Kitabı oku: «Tingeln durch das Land Danach – Band 1», sayfa 3

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An der Stirnseite der Werkstatt befand sich die Esse. Wenn ich wusste, dass er schmiedete, guckte ich ihm gerne zu, denn Schmieden war für mich das Interessanteste von allem, was er in seiner Werkstatt trieb.

In den ersten Wochen nach unserer Umsetzung besuchte ich ihn fast täglich in seiner Werkstatt und schaute ihm bei seiner Arbeit zu. Ich musste mich ganz hinten an die Wand stellen und einen gehörigen Abstand zu ihm einhalten – besonders dann, wenn er schmiedete. Er arbeitete stumm, er erklärte mir nichts – und wenn ich ihn allein lassen und abhauen sollte, machte er eine unwirsche Armbewegung, um mich raus zu scheuchen. „Geh jetzt raus! Spielen!“, sagte er dann kurz angebunden.

Ich wusste immer, wenn ich mit ihm zusammen war, dass er mich nicht mochte. Ich war nicht der Typus Junge, den er für einen „richtigen Kerl“ hielt. Ich selber mochte ihn allerdings auch nicht. Ich habe nie vergessen und ihm niemals verziehen, dass er mich brutal verprügelt hat, als ich gerade mal vier Jahre alt war. Das war zu der Zeit, als wir seine Werkstatt eroberten und unsere Spiele mit seinen Maschinen spielten, gerade erst zwei Jahre her. Im Übrigen: ich mochte auch die Art von Jungs nicht, die er für „richtige Kerle“ hielt.

***

Als ich in jenen Zeiten – als Sechs-, Sieben-, Achtjähriger – den alten Mann in seinem Reich beäugte und belauerte, war er bereits in seinen Siebzigern. Ein kleiner, kompakter, gedrungener Mann, der immer noch stark und vital wirkte, eine Power-Persönlichkeit. Meist trug er eine Schürze aus einem robusten Persenningstoff mit Lederbesatz vor dem Bauch – vor allem dann, wenn er schmiedete und mit rotglühenden Werkstücken hantierte.

In solchen Momenten musste ich mich ganz weit hinten in der Werkstatt – möglichst weit entfernt von ihm – aufhalten und durfte mich nicht „mucksen“. Zuerst arbeitete er am Amboss. Er kloppte mit verschiedenen Hämmern auf irgendeinem eisernen Werkstück herum, hielt es vor seine Augen, prüfte es, maß mit einer Schublehre nach und warf es schließlich in die Glut der Esse, die durch eine Gasflamme in ihrer Hitze gesteigert wurde. Danach kam der Akt, der mich besonders beeindruckte. Mit einer Spezialzange griff er sich das rotglühende Teil, legte es vor sich auf den Amboss, wobei er es mit der Zange festhielt, und bearbeitete es mit diversen Hämmern. Schließlich beäugte er alles sehr genau – und warf das Teil, wenn er mit dem Ergebnis zufrieden war, in einen mit Wasser gefüllten Zinkeimer. Es zischte und brodelte und weiße Dampfwolken waberten durch die Werkstatt. Wenn er es wieder herausholte und mit seinem Werk zufrieden war, bearbeitete er es weiter: am Schleifbock, an der Bohrmaschine, mit feinen Handfeilen an seiner Werkbank …

In den ersten drei Jahren unserer vier Barackenjahre arbeiteten noch Theo, der Geselle, und Hubert, der Lehrling, mit ihm zusammen. Im letzten Jahr war er allein: Theo hatte eine andere Stelle angenommen und Hubert verschwand, nachdem er seine Gesellenprüfung abgelegt hatte. In jenem letzten Jahr gab mir der Alte einen kleinen Job, eine einfache Arbeit an der Stanze. Zum ersten Mal in meinem Leben verdiente ich Geld durch eigene Arbeit.

Das war insgesamt eine ziemlich kuriose Aktion.

In der Werkstatt gleich nebenan wurschtelte ebenfalls ein älterer Mann herum, Otto Gierke. Der hatte ständig Produktideen und tüftelte an neuen Produkten herum, die er vermarkten wollte, was ihm wohl meistens nicht so recht gelang. Einmal kam er auf die Idee, Gummifußmatten aus Abfall herzustellen – nämlich aus ausrangierten Auto- und Fahrradreifen. Mein „Oppa“ schmiedete dafür einen Stempel, mit dem man eine besondere Schablone aus dem Reifengummi ausstanzen konnte. Sie sah aus wie die obere Reihe der olympischen Ringe. In den Mittelpunkt der beiden äußeren Ringe stanzte der Stempel feine Löcher und Otto Straten konnte nun mit einem feinen biegsamen Draht aus zahlreichen solcher Gummischablonen Fußmatten zusammenflechten.

Neben der Stanze lag ein Berg aus Gummistreifen, die der Alte aus Auto- und Fahrradreifen herausgeschnitten hatte. Offenbar hatte er sich verpflichtet, dem Otto Gierke die Gummischablonen für die Matten zu liefern, hatte aber selbst keine große Lust, sich an die Maschine zu stellen und die Dinger auszustanzen, denn das war eine ziemlich stupide Arbeit. Immer mal wieder überredete er mich dazu.

Die Stanzerei war einfach, aber langweilig. Ich legte den Gummistreifen unter den Stempel, trat mit dem rechten Fuß auf den Fußschalter, der Stempel senkte sich gemächlich herab und schnitt die Schablone aus. Ich verschob den Gummistreifen ein wenig: dasselbe Spiel noch einmal und so weiter und so fort – eine öde, sich lang hinziehende Tätigkeit.

Der Alte gab mir pro ausgestanzte Schablone 1 Pfennig. Meist stanzte ich fünfzig Stück hintereinander aus: dann konnte ich mir und meinen Geschwistern zwei Flaschen Sinalco-Cola spendieren. Wenn ich meiner Mutter ihr kleines Nachtgeschenk machen wollte, musste ich neunzig Stück ausstanzen. Ich zeigte dann dem Alten den Haufen, den ich hergestellt hatte, und sagte: „Hundert.“ Er zählte nicht nach, wühlte in seinem Portemonnaie und warf mir ein silbernes Markstück zu: „Da! Hau es auf den Kopp! Kino?“

Um ihn zu ärgern, sagte ich meist: „Nein! Ein Geschenk für meine Mutter!“ Er guckte mich verdrießlich an. Ich war eben kein richtiger Junge. Ich war ein Muttersöhnchen.

***

Er muss sehr einsam gewesen sein in seinem letzten Jahrzehnt in seinem dämmrigen Maschinengehäuse. Seine Frau war tot und wir, die lebhafte Familie gleich nebenan, hatten die Baracke für immer verlassen. Die Werkstatt wurde ihm zur Heimstatt. Noch in seinen Achtzigern taperte er jeden Morgen in sein kleines Reich, hatte immer noch Aufträge, die ihm ein wenig Geld einbrachten, und abends taperte er zurück in seine Kneipe. Die Leute aus dem Gewerbegebiet, die ihn kannten und mit ihm zu tun hatten, nannten ihn den „alten Fritz“. Einstmals, in seiner geschäftlich und politisch aktivsten Zeit – seiner Blütezeit in den Zwanziger Jahren – wurde er in Hameln „der rote Fritz“ genannt, denn er war immer ein überzeugter, politisch aktiver Sozi gewesen.

Ich kehrte in den ersten Jahren nach unserem Auszug aus der Baracke und unserem Weggang aus Hameln noch zweimal zu ihm zurück. Ich war sein Gast. Ich wohnte dann in seiner Wohnung in der Kaiserstraße, die er sich mit seiner Tochter und deren Familie teilte. Ab und zu saß ich mit ihm in seinem dunkel gebeizten kleinen Arbeitszimmer und unterhielt mich mit ihm. Er erzählte nicht viel über sein Leben. Männer wie er taten das nicht. Auf seinem Schreibtisch lag stets ein aufgeschlagener, meist ledergebundener schwerer Foliant, zum Lesen schräg gestellt auf einem Ständer. Damals stellte ich fest, dass er Marx, Engels und Nietzsche las, konnte aber mit diesen Namen noch nichts anfangen. Er war der klassische „lesende Arbeiter“. Während seines ganzen Arbeitslebens nutzte er die stillen Stunden des Sonntagvormittags zum Studieren, während seine Frau in der Küche hantierte und ihm sein Essen kochte.

Ich besuchte ihn natürlich auch draußen in seiner Werkstatt.

In der Erinnerung bleibt mir das Bild eines alten, oftmals missmutigen Mannes, der auf seinen Tod zugeht. Ein gedrungener, harter Hephaistos, eingeschlossen in seinen nach Schmieröl und Eisenstaub riechenden Schmiede- und Maschinenhimmel. Später, als ich ein vollständigeres Bild von ihm hatte, sollte ich lernen, dass seine Vorstellung von Frauen und sein Verhältnis zu ihnen ähnlich verkorkst war wie die Haltung des „göttlichen Schmiedes“ Frauen gegenüber.

Holzhacken und Schule schwänzen

Einige Male kam es vor, dass ich sogar die Schule schwänzte, um Holz zu hacken und das morgendliche Feuer zu entfachen. Das tat ich immer dann, wenn ich frühmorgens sah, dass meine Mutter sehr erschöpft wirkte oder gar krank war und ich ihr in den Tag helfen wollte. An einem dieser Schwänz- und Holzhackertage hatte ich ein Erlebnis, das mich sehr aufwühlte und noch wochenlang beschäftigte.

Mein Schulalltag begann meist damit, dass meine Mutter intensiv an mir herumwienerte. Die Straßen um uns herum waren allesamt unbefestigt und bei Regen reine Lehm- und Matschstraßen mit großen gelben Wasserpfützen. Meine Kleidung war oft voller hellbrauner Lehmflecken und die entfernte sie gründlich mit Lappen und Bürste vor unserer Wasserstelle, der eisernen Pumpe. Sie wollte nicht, dass man schon an der äußeren Erscheinung ihrer Kinder sah, dass wir in einem „Nachtjackenviertel“ jenseits der Zivilisation wohnten und in einer Baracke „hausten“.

„Na schön“, sagte ich an jenem Morgen, „jetzt komme ich wieder eine Viertelstunde zu spät. Der Hesse hat wieder was zu meckern. Mist.“

„Ich kann dich nicht so schmutzig gehen lassen. Das will ich nicht.“

Ich hatte keinen Bock mehr auf Schule und ging missmutig nach draußen, auf den Hof. Neben dem Hackklotz lag ein riesiger Haufen Holz, die üblichen Baumscheiben. Ich ging zurück. Meine Mutter saß klein und grau am Küchentisch in dem dämmrigen kalten Raum. Der Ofen war kalt und voller Asche. Sie hatte noch nicht einmal ihren Kaffee gehabt, denn den konnte sie erst brühen, wenn da ein Feuer flackerte. Der Tauchsieder war kaputt gegangen.

„Ich schwänze. Ich mache Feuer an und hacke Holz. Ich koche dir einen Kaffee.“

Sie blieb stumm. Sie war in ihren Gedanken weit weg, das sah ich an ihrem Gesicht. Ich zog mich um und reinigte als Erstes den Herd. Den vollen Aschenkasten trug ich nach draußen und schüttete die Asche wie immer in die Landschaft – in den „Dschungel“, der gleich hinter unserem Hofzaun begann. Mülltonnen gab es hier draußen nicht. Es war noch ein kleiner Vorrat an Holz da und als das Feuer schließlich brannte, füllte ich den Wasserkessel unter der Pumpe und stellte ihn auf das offene Feuerloch. Ich brühte ihr einen Becher Kaffee und brachte ihn ihr. Sie trank den ersten Schluck und sah mich mit großen gedankenverhangenen Augen an. Sie blieb stumm.

„Ich geh’ jetzt nach draußen und hacke Holz.“ Sie nickte abwesend.

***

Es war ein kühler, nebliger Junitag. Über der großen Wiese, auf der die beiden weißen Ponys grasten, waberten weiße Dampfwolken. Es wehte ein leichter, ziemlich kühler Wind. Ein ungemütlicher Morgen. Ich legte los und hackte mich warm.

Weit und breit war kein Mensch zu sehen, wir lebten wahrlich sehr einsam, in einer richtigen Einöde. Irgendwann kamen der Alte und seine beiden Helfer, Theo und Hubert. Sie wechselten ein paar Worte mit mir und verschwanden in der Werkstatt. Gegen zehn tauchte der Briefträger auf seinem Fahrrad aus dem Nebel auf. Kurz nach zwölf wusste ich: jetzt ist die Schule „aus“ – bald würden meine Schwestern auftauchen. Ich war aber noch lange nicht fertig. Ich hackte weiter. Ich war tief in Gedanken.

Ich war neun Jahre alt, Frühsommer 1952. Das war die Zeit, als ich anfing, über unsere seltsame Lebensweise hier draußen nachzudenken, über unseren Bruch mit dem früheren Leben, über unsere Armut und die Primitivität unseres Daseins. Das war auch die Zeit, da ich anfing wahrzunehmen, dass in der Beziehung meiner Eltern etwas nicht stimmte und dass die Ursache für unsere Misere und das Unglück meiner geliebten Mutter das seltsam gedankenlose und leichtfertige Verhalten unseres Vaters war. Es war die Zeit, als ich anfing, ihn kritisch zu sehen und ihn in bestimmten Szenen und Situationen sogar zu verachten.

Insgesamt eine Zeit der Wandlungen und neuer Einsichten. Ich dachte über unser Leben nach. Wie würde es weitergehen mit uns allen? Würden wir hier je noch einmal herausfinden? Das waren schwere Gedanken, die mich in eine trübe, grüblerische Stimmung versetzten.

Ich sah mich um. Die Landschaft war still und menschenleer. Über Vogeleys Wiese lichtete sich gerade der Nebel und die beiden weißen Ponys wurden wieder sichtbar. Ich schaute hinüber zu Andersens Baracke, die vielleicht fünfhundert Meter entfernt lag, jenseits des „Dschungels“, der direkt hinter unserem Hofzaun begann, jenseits des Streifens wilder Squatter-Gärten, der auf den Dschungel folgte und jenseits des Kartoffelfeldes, das fast bis an Andersens Baracke heranreichte.

Ich schaute hinüber und sah jetzt durch den feinen Schleier, der noch über dem Kartoffelfeld hing, undeutlich und klein eine Gestalt aus Andersens Wohnung heraustreten. Sie marschierte zügigen Schrittes an den roten flachen Backsteingebäuden vorbei und bog in den Weg ein, der neben der Ponyweide direkt auf uns zu führte. Ich sah, wie die Gestalt die Pfützen umkurvte oder geschickt übersprang und erkannte sie schließlich. Es war Helmut, der Älteste der vier Andersen-Kinder. Für mich zählte er schon zu den „Großen“, den Erwachsenen, denn er hatte bereits die Schule beendet, er war Lehrling und steckte in einer Tischlerlehre. Er mochte sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein. Als er unseren Hof erreichte, kam er direkt auf mich zu und ich sah an seinem Gesicht, dass er wütend und aggressiv war.

„Wenn du den noch einmal schlägst“, brüllte er mich an, „wenn du den auch nur noch einmal anrührst, schlage ich dich zu Brei, du Giftzwerg!“

Ich war fassungslos.

„Was ist los? Was soll ich getan haben?“

„Stell dich nicht doof. Du hast den Dieter gepiesackt und geschlagen.“

Ich hatte deutlich das Gefühl, dass er nicht ganz bei Trost war.

„Wann soll ich das gemacht haben?“

„Na, heute natürlich. Auf dem Schulweg.“

Ich lachte ihn laut und höhnisch aus.

„Heute?“ Ich tippte an die Stirn und zeigte ihm einen Vogel. „Weißt du was? Ich war heute gar nicht in der Schule. Ich habe geschwänzt. Ich habe den ganzen Morgen Holz gehackt. Ich habe mich nicht ein einziges Mal von hier wegbewegt. Und den Dieter habe ich schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Außerdem: ich habe den noch nie geschlagen.“

Ich war verärgert: „Er hat mal wieder gelogen. Er lügt immer. Er ist ein Stänker!“

Ich zeigte mit der rechten Hand, in der ich das Beil hielt, auf den großen Haufen Holzscheite neben dem Hackklotz und dachte darüber nach, wie ich mich verteidigen würde, falls er mich angriff. Ich zeigte mit dem Beil auf ihn.

„Falls du mir nicht glaubst, geh rein und frag meine Mutter.“

Er schaute mich irritiert an, kochte aber immer noch vor Wut. Er ging rein und blieb eine ziemlich lange Zeit verschwunden. Offensichtlich führten sie ein ernsthaftes Gespräch da drinnen.

Ich fing an zu grübeln. Da gab es ein Rätsel, das mich seit geraumer Zeit beschäftigte.

Zuerst dachte ich darüber nach, was an diesem Morgen auf dem Heimweg von der Schule wohl passiert sein mochte. Dieter hatte – so nahm ich an – wie üblich „gestänkert“. Es war seine Art, anderen Kindern ihr Spiel und die Lebensfreude zu vermiesen, und meine beiden Schwestern hatten sich vermutlich gegen seine Angriffe zur Wehr gesetzt. Wahrscheinlich hatte er ohne seine „Schutzgarde“ angegriffen, ohne seine beiden „großen“ Schwestern Elke und Christa, denn die verteidigten und beschützten ihn, egal, was er anstellte und wie boshaft er angriff. Als meine Schwestern ihn losgeworden waren, war er wohl nach Hause gerannt, hatte seine Lügengeschichten erzählt und behauptet, ich hätte ihn gepiesackt und geschlagen …

Ich geriet in eine nachdenkliche, ziemlich missmutige Stimmung. Ich dachte über diesen Jungen nach, den Jüngsten der Andersen-Kinder, ungefähr drei Jahre jünger als ich selbst. Nachdem wir gleich am ersten Tag mit den Andersen-Geschwistern Freundschaft geschlossen hatten und täglich miteinander spielten, fiel mir das seltsame Verhalten des Jüngsten in der Andersen-Reihe auf. Ich konnte mir nie einen Reim darauf machen, warum er stets so dumm und so boshaft war, unsere Spiele zu stören statt mitzuspielen. Mir kamen Erinnerungen an unangenehme Szenen in den Sinn, in denen er voller Bosheit andere Kinder angriff. Einmal griff er mich an. Eine rätselhafte, fast ein wenig schaurige Geschichte:

Ich stehe gelangweilt vor der Tür der Andersen-Wohnung. Ich warte auf die Andersen-Bande, damit endlich irgendetwas geschieht: ein Spiel, ein Streich, ein kleines Abenteuer …

Plötzlich öffnet sich die Tür und der Kleine schießt auf mich zu. Er streckt mir seine rechte Hand entgegen, auf der drei Apfelsinenstückchen liegen und hält sie mir unter die Nase: „Hier! Ich habe Apfelsinenstücke. Du nicht. Ätsch bätsch …“ So ähnlich klang das wohl. Er wollte mich neidisch machen.

Er hört nicht auf mit seinem Unfug. Ich drehe mich um und gehe weg, aber er verfolgt mich mit seinem gehässigen Geschrei. Er hört nicht auf. Er ist zäh, er macht immer weiter. Ich entferne mich, aber er verfolgt mich mit seinem Gekreische. „Hau ab“, schreie ich ihn schließlich an: „Hau ab“ – aber er lässt nicht nach. Jetzt macht er erst recht weiter. Er nervt wie immer. Er kann nicht anders. Er muss stänkern.

Schließlich bleibe ich stehen. Ich schaue auf die schwabbeligen, unappetitlich suppenden Apfelsinenschnetzel in seiner schmutzigen Hand. Er hält sie mir unter die Nase und zeigt mir seine kleine, boshafte Hassfratze. Ich muss lachen: „Na warte!“ Mein rechter Arm schießt nach vorne, der Raubvogelschnabel aus Daumen und Fingern schnappt sich die Stücke, schiebt sie mir in den Mund und ich würge sie hinunter. Eklig.

Ich sage: „Weg!“

Ich grinse ihn an: „Sie sind weg!“

Die Reaktion, die folgte, überraschte mich nicht nur, sie schockierte mich. Sein Hassgesicht verwandelte sich schlagartig in pures Entsetzen, ja, mehr: in helle Panik. Ich höre einen grellen Schrei – wie von einem Tier, das tödlich verletzt ist. Als er sich umdreht und davonrennt, geht der Schrei in ein lautes Wimmern und Jaulen über, das nicht mehr aufhört. Er verschwindet in der Wohnung und ich denke nur eines: Jetzt haue ich wohl besser ab!

Nach diesem Ereignis wusste ich, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dass in ihm irgendetwas kaputt war. Die völlig unangemessene Reaktion war mir unbegreiflich. Da gab es ein Rätsel.

***

Ich hackte nur noch lustlos auf ein paar Holzscheiten herum, als Helmut schließlich sein langes Gespräch mit meiner Mutter beendet hatte und wieder zu mir auf den Hof heraus trat. Er wandte sich zu mir und sagte kurz:

„Tut mir leid.“ Er sah traurig aus.

Ich tauchte aus meinen Gedanken auf, schaute ihm ins Gesicht und sagte ganz nachdenklich – ohne jede Häme oder Spott – das, was gewissermaßen das Resümee meiner Grübeleien war:

„Mit dem stimmt was nicht!“

Eigentlich ein ziemlich naheliegender, banaler Kommentar, den er gar nicht hätte beachten müssen. Seine Reaktion auf meine Worte überraschte mich allerdings. Ich sah plötzlich einen schmerzlichen Zug in seinem Gesicht, ja, mehr, einen tiefen Schmerz, der nicht allein das Ergebnis des vorangegangenen läppischen Vorfalls sein konnte. Jetzt tat er mir sogar leid. Und mehr noch: sein trauriges Gesicht bestärkte mich in der Annahme, dass ich in meinen Grübeleien einem Geheimnis auf der Spur war.

Ich verfiel wieder in diese merkwürdige, nachdenkliche Stimmung, die mich schon den ganzen Morgen gepackt hielt. Ich grübelte und grübelte und grub immer tiefer. Ich dachte über unsere Situation hier draußen nach – so intensiv, wie ich es vorher noch nie getan hatte.

***

Meine Mutter hatte mehr verloren als die ganz normale Bequemlichkeit einer komfortablen Wohnung in einem gutbürgerlichen Milieu. Was ich als Kind noch nicht voll begreifen und in seinen Auswirkungen einschätzen konnte, was ich aber fühlte, wenn ich sie beobachtete: sie hatte ihr gesamtes soziales Umfeld verloren, ihre Nachbarinnen, ihre Freundinnen und Freunde, die Kolleginnen und Kollegen aus dem Stadtkrankenhaus. Sie vereinsamte. Sie schämte sich. Sie schämte sich, irgendjemanden aus ihrem Freundeskreis einzuladen in ihre armselige Behausung und sie schämte sich auch, irgendjemanden in der Stadt zu besuchen, da sie ja annehmen musste, dass sich ihre neue desolate Lebenssituation unter ihren Freundinnen und Nachbarinnen herumgesprochen hatte. Sie schämte sich und wurde krank.

Was mir noch weniger bewusst wurde, war, dass auch wir Kinder unser soziales Umfeld verloren hatten: all die vielen Kinder, mit denen wir in den Straßen der Stadt gespielt hatten – Verstecken, Schlagballtreiben, Hopse, Murmelspiel …

Wenn wir das damals in Hameln sehr beliebte Ecker-Gucker-Karo-Spiel spielten und ich der Jäger war, standen mir hundert Meter entfernt, an der Kreuzung, bis zu zehn Kinder gegenüber, die davonflitzten und sich versteckten, wenn ich los rannte. All diese Kinder verschwanden aus meiner Welt, als wir aus ihrer Welt verschwanden.

Nach meiner Einschulung (ein halbes Jahr vor der Umsetzung in die Baracke) knüpfte ich natürlich neue Bande unter den Jungs meiner Klasse. Auch diese neuen Freundschaften entwickelten sich nicht mehr weiter und verdorrten, als wir die Innenstadt verließen.

So waren wir glücklich, dass wir sofort die Andersen-Kinder aufstöberten, als wir auf die Pirsch gingen und die Umgebung erkundeten. Das war Zuneigung auf den ersten Blick. Sie wohnten zwar ein paar hundert Meter von uns entfernt, aber immerhin in Sichtweite und wir konnten uns durch Winken und Rufen bemerkbar machen. Die Entfernung war kein Hindernis, uns täglich zu sehen und gemeinsam unsere täglichen Spiele und Abenteuer zu organisieren.

In all den vier Jahren blieben sie unsere einzigen Freunde. Wir verschmolzen zu einer echten Kinderbande. Drei Mädchen und ein Junge – das war ich selbst – bildeten den Kern. Immer, wenn wir etwas unternahmen, mussten wir allerdings die „Kleinen“ mitschleppen und auf sie aufpassen, den kleinen Dieter, die kleine Gerhild und unser Brüderchen Wolf. Wir „Großen“ hatten eben auf die „Kleinen“ aufzupassen, was manchmal sehr lästig war. Wir zottelten mit ihnen durch die Landschaft und führten sie beiläufig in so wichtige Kulturtechniken ein wie Laufen-, Sprechen- und Singenlernen.

***

Und wer wohnte noch hier draußen um uns herum? Das waren nicht eben viele. Ich ziehe einen weiten Kreis um meinen Hackklotz und nenne sie alle – im Uhrzeigersinn:

Am südlichen Ende der Andersen-Baracke, direkt am Damm der Fluthamel, weit entfernt also, lebten die Gottwitze, ein kinderloses älteres Ehepaar. Sie schimpften und meckerten viel, wenn wir am Damm in der Nähe ihres kleinen Gärtchens spielten. Sie waren die unmittelbaren Nachbarn der Andersens.

Jenseits der Ponyweide, an der unbefestigten Wallbaumstraße, ziemlich weit entfernt von meinem Hackklotz, lebte der Schrotthändler Homann mit seiner Frau in einer kleinen Holzhütte, die mitten auf seinem Schrottplatz stand. Die beiden hatten keine Kinder.

Auf dem hinteren Werksgelände von Kaminski, der Waggonfabrik an der Kuhbrückenstraße, stand ein kleines weißes Häuschen, in dem ein altes Ehepaar wohnte, etwa im Alter unserer Großeltern. Eines Tages bemerkte ich auf ihrem Grundstück einen Jungen – etwa zwei Jahre jünger als ich selbst. Ich sprach ihn an und lud ihn zum Spielen ein. Er antwortete in einem lustigen, seltsam gefärbten Deutsch, von dem man mir später sagte, dass es „Schwäbisch“ sei. Er lebte jetzt bei seinen Großeltern, weil irgendetwas im Schwabenland schief gelaufen war. Wir nahmen ihn auf in unsere Bande.

In der kurzen Holzbaracke, die in etwa dreißig Metern Entfernung parallel zu „unserer“ Baracke an der Kuhbrückenstraße stand, wohnte vorne die Frau Kinkel mit ihren Ziegen, den Hühnern und ihren gefährlichen zwei Gänsen. Ihr Holzhaus war umwuchert von Bäumen und Büschen, und irgendwo in ihren hinteren Dunkelräumen beherbergte die Frau Kinkel zwei junge Männer und einen alten Mann, die man aber nur selten sah. Am Ende unserer Baracke, zum Damm der Fluthamel hin, wohnten ein junger Mann und eine junge Frau, die wir nur zu Gesicht bekamen, wenn sie in ihrem DKW-Cabrio an uns vorbei flitzten. Sie hatten zwei Kinder, zwei sehr schüchterne Jungen, die nur selten zum Spielen zu uns auf den Hof kamen.

Das waren die Leute, die hier draußen wohnten. Weit verstreut um uns herum. All unsere Nachbarn. Mehr gab es nicht.

Bastard

Die Episode mit Helmut hatte meine Grübeleien verstärkt. Doch da war noch etwas. Ich spürte eine Spannung, die immer dann in meinem Nacken kribbelt, wenn ich weiß, dass ich einem Geheimnis auf der Spur bin.

Ich hörte auf zu arbeiten und starrte in den Nebel, der sich langsam auflöste. Und plötzlich kam sie wieder hoch in mein Bewusstsein, jene rätselhafte Geschichte, die ich wenige Wochen zuvor belauscht hatte. Ich hatte sie sorgsam für mich behalten und niemandem weiter erzählt, denn ich wusste instinktiv, dass ich etwas gehört hatte, das – wie es die Erwachsenen ausdrückten – nicht für „Kinderohren“ bestimmt war, weil es Dinge aus ihrer Welt enthielt, von denen wir „Kleinen“ besser nichts wissen sollten. Die „verbotene“ Geschichte handelte von diesem Dieter, der sich Lügengeschichten ausdachte, um seinen großen Bruder auf mich zu hetzen.

Die Andersens waren Flüchtlinge, die sich in Hameln festgehakt hatten und in der Baracke zur Ruhe gekommen waren. Ursprünglich hatten sie im Sudetenland gelebt und waren nach dem Ende des Krieges vertrieben worden.

Helmut, das älteste der vier Kinder, gehörte nicht mehr zu unserer Bande. Er hatte blonde Haare, ein gutmütiges Gesicht, er war lang und schlaksig wie sein Vater und mischte sich nur dann in unsere Spiele ein, wenn er meinte, dass seinen jüngeren Geschwistern ein Ungemach widerfuhr.

Elke war eine fröhliche Blonde mit lachenden blauen Mondaugen, sie war zwei Jahre älter als ich. Christa war gleich alt, sie war die Stille. Ihre Haare waren etwas dunkler als die ihrer Schwester. Sie war sehr hübsch, sie hatte feine, zarte Gesichtszüge und ich war vom ersten bis zum letzten Tag meiner Barackenzeit in sie verliebt.

Dieter, der Jüngste, fiel aus dem Rahmen. Er fiel auf, weil er anders aussah als seine Geschwister. Er hatte auffällig dunkle, fast schwarze Haare und dunkle, fast schwarze Augen. Er passte äußerlich gar nicht zu den anderen, so dachte ich immer, wenn ich mit ihnen zusammen war.

Die Geschichte, die ich belauscht hatte, hatte sich deswegen in meinem Kopf festgehakt, weil ich etwas Entscheidendes nicht verstanden hatte. Mit acht Jahren weiß man noch nicht viel von dem, was in der Welt der Erwachsenen alles so passieren kann. Ich wollte das jetzt klären und ging in die Küche. Ich setzte mich an den Küchentisch und beobachtete meine Mutter, die auf dem Herd unser Mittagessen kochte. Sie wandte mir ihren Rücken zu. Ich schwieg eine ganze Weile – und schließlich gab ich mir einen Ruck:

„Mutti“, fragte ich, „was ist ein Bastard?“

Sie fuhr herum und schaute mich überrascht an.

„Wie kommst du denn auf so etwas? Was geht dir denn da im Kopf herum? Worauf willst du hinaus?“

„Ich habe gelauscht“, sagte ich. „Ich habe ein Gespräch zwischen Oppa und Herrn Gottwitz belauscht.“

Ich druckste herum. Lauschen war ja verpönt, das hatte man uns schon früh eingebläut – und meine Mutter war in den Dingen des Anstands ziemlich rigide.

„Sie haben über die Andersens geredet. Vor allem über Dieter. Ich habe das nicht richtig verstanden, aber es war was Schlimmes.“

Meine Mutter war alarmiert. Sie setzte sich zu mir an den Küchentisch und fragte: „Was hast du gehört?“

Ich fing an zu erzählen.

***

Heute, da ich von oben auf den Teppich meiner Erinnerungen schaue, entdecke ich zuweilen Eigenschaften in den vielen Egos der Vergangenheit, die offenbar zu Konstanten meiner Persönlichkeit wurden. So war ich immer mal wieder und mit Lust ein Lauscher. Diese Eigenschaft entwickelte ich schon früh, auf unserem Barackenhof.

Es gab nicht viele Erwachsene um uns herum, an deren Gesprächen wir zwanglos teilhaben konnten. Wir waren meistens unter uns, in der Kinderbande, entfernt von den Alten. Der Hof war der Ort, an dem immer mal wieder erwachsene Menschen zusammenkamen, Kunden unseres Großvaters zumeist, die ihm irgendeinen Gegenstand zur Reparatur brachten und dann auch wieder abholten. Oftmals stand er dann mit ihnen auf dem Hof herum, wo sie miteinander plauderten, klatschten und tratschten. Ich spielte oder pröttelte dann wie beiläufig in ihrer Nähe und stellte meine Lauschantennen auf ihr Gespräch ein. Sie durften mich nicht wahrnehmen, denn, wenn das geschah, veränderte sich ihr Gespräch zuweilen – Kind hört mit! – oder sie verzogen sich an einen anderen Ort auf unserem großen Hof, um mich loszuwerden.

***

An jenem Tag, als der Herr Gottwitz und unser „Oppa“ vor dem großen Werkstatttor in der Sonne standen und ihren nachbarschaftlichen Klönschnack abhielten, lief ich zufällig mit einem Eimer an ihnen vorbei, um Kohlen zu holen. Beiläufig hörte ich im Vorübergehen, dass sie sich über unsere Freunde, die Andersens, ausließen. Genau genommen: Herr Gottwitz beklagte sich lautstark über seine Nachbarn, vor allem natürlich über die Andersen-Kinder. Er schimpfte, er meckerte.

Ich war sofort hellwach und aufmerksam. Ich ging langsam an ihnen vorbei und betrat das kleine Quergebäude, das immer noch „Schweinestall“ genannt wurde, obgleich es längst unser Kohle- und Kartoffelschuppen geworden war. Dort lagerten wir die Steinkohle und die Eierbriketts, die wir für unseren Dauerbrenner, den Küchenherd, brauchten. Ich verschwand mit meinem Eimer im Schuppen, nahm aber gleich hinter der Tür die klassische Lauscherposition ein. Ich lehnte mich mit meinen Schultern an die Wand neben der Türöffnung, legte meinen Kopf schräg, so dass ich besser hören konnte, und bekam alles mit, was gesprochen wurde: der Lauscher an der Wand, nicht präsent, nicht sichtbar. Keine Unschärferelation.

Was den Herrn Gottwitz so schrecklich ärgerte, war, dass da hinten am Damm, direkt neben seiner Wohnung und neben dem Garten, den er sich angelegt hatte, immer diese Kinderbande herumtobte und lärmte (zu der natürlich auch ich und meine Geschwister gehörten). Wenn er sich bei den Eltern beschwerte, bekäme er grundsätzlich eine Abfuhr: dieses Flüchtlingspack stelle sich grundsätzlich hinter die Kinder und dächte gar nicht daran einzugreifen und den Terror zu stoppen.