht spielen: der Alte hatte ein absolutes Tabu gesetzt. Dieses Tabu brachen wir allerdings ohne Umschweife und mit einem subversiven Lachen, wenn er nicht da war. Am Sonnabendnachmittag, wenn er heimgegangen war oder am Sonntag, wenn er gar nicht erst auftauchte, brachen wir dann und wann in sein Heiligtum ein, wenn uns die Lust überkam – vorausgesetzt, auch unser Vater war nicht da, der es uns natürlich ebenfalls verboten hätte.

Wir drangen zuerst in die große Garage ein, die sich direkt an unsere Küche anschloss. Das war leicht, denn der Schlüssel für das Garagentor hing immer in unserer Küche an einem besonderen Haken. In der hinteren Wand der Garage – das war zugleich die Mittelwand, die sich durch die ganze Länge der Baracke zog – befand sich eine Türöffnung, die in die Werkstatt führte.

Das seltsame „Langhaus“, in dem wir wohnten – unsere Baracke – war ungefähr sechzig Meter lang, etwa acht bis zehn Meter breit und ca. dreieinhalb Meter hoch. Ein überlanges Rechteck mit Seitenmauern aus rötlichen Ziegelsteinen und einer stabilen durchgehenden Mittelwand, die höher war als die Außenwände. Diese Mittelwand war wichtig für die primitive Dachkonstruktion: von der Mittelwand zu den Seitenmauern hatte man massive Bretter verlegt. So entstand ein einfaches Holzdach, das mit Teerpappe beklebt war. Uns Kindern war es verboten, auf dem Dach herum zu toben, denn wir hätten Löcher in die Pappe treten können, was zur Folge gehabt hätte, dass es bei Regen durchtröpfelte. Wir ließen uns durch das Verbot allerdings nicht davon abhalten, auch das Barackendach als Spielort zu erobern, achteten aber sorgfältig darauf, dass wir nicht über unserer Wohnung herum trampelten.

In das nördliche Ende des langen Rechtecks war unsere Wohnung hineingebaut worden, die vielleicht zehn Meter der Gesamtlänge in Anspruch nahm, dann folgte die Werkstatt des Alten, die gut zwanzig Meter lang war, daran schloss sich eine weitere Werkstatt an von ca. zwanzig Metern Länge und am südlichen Ende war noch einmal eine kleine Wohnung eingebaut worden.

Der Alte, unser „Oppa“ – das wusste ich schon früh – war Werkzeugmacher, der in den Neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts in einer der damals hochmodernen Drehbankfabriken sein Handwerk gelernt hatte. Später in seinem Leben legte er die Meisterprüfung als Klempner und Schmied ab, machte sich selbstständig und bildete selbst Lehrlinge aus. Seine Werkstatt war für seinen Job gut ausgestattet und gerade deswegen ein ausgefallener Spielort für Kinder wie uns, die außerhalb der bürgerlichen Zivilisation lebten und es für ihr selbstverständliches Privileg hielten, Tabus zu brechen und Gesetze zu übertreten.

Wenn man in das Heiligtum des Alten eindrang, fand man zur Linken, an der Trennwand zu unserer Wohnung, den Sicherungskasten, ein hängendes schwarzes Bakelit-Telefon und eine primitive Schalttafel, die nur zwei gummiummantelte Knöpfe enthielt: einen schwarzen und einen roten. Drückte man auf den schwarzen Knopf, so startete man einen großen Elektromotor, der in der Ecke stand – und der setzte nun seinerseits eine ganze Maschinenbatterie in Bewegung. Was dann ablief, hat mich als Kind ungemein fasziniert. Ich war nicht einmal sieben Jahre alt, als ich anfing in der Werkstatt des Alten zu „arbeiten“ und zu verstehen, was sich dort abspielte. Alles war neu für mich.

Wenn der Elektromotor auf vollen Touren lief, rotierte in rasender Geschwindigkeit ein breites Rad, das auf einer Achse steckte, die aus dem Motorgehäuse herausragte, und das setzte nun über einen festen ledernen Treibriemen eine etwa fünfzehn Meter lange Stahlwelle in Bewegung, die unterhalb der Barackendecke an der stabilen Mittelwand montiert war. Auf diese Welle waren in Abständen insgesamt vier breite, stabile Räder mit einer Eisenummantelung montiert. Über diese Räder hatte der Alte wiederum lederne Treibriemen gelegt, die mit den Schwungrädern an seinen Werkzeugmaschinen verbunden waren. So konnte er über sein Treibriemensystem mit einem einzigen Elektromotor vier Maschinen gleichzeitig in Bewegung setzen.

Gleich am Anfang seines Maschinenparks stand ein Schleifbock, in den der Alte runde Schleifsteine unterschiedlicher Größe und Körnigkeit einspannte. Es folgte ein Sägebock, in den unterschiedlich große Kreissägen eingespannt werden konnten – sogar Sägen, mit denen man Eisenbleche durchsägen konnte. Die nächste Station war die Bohrmaschine. Wenn ein Bohrer eingespannt war und der dann wie wahnsinnig rotierte, konnte man ihn mit einem Hebel absenken und zielgenau das durchbohren, was man auf dem Arbeitsfeld über der Aussparung bereitgelegt hatte. Die vierte Maschine, am Ende der Reihe, war eine „Stanze“. Wenn sie eingerichtet war, also über ihren Treibriemen mit der Antriebsmaschine, dem Elektromotor, verbunden war, konnte man mit ihr etwas „ausstanzen“. Wenn ein „Eisenstempel“ eingespannt war – und solche Eisenstempel schmiedete der Alte selber – setzte man die dicke Stanze in Bewegung, indem man auf einen Fußschalter trat. Dann senkte sich langsam ein kompakter Maschinenarm nach unten ab, an dem der Stempel aufmontiert war, und dieser Stempel stanzte nun ein besonders geformtes Loch in die Unterlage, die man bereitlegen musste. Ich benutzte meist Pappe, dünne Holzbrettchen oder ein dünnes Stück Blech. Auf diese Weise konnte man alles Mögliche durchlöchern – eben „ausstanzen“.

Mit all diesen Maschinen zu „spielen“ erzeugte in mir stets eine kribbelige Spannung, zumal ich wusste, dass ich etwas Verbotenes tat. Wenn wir an den Maschinen werkelten, stand daher immer einer von uns Schmiere. Der hatte die Kuhbrückenstraße zu überwachen, denn hier hätte der Alte auftauchen können, wenn ihn irgendein Anliegen am Wochenende in seine Werkstatt getrieben hätte. Wir hätten reichlich Zeit gehabt, den roten Knopf zu drücken und unsere Spuren zu beseitigen. Hätte er uns je erwischt, hätte er uns verkloppt – das war sicher.

Gegenüber der Maschinenreihe, an der Fensterfront der Werkstatt, befand sich ein langer Arbeitstisch aus massiver Eiche, eine Werkbank, die durch langen Gebrauch schwarz-grau und ölig geworden war. Dort stand auch ein kerniger Amboss, ein massiver Eisenklotz, und um ihn herum lag auf der Werksplatte etwa ein Dutzend verschieden geformter schwerer und auch leichterer Hämmer, mit denen der Alte seine Werkstücke auf dem Amboss – meist waren das große Kreissägen – manchmal mit Wucht, manchmal auch sehr fein und vorsichtig bearbeitete.