Kitabı oku: «Tingeln durch das Land Danach – Band 2», sayfa 2

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Am Wochenende, als mein neuer Arbeitsbeginn näherrückte, widmete ich mich wieder der Kleiderfrage, meinem schier unlösbaren „Klamottenproblem“. Mir war bewusst, dass ich eine Arbeitskleidung brauchte, die was „hermachte“, d. h., die mich irgendwie wie einen Malocher aussehen ließ. Ich wühlte in dem Kleiderschrank herum, der die Kleidung aller fünf Geschwister enthielt und ungefähr ein Fünftel von dem ausmachte, was heute ein Einzelkind an Stauraum für seine Kleidung benötigt. Als ich schließlich eine brauchbare Kombination zusammen hatte, bei der ich notgedrungen auch auf die „guten“ Brocken zurückgreifen musste, stellte sich meine Mutter quer.

„Das brauchst du noch für die Schule. Die Hose kriegst du nicht, das Hemd ist noch zu schade …“

Ich spürte, dass sie weiterhin meine Pläne torpedierte. Entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten unterstützte sie mich bei meinem Projekt nicht, denn sie hatte Angst, dass ich mich übernahm. Wütend ließ ich mich zu einer Dummheit hinreißen.

„Na schön“, sagte ich schließlich verärgert. „Dann arbeite ich eben in der Turnhose wie der Dicke bei der Gartenbaufirma. Schließlich bin ich Ferienschüler …“

„Wenn du meinst – bitte!“, sagte sie. Es klang irgendwie spöttisch.

Sie hatte ein sehr ausdrucksvolles Gesicht. Ihre großen blauen Augen lagen in tiefen Höhlen über ihren ausgeprägten Wangenknochen und den damals noch sehr hohlen Wangen. Oft waren diese Augen voller Ernst und Trauer, manchmal auch voller Wehmut, wenn ihr die Erinnerungen kamen und sie sich unbeobachtet wähnte. Manchmal aber auch sprang ein glitzernder Schelm aus ihnen heraus, wie jetzt. Ich war irritiert durch ihren leichten Spott, blieb aber bei meinem Entschluss: kurze Hose. Das war allerdings eine katastrophale Fehlentscheidung.

Am Montagmorgen, sechs Uhr dreißig, stand ich an der genannten Straßenecke, etwas scheu und abseits von den Malochern in ihren Bauarbeiterklamotten, die sich dort allmählich ansammelten. Sie beachteten mich zunächst gar nicht, da sie nicht wussten, warum ich dort stand. Als der VW-Bulli kam und ich mit ihnen einfach so einstieg, waren sie reichlich perplex, fingen an zu lachen und zu flachsen, machten ihre geistreichen, aus meiner Perspektive allerdings dämlichen und verletzenden Bemerkungen, bis ihr Rudelführer sie ermahnte: sie sollten mich in Ruhe lassen.

Der Bus fuhr über Syburg Richtung Hagen aus der Stadt hinaus und zum ersten Mal sah ich ein wenig von der ländlichen und durchaus reizvollen Umgebung der Stadt, sah einen See und „richtige“ Landschaft, etwas, was ich seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Der Bulli hatte hinten keine Fenster, so dass ich nach vorne, am Fahrer vorbei rausgucken musste. An den Seiten hinter der Fahrerbank waren rechts und links primitive Holzpritschen angebracht, auf denen die Malocher saßen – und ich natürlich auch, das Kind mit den nackten dünnen Kinderbeinchen. Zwischen den beiden Sitzreihen, auf dem Boden, lag Werkzeuggerümpel: Spitzhacken, Maurerhämmer, Spaten, Kellen, Meißel, Zollstöcke, verdreckte Eimer, Kabel. Alles Mögliche.

Die Männer hielten sich zwar mit Bemerkungen zurück, der Rudelführer achtete darauf, aber sie schauten immer wieder verstohlen oder offen zu mir hin. Diese Blicke waren peinlich und ich fühlte eine tiefe Scham in mir aufsteigen. Am liebsten hätte ich einen Rock gehabt wie ein Mädchen, den ich über meine Knie hätte ziehen können, um meine Blöße zu bedecken. In manchen dieser Blicke sah ich etwas, was ich damals noch nicht klar deuten konnte, was mir fremd und besonders unangenehm war: Begehrlichkeit. Ein Jahr später, während meiner zweiten Saison als „Ferienschüler“, lernte ich, was es damit auf sich hatte.

Schließlich ereichten wir unser Ziel, eine Baustelle an einer Landstraße Richtung Hagen. Mitten in der Pampa. Hier standen einige Bauwagen. Es waren bereits reichlich Malocher aus anderen Richtungen gelandet, die ein langes Stück Landstraße zu bearbeiten hatten. Ich meldete mich bei dem Vorarbeiter und gab ihm meine Papiere. Er war sichtlich irritiert. Als „meine Kumpel“ aus dem VW-Bulli zu ihrer Arbeit an der Landstraße wanderten, verbot er mir mitzugehen. Er sagte mir, ich könne hier – zwischen den Bauwagen – mal dies und das aufräumen – er erfand regelrecht kleine leichte Arbeiten für mich – aber ansonsten solle ich warten. Gegen Mittag käme einer von der Firma. Der sollte dann entscheiden.

Gegen elf kam er.

Bauingenieur der Fünfziger Jahre. Beige Cordhosen, kariertes Flanellhemd mit offenem Kragen und aufgekrempelten Ärmeln und ganz oben der „Bibi“. Sein Tweed-Jackett lag locker auf dem Beifahrersitz seines Mercedes 170 V. Dieser Kleinmanagertyp der Fünfziger hatte an allen Orten, an denen er mir begegnete, ein so einheitliches Erscheinungsbild, dass ich ihn noch heute malen könnte.

Der „Bibi“ war ein kurzkrempiger Hut aus normalem Filz, manchmal aus olivefarbenem Cord oder – in der feineren Version – aus braunem, glänzendem Leder. Die Sheriffs auf den Baustellen oder in den Fabriken trugen ihn so: sie schoben ihn grundsätzlich immer aus der Stirn nach hinten und dort, auf dem Hinterkopf, war er festgewachsen. Das sah kernig und verwegen aus und sollte auch genau so aussehen. Der „Bibi“ wurde nie gelüpft, auch nicht zum Grüßen. Mit dem Stahlhelm hatte man das schließlich auch nicht gemacht …

Meinem Bibi-Träger sah man an, dass er selbstbewusst und durchsetzungsfähig war: eine Führernatur … Fähnleinführer, Rottenführer, Scharführer, Standartenführer, Bauführer. Führer eben … Manager.

Die alten Zeiten waren vorbei, in den neuen Wunderzeiten der Trümmerbeseitigung und des tatkräftigen Wiederaufbaus wandelten sich die „Führer“ zu „Managern“. „Führer“ brauchte man wie immer, aber der Begriff war verschlissen. Der „Bibi“ war ein Führersymbol, der Kampfhelm des Befehle bellenden Managers und Machers vor Ort, an der Schnittstelle zwischen der Betriebsführung und den Malochern, die er kontrollierte, organisierte, anschnauzte, heuerte und feuerte. Der „Bibi“, aus der Stirn nach hinten geschoben, hieß bei so einem: ich bin knallhart.

Mein Bibi-Träger lachte laut und wahrhaft dröhnend, als er mich sah, und der Vorarbeiter und einige Malocher lachten beflissen mit.

„Kinderarbeit gibt’s hier nicht. Nicht bei mir.“

Er kramte in seinen Taschen und holte einen Fünfer heraus.

„Hier, dein Taschengeld für heute“, er lachte wieder und die anderen lachten ihm nach. Ich schämte mich.

Er gab noch einige Anweisungen und Befehle, danach schwang er sich amüsiert in seinen Mercedes 170 V und zischte ab in Richtung Dortmund. Eigentlich hätte er mich ja gleich mitnehmen können, aber ich musste noch bis Feierabend ausharren. Der VW-Bulli setzte uns alle wieder an der Straßenecke ab, an der er uns aufgelesen hatte.

Während der Fahrt guckte ich muffig und entmutigt am Fahrer vorbei auf die Landstraße. Ich schämte mich für meine Dummheit. Die Landschaft war lange nicht mehr so schön wie am Morgen, lange nicht so schön wie die, die ich verloren hatte. Alles war trist. Meine nackten Kinderbeinchen waren mir diesmal scheißegal, ich wurde auch von niemandem mehr beachtet. Die Männer waren erschöpft von der Arbeit und flachsten nicht mehr viel herum.

Das war’s.

Das war mein zweiter Arbeitstag. Wieder eine Niederlage. Diesmal war ich nicht wütend. Mir hing die Peinlichkeit des ganzen Tages tief in den Falten meiner Seele. Ich war bedrückt. Ich schämte mich wegen des jämmerlichen Bildes, das ich den ganzen Tag über abgegeben hatte. Aber immerhin: 5 Mark!

2 In der Kinderbrigade

Am Abend wühlte ich in dem Kleiderschrank meiner Eltern auf der Suche nach abgelegten Kleidungsstücken meines Vaters. Ich hatte die fixe Idee, dass es nur meinem lächerlichen Outfit geschuldet war, dass ich beide Male keinen Erfolg gehabt hatte. Ich fand eine helle verschlissene Cordhose, die er gerne trug, wenn er mit seinem kastenförmigen Opel P4 durch Niedersachsen fuhr und Bauernhöfe, Förstereien, Holzbearbeitungsbetriebe und Mühlenbetriebe abklapperte, auf der Suche nach Arbeitsaufträgen. Unsere Mutter sorgte dafür, dass er manchmal eines seiner Kinder mitnahm. Das waren dann herrliche Ausflüge.

Ich probierte diese Hose an, die so angenehme Erinnerungen in mir weckte. Sie war ein bisschen zu weit und ein bisschen zu lang. Das war korrigierbar. Ich holte eine Schere und schnitt sie unten ab. Das sah – malochermäßig gesehen – irgendwie professionell aus. Ich fand einen Gürtel, in den ich noch einige Löcher bohren musste, bis er passte. Er hielt die Buxe eher schlecht als recht. Ich fand noch ein paar Hosenträger. Jetzt saß alles, sah aber blöde aus wegen der Hosenträger. Ich fand einen abgewetzten, dunkelblauen Pullover meines Vaters mit V-Ausschnitt, der ursprünglich wohl ziemlich elegant gewesen war, und bedeckte damit das unschöne Gewurstel aus Gürtel und Hosenträgern.

Ich prüfte mein Bild vor dem großen Schlafzimmerspiegel: nicht schlecht! Das Einzige, was mich noch störte, was ich aber nicht ändern konnte, war mein Gesicht. Es war ein Kindergesicht, das Gesicht eines „Milchbubis“, zart, freundlich, naiv, „unbescholten“. Ich übte Grimassen, die mich mürrisch, abweisend, „hart“ aussehen lassen sollten. Ich stylte meine Haare mit „Brisk“, der Haarschmiere der männlichen Fünfziger Jahre-Kids, als viele so aussehen wollten wie Elvis. Irgendwie gelang es mir ein wenig, wie ein „Proll“ auszusehen und vor allem: „älter“ – vorausgesetzt, ich machte ein mürrisches Gesicht, was ich vor dem Spiegel sorgfältig einübte.

Über Jahrzehnte meines Lebens wurde ich durchweg als jünger – oft bedeutend jünger – eingeschätzt als ich den Jahren nach war. Das war in manchen Situationen eben ein Nachteil. Ich selbst allerdings mochte stets meine „Jugendlichkeit“ und ich war nicht selten angetan von Männern und Frauen, die in ihrer Erscheinung jugendlich, ja, irgendwie kindlich geblieben waren. Sie hatten – so empfand ich oft – eine besonnene Leichtigkeit in ihrem Wesen, waren auf eine lockere Art spöttisch, zuweilen auch zynisch. Ihr jugendliches Aussehen verbarg ihre Qualitäten wie eine täuschende Maske und sie gingen zuweilen ein wenig in Deckung vor dem Leben um sie herum – so wie ich selbst. Das war es, so dachte ich manchmal, was sie jung erhielt, wenn sie alterten.

Ich wollte keine Zeit mehr verlieren, ich wollte Geld verdienen, wie ich es mir vorgenommen hatte. Am nächsten Morgen fuhr ich schon früh wieder durch diese fiese Stadt, wieder in dieses fiese Amt, besuchte wieder dieses Amtszimmer, in dem dieser Graublonde mit den angeklatschten Haaren saß und stellte mich innerlich wieder auf diesen fiesen Frankreich-Feldzug ein. Es kam aber anders. Er sah mich nachdenklich und prüfend an.

„Gut. Noch ein Versuch. Danach ist Schluss.“

Er schwafelte nicht weiter herum, schwang sich in seinem hölzernen Drehstuhl nach hinten und machte sich sofort über seinen Karteipappkarton her. Er prüfte eine ganze Reihe von Karten, zog drei oder vier heraus und legte sie vor sich hin.

„Hier“, sagte er. „Sie suchen Aushilfen während der Ferien. Sie wollen also speziell Ferienschüler, wie es aussieht. Das ist doch mal präzise.“

Er griff zum Telefon und rief höchstamtlich bei der Firma an.

„Wann?“, fragte er mich, während er mit dem anderen Ende die Modalitäten besprach.

„Morgen“, sagte ich.

Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er:

„Berghofen. Sie bauen dort eine ganze Siedlung. Lauter Eigenheime. Frische Luft, schöne Gegend.“

Er lachte, gab mir den üblichen Zettel mit den notwendigen Daten und wünschte mir diesmal viel Glück.

Am Abend zeigte ich mich in meinem neuen Malocher-Outfit meiner Mutter.

„Willst du es tatsächlich noch einmal versuchen?“, fragte sie und ich spürte wieder, dass sie es nicht gut hieß.

„Ja“, sagte ich, „morgen geht’s los.“

Sie strich mir kurz über meine Brisk-Tolle. Sie kannte ja mein Motiv. Sie wusste, dass ich das für sie tat. Sie wusste auch, dass sie sich nicht durchsetzen konnte, wenn ich mir etwas vorgenommen hatte.

„Mein Eigenbrötler“, sagte sie. So nannte sie mich manchmal und es schwang wie immer ein zärtlicher Stolz in ihrer Stimme.

Schöne, heile Welt mit Gartenzwergen

So kam es, dass ich schließlich doch noch aktiv teilnahm am „Wiederaufbau“, denn dazu gehörte ganz wesentlich: Wohnraum schaffen. Und nicht nur das: ich nahm teil an der Verwirklichung einer großen Idee, einer neuen Kultur des Wohnens.

Ein paar Mouseclicks und ich sehe sie von oben: jene Siedlung, die ich einst mit aufbaute. Google Earth zeigt mir heute eine durch und durch brave, richtig ordentliche Gartenstadt im Grünen.

Einfamilienhäuser, Zweifamilienhäuser, Reihenhäuser, mit Garten oder Gärtchen, Parzellen oder Parzellchen. Ich sehe Gartenmöbel in Plastik und Teak, Bänke, Tische, Kinderschaukeln, Rutschen für die Kleinen, kreisrunde Planschbecken, Swimmingpools, Hollywoodschaukeln. Ein ruhiges Sommerbild: kaum Verkehr auf den Straßen. Der Premium-Mittelklassewagen des Hausherrn steht vor der Garageneinfahrt, mit ihm fährt Papa ins Büro und zurück. Der Kleinwagen steht am Bürgersteig: mit ihm fährt Mama die Kinder in den Kindergarten, auf den Reiterhof, in den Fußballverein oder zur Ballettstunde. Alles sieht friedlich, gediegen, verlassen und verschlossen aus. Würde ich durch die ganze Republik scrollen, ich würde sie überall finden, diese Gartenstädte im Grünen. In Ringen haben sie sich zu Tausenden, zu Zehntausenden um jede Großstadt, jede Kleinstadt, jedes Kaff gelegt, die Landschaft aufgefressen und zerfräst. Das „Volk ohne Raum“, das in seinen Knobelbechern Europa niedergetrampelt hatte, und mit Panzern, Sturmgewehren und Granaten nach „Lebensraum“ gesucht hatte – es fand seinen Lebensraum und Lebenstraum schließlich in abertausenden von Kleingartenkolonien mit übergroßen Lauben.

Stiege ich hinunter in das Bild, das Google Earth mir zeigt, und würde ich dort spazieren gehen, in sommerlichen Abendstunden etwa, ich würde kaum einem Menschen in den stillen Straßen und Alleen begegnen. Auch die Gärtchen und Parzellen sind fast menschenleer, es ist Abendbrot- und Fernsehzeit. Ich würde bemerken, wie sauber alles ist, aufgeräumt, abgezirkelt. Strohkränze an den Eingangstüren, Wolkenstores vor dem Elternschlafzimmer, exotische Pflanzen im Schaugarten nach vorne hin, alles, was die Gartencenter hergeben. Jede Parzelle hat ihre eigenen Spielgeräte für die Kleinen, vor Sicht und Kontakt mit den anderen Kleinen geschützt durch Hecken und Palisadenwände.

Ich bliebe nicht stehen auf meinem Spaziergang durch die deutsche Gartenstadt, um mir das eine oder andere Ensemble näher anzuschauen. Ich hätte Angst, dabei „ertappt“ zu werden. Ein müßig flanierender Fremder, der stehen bleibt und über die Hecke guckt, erzeugt Misstrauen und Furcht. Ich habe das öfter erlebt. Vorsicht ist angesagt, weiß der Häuschenbesitzer. Das Handy ist griffbereit. Einseinsnull.

„Gardencities of tomorrow“ klang es programmatisch in den Architektenzeitungen der Zwanziger Jahre: Licht, Luft, Grün und Sonne für Groß und Klein, raus aus dem ungesunden Mief der Innenstädte, der Hinterhöfe, rein in die Peripherie: ein Häuschen mit Garten, wo sich dann das Glück von selbst einstellt. Dieses Programm wurde zum Nachkriegstraum der ersten Arrivierten der Wirtschaftswunderepoche, und man ging mit gewohnter Wucht und Energie ans Werk. „Tomorrow“ war angebrochen, als ich in Berghofen auftauchte, einer „Gardencity“ im Entstehen.

Überall wurde gebaut. Wiesen und Äcker waren zu Bauland geworden, ein Vorgang, an dem auch damals schon – wie eigentlich immer – die Investoren und Schnäppchenjäger mit dem Insiderwissen ihrer Männerkumpaneien, den Rotary-Clubs, Logen und Burschenschaften, mitorganisierten und mitverdienten. Städtisches Land wurde vermessen, parzelliert, verhökert. Dann schritt man rüstig zur Tat und baute, baute, baute … Und ich baute mit am „Häuschen mit Garten“, dem Traum der besser situierten anderen.

Männer und Kinder

Kurz vor sieben hatte ich meine Baustelle ausfindig gemacht, ein größeres Areal, auf dem „meine Firma“ gleichzeitig zwei Einfamilienhäuser hochzog. Ich fand schnell den, der das Kommando hatte, und stellte als Erstes erleichtert fest, dass er an meinem Outfit und meinem jugendlichen Aussehen keinerlei Anstoß nahm. Ich war auch nicht der einzige „Ferienschüler“ auf dem Platz, wie ich bald feststellte: ich war der achte. Jedem der beiden Bauten wurde eine Viererkohorte „Kinder“ zugeteilt.

Der Mann erklärte mir, was ich zu tun hatte. Es war wieder jener Typ, der mir nun schon vertraut war und den ich damals für „normal“ hielt: wortkarg, emotionslos, humorlos, hässlich – ohne jede Freude. Da war kein Scherz, kein Witz, kein Gefühl.

Wir „Kinder“ hatten die Aufgabe, die Männer auf den Rohbauten permanent mit Material zu versorgen. Sie arbeiteten bereits im zweiten Geschoss und zogen die Außenwände hoch, Ziegelwände. Die Innenwände wurden aus großen weißen, klobigen Quadern errichtet. Vier Zimmer entstanden dort oben, ein Bad und ein Korridor. Vier Männer werkelten dort, denen wir zuarbeiten sollten, die wir also mit allem, was sie als Maurer benötigten, permanent zu bedienen hatten.

Der wortkarge Polier rief einen Jungen heran, etwa fünfzehn wie ich, schmächtig, in ollen Klamotten. Wir maßen uns mit einem kurzen Blick und sahen einander wie in einem Spiegel. Unsere Aufgabe war simpel: wir hatten zwei der Männer mit Ziegeln und „Speis“ zu versorgen – ohne Unterbrechung, bitte.

„Unsere“ beiden Männer waren wie alle anderen: stur, mundfaul, mürrisch, roh. Solange ich dort arbeitete, kam kein freundliches Wort aus ihrem Mund. Sie bölkten, wenn es nicht schnell genug ging oder wenn sie irgendetwas brauchten, sie machten sich über uns lustig, wenn wir uns ungeschickt anstellten. Diese Männer waren alle Soldaten gewesen: das Menschliche war irgendwo im Dreck des Krieges verloren gegangen.

***

So sah unsere Arbeit aus:

Etwas entfernt von dem Bau war eine ganze LKW-Ladung mit Ziegelsteinen aufgeschichtet, die wir letztlich hand- und zugriffsgerecht neben „unsere“ Männer zu platzieren hatten. Das klingt einfach, erforderte aber einige organisatorische Überlegungen. Wir fanden folgenden Dreh: ich warf meinem Kumpel die Steine einzeln zu, Ziegel für Ziegel, der sie dann unter dem Baugerüst neben einer Leiter abstapelte. Hatten wir eine bestimmte Menge beisammen, kletterte ich auf das Gerüstbrett vor dem ersten Stock und er warf mir die Steine hoch, die ich dort noch einmal zwischenlagerte. Wenn alles oben war, kam auch er rauf und wir schleppten die Ziegelsteine zu unseren Männern. Wir bemühten uns, ihnen möglichst einen kleinen Vorrat zu verschaffen, dann konnten wir ein wenig verschnaufen.

Schlimmer war die Sache mit dem „Speis“.

Dieses Wort hörte ich dort zum ersten Mal und noch heute habe ich ungute Assoziationen, wenn ich das Wort auch nur ausspreche oder niederschreibe, denn es riecht nach Schweiß und Knochenmaloche. Bei jedem der beiden Bauten stand eine Zementmischmaschine, in der Mörtel – hier sagte man eben „Speis“ dazu – angemischt wurde. Eine große Trommel mit einem großen Maul und inwändigen Rührvorrichtungen drehte sich unaufhörlich. Ein Malocher stand davor und schippte gemächlich mal eine Schaufel Sand, mal eine Schaufel Zement in das Maul und spritzte dann und wann mit einem Schlauch Wasser hinein. So entstand eine dicke, schwere Pampe, die wir „Kleinen“ letztlich zu „unseren“ Maurern zu transportieren hatten.

Wir fuhren mit einer Schubkarre vor. Der Lau-Malocher am Mischer betätigte einen Hebel, die Trommel neigte sich über unsere Karre und kotzte aus ihrem runden Maul den „Speis“ hinein. Wenn die Karre voll war, war sie kaum noch zu bewegen. Es begann eine fürchterliche Würgerei für meinen Kumpel und für mich.

Da das werdende Haus natürlich ein Kellergeschoss hatte, lief um den ganzen Bau herum ein Graben. An einer bestimmten Stelle war der Graben mit langen Baubrettern überbrückt, die in das noch rohe Erdgeschoss führten. Über diese „Brücke“ mussten wir die Karre heil hinüberbringen, eine für uns unglaublich schwere Schufterei. Wir hatten stets Angst, dass die ganze Chose uns umkippte und der Matsch im Graben landete. Manchmal standen Malocher oder auch der Polier direkt neben uns und rauchten. Sie sahen uns nicht, sie wollten uns nicht sehen, keiner packte mal zu und wenn sie uns wahrnahmen, machten sie sich über uns lustig. Hatten wir die Karre glücklich im Erdgeschoss, füllten wir den „Speis“ in schwarze Hartgummi-Eimer um, in die so genannten „Speis-Eimer“, kletterten mit diesen Eimern über eine Leiter in den ersten Stock und bedienten „unsere“ Männer.

Das war widerliche, schmerzhafte Knochenmaloche, und dafür hatten sie sich die „Kinder“ ausgesucht, die das zum halben Preis machten. Das war kurz vor dem Siegeszug des Gabelstaplers, der Paletten und der Baukräne, die später alles leichter machten und jobhungrige „Ferienschüler“ wie uns wegrationalisierten.

Kinderarbeit zum halben Tarif (vor Vollendung des sechzehnten Lebensjahres bekam man nur den halben Hilfsarbeiterlohn) ersetzte die fehlende Technik und mein erster „Arbeitgeber“ blieb mir für immer in Erinnerung als der „Kinderschinder von Berghofen“. Was mir vor allem anderen auffiel auf meinem „ersten Bau“, bei meinem ersten Job, das war die Gleichgültigkeit, die Gefühllosigkeit und Rohheit der meisten dieser Männer, mit denen ich es zu tun hatte.

***

Einmal hatte ich einen dieser schweren Matscheimer glücklich auf das Gerüst an der Außenmauer die Leiter hoch gehievt. „Mein“ Maurer erwartete seinen „Speis“ an einer der ausgesparten Fensteröffnungen. Dazu war es nötig, dass ich den schweren Eimer etwa bis zur Höhe meiner Schultern, meines Gesichtes, anhob. Ich tat das und erwartete, dass er von oben zugriff und mir das schwere Ding abnahm. Er aber ließ mich schweigend und grinsend hängen in dieser Position. Ich versuchte es noch ein Stück höher, er ließ mich hängen und schwieg grinsend. Plötzlich verspürte ich einen Schlag im Rücken zwischen den Schulterblättern, es machte schmerzhaft und deutlich „Knacks“ in meiner Wirbelsäule. „Mein“ Maurer erkannte an meinem Zusammenzucken genau, was vorgefallen war, und bevor ich den Eimer fallen ließ und den ganzen Dreck hinschmiss, griff er endlich zu. Noch heute sehe ich die Verärgerung und die boshafte Häme in diesem grauen, leeren und dummen Gesicht, dann das kurze Aufblitzen der Schadenfreude, als der Schmerz mich durchzuckte. Ich hatte den ganzen Tag und auch die folgenden Tage noch Schmerzen im Rücken, rollte mit den Schultern und ruderte mit den Armen, um ihn loszuwerden. Ein Wirbel war lädiert, C 6, für immer, wie erst sehr viel später festgestellt wurde. Der Schmerz ist mir bis heute geblieben: von Zeit zu Zeit ist der Nerv entzündet.

***

Damals sah ich das Verhalten selbst dieses Mannes als durchaus normal an, „harter“ Bursche vom Bau eben, so werde ich wohl gedacht haben. Doch das, was mir an den Menschen damals als „normal“ vorkam, sehe ich heute deutlicher:

Viele Männer jener Zeit, mit denen wir Nachwachsenden zu tun hatten, waren wirklich und wahrhaftig krank, wirkten stumpf, brutalisiert, völlig unfähig zu Empathie und Perspektivenverschränkung. Auch das war ein Symptom der Nachkriegs-PTBS im Wirtschaftswunderland. Sie hatten die Einfühlung in den anderen ausschalten müssen, als sie ihr Kriegs- und Vernichtungshandwerk verrichteten, und es blieb ausgeschaltet, als sie ihr Bauhandwerk verrichteten.

***

Von all dem erzählte ich zuhause wie üblich nichts. Ich hatte mir angewöhnt, meine Mutter, die sowieso schon in ihren Sorgen ertrank, nicht auch noch mit meinen Erlebnissen und Kümmernissen zu belasten. Mein Vater war eh selten zu sehen, lebte sein eigenes Ding, und ich hatte nicht den Eindruck, dass er seine Kinder und seine Frau überhaupt richtig wahrnahm.

Wenn ich nach meinem Arbeitstag auf dem Bau am späten Nachmittag wieder zuhause ankam, wusch ich mich, aß ein wenig und legte mich auf mein Bett, wo ich erschöpft einschlief. Ja, ich hatte jedes Mal das Gefühl, richtig hart gearbeitet zu haben. Vom Hof her hörte ich dann noch das Geschrei und das Lachen der anderen Kinder aus dem Haus, die dort ihren Minifußball spielten. Danach war ich weg.

***

Nach einigen Tagen auf dem Bau, zu Beginn meiner zweiten Arbeitswoche, fuhr ein großer LKW mit offener Pritsche und offenem Anhänger auf die Baustelle. Er hatte große, weiß-graue Steine geladen, quaderförmig, die beim Aufbau der Innenwände verarbeitet wurden. Der Vorarbeiter stellte eine Kinderbrigade zusammen, die den Befehl bekam, die Pritsche und den Hänger abzuladen.

Wir vier bildeten eine Kette.

Der Erste räumte die Steine von der Pritsche (später vom Hänger), warf sie dem Zweiten zu, dieser dem Dritten und der Vierte schließlich stapelte sie wieder möglichst nahe am Bau, so dass man sie von dort leicht in das Obergeschoss transportieren konnte. Wir wechselten unsere Positionen in der Kette und als die Pritsche und der Hänger leer waren, bluteten unsere Hände von den scharfen Kanten dieser Steine. Es gab nicht nur keine Gabelstapler und Paletten in den Aufbauzeiten des Nachkriegswunderlandes, nein, auch Schutzhandschuhe gab es selbstverständlich nicht – und man dachte an so was auch gar nicht. Wir wuschen unsere verdreckten und zerrissenen Hände am Wasserschlauch in der Nähe der Speis-Maschine und mussten sehen, wie wir den restlichen Arbeitstag mit den zerschrammten blutigen Pfoten überstanden. Ich erinnere mich an das irritierte und erstaunte Gesicht unseres Antreibers, als wir ihn um Wundpflaster baten. Er hatte keine.

Am Abend, als ich meine Hände über der Badewanne reinigte, floss noch einmal rot gefärbtes Wasser in den Ausguss. Ich kniete vor der Wanne und hielt meine Hände unter den Wasserstrahl, der kühl und angenehm war. Als ich aufblickte, stand meine Mutter mit entsetzten Augen in der Tür.

„Ich will, dass du sofort aufhörst“, sagte sie.

Ich spürte, wie die Wut in meinen Kopf schoss.

„Nein“, sagte ich.

Sie behandelte und salbte meine Hände. Vor ihrer Ehe und bevor sie ihre vielen Kinder bekam, war sie mit großer Leidenschaft und mit großem Engagement Krankenschwester gewesen. Ich hatte immer eine Art Urvertrauen in sie, wenn sie mich mit routinierter Sicherheit nach den Regeln ihrer Kunst verarztete. Später am Abend gab sie mir ein Paar gefütterter Lederhandschuhe, „gute“, die sie selbst noch im Winter zu tragen pflegte. Ich steckte sie in meine Arbeitstasche, nahm mir allerdings vor, sie auf keinen Fall zu benutzen.

***

Die tägliche Schicht begann um sieben Uhr morgens und wir arbeiteten acht Stunden am Tag. Die Frühstückspause um halb zehn dauerte eine halbe Stunde, unbezahlt; die Mittagspause um eins währte ebenfalls eine halbe Stunde, unbezahlt. Gegen sechzehn Uhr war Feierabend (wenn man nicht gerade noch in einer Arbeit steckte, die man eben mal schnell zu Ende bringen sollte, unbezahlt). Am Sonnabend arbeiteten wir nur fünf Stunden mit einer einzigen halben Stunde Pause, unbezahlt. Die Fünftagewoche war noch nicht erfunden.

Richtfest

Nach zweieinhalb Wochen, an meinem dritten Sonnabend auf dem Bau, fuhr gegen elf Uhr ein Mercedes 180 vor. Ein blässlicher, grauhaariger, etwa fünfzigjähriger Mann in einem grünlich-grauen Tweed-Sakko, mit rosa changierendem Hemd (war gerade Mode) und Schlips stieg aus, begrüßte ein wenig linkisch den Vorarbeiter und einige andere Malocher, die zufällig da herum standen. Danach gingen sie alle Mann hoch zu seinem Mercedes, öffneten den Kofferraum und die hinteren Türen und brachten eine Unmenge Bierkästen, Schnapsflaschen, Zigaretten und ein großes Blech mit Mettbrötchen zum Vorschein.

Das war also der Bauherr.

Wer baute damals eigentlich schon? Der Oberstudiendirektor? Der Leiter der Sparkassenfiliale? Der Zahnarzt? Der Betriebsratsvorsitzende bei Hoesch?

Der Bauherr jedenfalls brachte den Stoff für ein sichtlich verfrühtes Richtfest. Niemand dachte mehr an Arbeit. Die Malocher versorgten sich mit Bier, die Schnapsflaschen kreisten und wurden ohne größere Formalitäten an den Hals gesetzt, die Mettbrötchen waren im Nu verputzt. Sie achteten sorgfältig darauf, dass wir, die „Ferienschüler“, uns nicht an den Schätzen vergriffen.

Nun, das war ja mal ein Arbeitstag ganz anderer Art und ein Bier und eine Zigarette hätte ich auch ganz gerne gehabt, und sei’s nur, um ebenfalls ein wenig in Stimmung zu kommen. Von den Mettbrötchen bekamen wir nichts ab und an Schokolade oder Kekse für die „Kinderbrigade“ hatte der grauhaarige Oberstudiendirektor natürlich nicht gedacht. Es war ihm sicherlich auch gar nicht bewusst, dass sein „Häuschen mit Garten“ – zwei Kinderzimmer im Obergeschoss – mit der Arbeitskraft von schlecht bezahlten Kindern erstellt wurde.

Kurze Zeit später fuhr ein leicht ramponierter Käfer auf die Baustelle und ein Bibi-Träger stieg aus, den ich auf Anhieb für den Bauunternehmer persönlich hielt (was sich später auch als richtig herausstellte). Er begrüßte laut und jovial den grauhaarigen Bauherrn und griff sich eine Flasche Bier, um mit seinen Mannen anzustoßen (der Bauherr trank nicht mit). Er hatte einen fetten Bauch, der über seinen Gürtel hing, trug ein gestreiftes Hemd, das hier und da aus seinem Gürtel gerutscht war, einen locker gebundenen schmalen Lederschlips und hatte seinen ledernen Bibi wie üblich in den Nacken geschoben.

Wir, die Ferienmalocherbrigade, lungerten auf der Baustelle herum, ohne dass wir auch nur einen Tropfen oder einen Krümel von der Sause abbekamen. Niemand kümmerte sich um uns, niemand dachte daran, uns nach Hause zu schicken, was ja sinnvoll gewesen wäre. Nach einer guten Stunde hatten sich mehrere Grüppchen gebildet, es wurde gesoffen, geraucht, gequatscht. Ich sah, dass der Bibi-Unternehmer allein und – wie es mir schien – irgendwie ausgegrenzt, geschnitten von den anderen, vor der Baubude des Poliers saß. Die Einsamkeit des Chefs.

Ich war durch das Scheißverhalten der Malocher und des Poliers inzwischen ziemlich sauer und regelrecht wütend geworden. Ich hatte die Schnauze voll von all dem. Ich ging zu dem Dicken, stellte mich vor und sagte: