Kitabı oku: «Tingeln durch das Land Danach – Band 2», sayfa 3

Yazı tipi:

„Ich bin Ferienschüler. Ich arbeite jetzt zweieinhalb Wochen hier. Ich möchte mich heute verabschieden. Vielleicht können Sie im Büro Bescheid sagen, dass ich aufhöre.“

Er guckte mich überrascht an.

„Aber warum denn? Du hast doch noch zwei Wochen Ferien. Kannst doch noch Geld machen.“

Offensichtlich brauchte er die Kinderbrigade, die es für 72 Pfennig die Stunde machte, denn er wusste über die Länge der Ferien genau Bescheid.

Ich sagte:

„Wir kriegen nur den halben Lohn eines normalen Hilfsarbeiters und machen die schwerste Arbeit.“

Ich schilderte ihm unsere Arbeit ziemlich detailliert und schloss etwa mit den Worten:

„Dagegen ist die Arbeit der Maurer Lau-Maloche. Oder der Speis-Mischer! O je: mal ne Schippe Sand, mal ne Schippe Zement, mal ein Schlückchen Wasser. Tät ich auch gern.“

Der Dicke lachte.

Dann schaute er mich nachdenklich prüfend an und es schien mir zu meiner Überraschung so, als sei ich irgendwie durch sein Fett gedrungen und als habe er einigermaßen begriffen, was ich meinte. Er wurde aber abgelenkt durch den spendablen Graukopf im grün-grauen Tweed-Jackett, der ihn – wie ich beobachten konnte – mit allerlei Bauherren-Genöle nervte. Als er mit ihm durch war, stellte der dicke Bibi-Träger seine leere Flasche in den Bierkasten zurück und kam auf mich zu.

„Gut“, sagte er.

„Wir haben eine kleine Baustelle in der Semerteichstraße. Wir haben da nur einen einzigen Mann, wir finden eben keine Leute. Alter Mann. Unhaltbarer Zustand ist das. Am Montag kannst du da anfangen. Leichte Arbeit, verspreche ich dir. Willst du?“

„Ja“, sagte ich.

„Abgemacht.“

Er tippte mit dem rechten Zeigefinger an seinen Bibi, setzte sich in seinen Käfer und verschwand.

Der Henkelmann

Am Montagmorgen um sieben traf ich an der Baustelle in der Semerteichstraße niemanden an und ich hatte Muße, mir meinen neuen Arbeitsplatz näher anzuschauen. Hier war ein Transformatorenhäuschen im Entstehen, das konnte selbst ich einwandfrei identifizieren. Es war ein Fundament gegossen worden und die Außenmauern waren bereits halb hoch. Zur Straße hin war ein kleiner Graben, der mit Brettern überbrückt wurde. Um das Häuschen herum lief ein kleines Gerüst, von dem aus offenbar der obere Teil der Wände gemauert wurde.

Ich wartete.

Gegen halb acht kam ein alter Mann die Straße herauf und es stellte sich heraus, dass er „mein“ Maurer war. Er war hager und wirkte trotz seines Alters noch recht drahtig, hatte weiße Haare, große blassblaue Augen und trug eine Nickelbrille mit runden Gläsern. Er ging ein wenig vornüber gebeugt und seine recht langen Arme pendelten hin und her, wenn er sich bewegte oder redete. Er wunderte sich über meine Anwesenheit. Ich stellte mich vor und sagte, dass ich ihm zur Hand gehen sollte. Er war nicht begeistert, brummelte vor sich hin, ging in seinen Bauwagen und zog sich um. Als er fertig war, tauchte der Dicke in seinem verbeulten Käfer auf und verklickerte ihm noch einmal meine Anwesenheit. Der Alte lachte jetzt und nickte mir zum ersten Male freundlich zu.

„Du musst dich hier nicht kaputt machen – um das mal klar zu stellen“, sagte er, als der Dicke wieder weg war. „Ich habe die Arbeit bisher alleine gemacht. Brauche eigentlich keine Hilfe. Aber, na ja, ist schon in Ordnung so.“

Er werkelte an seinem Mäuerchen und ließ sich fortan von mir seine Steine und den Speis bringen, der morgens in einer Wanne angeliefert wurde. Ich hatte den Eindruck, er nutzte den Zeitgewinn, den er durch mich hatte, um öfter mal ein Päuschen einzulegen. Zuweilen kramte er dann in seinen Hosentaschen nach Kleingeld.

„Hol mal Zigaretten“, sagte er dann und nannte mir seine Marke. Meist kam die Ergänzung: „Und ne Flasche Bier.“

Das war eine angenehme Unterbrechung. Der nächste Kiosk war ziemlich weit weg und ich nutzte die Gelegenheit zu einem ausführlichen und sehr gemächlichen Spaziergang. Denn während ich mich auf der Baustelle in Berghofen heiß und nass gearbeitet hatte, war das vorherrschende Gefühl hier die große Langeweile. Ich ließ mir also viel Zeit beim Tingeln. Ich ahnte, dass er es genoss, wenn er mal wieder allein und unbeobachtet vor sich hin wurschteln konnte. Ich hatte beobachtet, dass er, während er sein Mäuerchen hochzog, zuweilen laut vor sich hin brabbelte. Anfangs missverstand ich das. Ich fragte blöderweise nach, da ich glaubte, er habe mit mir gesprochen. Aber er steckte nur tief in seinem inneren Monolog, denn er knurrte ärgerlich und wedelte mich mit der Hand weg.

Wenn ich ihm seine WY-Chester-Packung und sein Bier brachte, machte er Pause, öffnete die Packung sorgfältig nur an einer Ecke, klopfte eine Zigarette heraus und bot sie mir an.

„Eine darfste“, war sein Spruch dazu.

Er zündete sich selber eine an, setzte sich auf die Stufe des Bauwagens und trank in einem einzigen Zug die halbe Flasche aus. Wir beide rauchten schweigend. Es wurde unser tägliches Ritual. Wenn er fertig war und seine Kippe weggeschmissen hatte, ging er zurück in den Bauwagen und kam mit einem Henkelmann und einem Löffel zurück.

„Meine Frau“, sagte er wie entschuldigend. „Eine warme Mahlzeit am Tag braucht der Mann, sagt sie immer. Na ja.“

Auch ich holte mir meinen Proviant, meine Butterbrote und die Bierflasche mit Zitronentee, mit dem ich alles hinunterspülte. Wir aßen schweigend.

Der Henkelmann war ein schönes Stück Malocherkultur. Sein Henkelmann war von der edleren Sorte. Er hatte nämlich drei Kammern. In der ersten waren stets die Kartoffeln oder auch Kartoffelbrei, in einer zweiten irgendein Gemüse, Bohnen oder Blumenkohl oder Rotkohl beispielsweise, dazu einige Fleischstückchen, und in der dritten Kammer, ein Extragefäß, das obenauf über den beiden anderen Kammern lag, war stets ein Pudding oder Kompott oder Salat. Ich erinnere mich, dass ich, während wir beide schweigend kauten und er gemächlich seinen Henkelmann leer löffelte, über seine Frau nachdachte und über die Organisation ihrer Ehe, ihres Malocherlebens.

Sie musste ja, so rechnete ich aus, das Essen schon am Abend vorgekocht haben oder sie stand sehr früh auf und kochte es ihm frisch ganz früh am Morgen. Auf jeden Fall stand sie mit ihm auf und erhitzte es, bevor sie es in den Henkelmann füllte, denn es war noch warm, wenn er es aß. Diese Überlegungen, die ich da anstellte, rührten mich sehr.

***

Ausgerechnet hier, in der beschaulichen und friedlichen Atmosphäre bei dem Alten, hatte ich meinen ersten Arbeitsunfall. Ein Unfall, der der Langeweile geschuldet war, die meinen langen Arbeitstag prägte, der sich nur sehr, sehr zäh auf den Feierabend zu bewegte. Um mir Abwechslung und ein wenig Bewegung zu verschaffen, fing ich an, mich „sportlich“ zu betätigen. Ich machte Liegestütze und übte Kugelstoßen mit einem Felsbrocken, der offenbar beim Ausheben des Grabens zum Vorschein gekommen war. Am meisten Spaß machte es aber, über den Graben vor dem kleinen Gebäude auf das beträchtlich höher gelegene Gerüstbrett an der Außenmauer zu springen. Es gelang mir immer besser. Ich nahm einen kurzen, kraftvollen Anlauf und sprang mit Schwung auf das Brett.

Einmal ging das schief.

Ich rutschte an der Kante des Brettes mit den Füßen ab (das lag vielleicht an den Schuhen, die zu groß waren, denn ich trug alte, abgelatschte Galoschen meines Vaters – meine „Arbeitsschuhe“). Ich plumpste nach unten in den Graben und im Fallen schlug ich mit dem Kinn an der Kante des Gerüstbretts auf. Ich landete ziemlich benommen, mein Kiefer schmerzte, und ich war heilfroh, dass ich mir nicht selber die Zunge abgebissen hatte. Erst als ich mich mühselig wieder aufrappelte, merkte der Alte, was passiert war. Er schimpfte:

„Was soll denn der Blödsinn? Wir sind hier doch nicht im Kindergarten. Jetzt muss ich auch noch auf dich aufpassen. Herr Gott noch mal.“

Er schimpfte mit mir, als sei ich sein Enkelkind. Ich schämte mich ein wenig. Schließlich wurde er wieder versöhnlich:

„Du setzt dich jetzt da hin und rührst dich nicht mehr vom Fleck bis zum Feierabend.“

Er kam von seinem Gerüst herunter, setzte sich mir gegenüber und beobachtete mich. Ich denke, er versuchte herauszukriegen, ob ich wieder vollständig in Ordnung war oder ob er womöglich einen Krankenwagen rufen musste.

„Beweg deinen Kiefer“, befahl er. „Rauf, runter. Jetzt nach links, nach rechts.“

Offensichtlich war er mit dem Ergebnis zufrieden.

Er saß vor mir und grinste plötzlich. Und dann geschah ein Wunder.

Er brach sein Schweigen und fing an zu erzählen. Er erzählte nicht – wie die anderen alle – vom Krieg, nicht von der Flucht, vom Bombenterror, nein, er erzählte von einem fernen Land, dem Land seiner Kindheit. Es lag irgendwo da hinten im Osten – Pommern? Ostpreußen? Schlesien? –, ein Bauernhof. Da war er aufgewachsen, da musste er schon als Kind mit anpacken … und da hatte er natürlich zahlreiche Unfälle. Die schilderte er nun mit Freude und lustvollen Details: wie der Gaul ihn abwarf, wie er bei der Birnenernte vom Baum fiel, wie er durch das Loch in der Tenne in den Stall plumpste …

„Es ging immer alles gut, ich habe mir nie was gebrochen.“

Schließlich sagte er: „So, jetzt zieh dich um und geh nach Hause.“

Ich arbeitete mit ihm zwei Wochen lang und ich denke heute, dass es auch ihm ein wenig Spaß gemacht hat, jemanden zu haben, der ihm letztlich doch so einige Arbeit abnahm – schließlich war er schon recht alt. Zwei Wochen lang hatte er seinen kleinen Fuzzi, der ihm seine Zigaretten und sein Bierchen holte, der einfach nur da war und ihm half – und ihn hinderte, allzu sehr in seinen inneren Monologen und Erinnerungen zu versacken. Nach jenem Unfall blieb er viel gesprächiger. Es war, als spiegele er sich nun selbst in mir, diesem Jungen, der plötzlich um ihn herumwuselte. Der Bauernjunge kam wieder zum Vorschein, er erzählte seine Döntjes und auch das Schwere, das ihm als Kind und als Heranwachsendem widerfahren war. In seinen Augen lag dann ein fröhlicher Schimmer und manchmal kam der Schalk, manchmal eine große Traurigkeit zum Vorschein. Ich spürte: er fing an, mich zu mögen, und ich mochte ihn auch. Zwei Tage, bevor die Schule wieder losging, hörte ich bei ihm auf.

***

Alles Geld, das ich mit meinem ersten Job verdiente, gab ich meiner Mutter für die Haushaltskasse, die grundsätzlich immer leer war. Es war nicht viel geworden, etwa 160 Mark: „Kindertarif“. Mit sechzehn hätte ich schon gut das Doppelte gehabt. Ich sah, wie „mein Geld“ in nur wenigen Tagen schon wieder weg war, einfach weggeschmolzen. Wir waren eine große Familie mit zahlreichen Bedürfnissen.

So war das immer, auch in den folgenden Jahren, in denen ich auf dem Bau oder in den Fabriken malochte. Es war durchaus nicht wenig, was ich an Geld zusammen bekam in den vielen Schichten, in denen ich mich verkaufte. Doch wenn ich das Geld meiner Mutter abgeliefert hatte, war alles im Nu weg.

Für eine kurze Zeit lebten wir dann vielleicht ein wenig üppiger und ein wenig fröhlicher (und nur meine Mutter und ich selbst wussten, warum), dann war die Welle wieder abgeebbt. Ich gebe zu, dass es mich immer ein wenig traurig machte, dabei zusehen zu müssen, wie alles so schnell wieder zerrann, was ich in meinen Sommern mit so viel Ackerei – und manchmal auch Quälerei – zusammenbrachte.

3 … shame and scandal in the family …

Später fragte ich mich ernsthaft, warum ich mit einer solch verbissenen Härte gegen mich selbst meinen ersten Malochersommer durchzog.

Die Energie, mit der ich mein Projekt „Kohle machen!“ voran trieb, erklärt sich aus der Zeit, in die ich hineingeboren war, und aus dem Leben, das wir führten, meine Eltern, meine Geschwister und ich. Die „finanzielle Misere“, die Geldnot, das „Anschreiben“, das Leben „auf Pump“ und die sozialen Demütigungen, die allenthalben damit verbunden waren, waren die entscheidenden Triebkräfte.

Millionen Menschen erging es ähnlich in den Fünfziger Jahren nach der großen Katastrophe, die die Deutschen über die Welt und sich selbst gebracht hatten. Und doch: Armut wurde schon wieder als individuelles Versagen gesehen. Die Menschen hausten in den Ruinen und in den zerschossenen Häusern und der dickfellige Dünkel derer, die wie immer auf die Füße fielen und schon wieder – wohl bezahlt – ihr biederes Leben führten, als sei nichts gewesen, klassifizierte das als Unfähigkeit, als soziale Dummheit.

Es waren vor allem zwei Ereignisse, die noch heute wie Scheinwerfer diese kranke Zeit für mich ausleuchten: scharf und unbarmherzig. Zwei Geschichten, die mich letztlich dazu brachten, den Arsch hoch zu kriegen und Kohle zu machen.

Erstens: Der Tante-Emma-Laden

Das erste Ereignis geschah im Herbst vor meinem vierzehnten Geburtstag an einem frühen Novemberabend.

Draußen dunkelte es bereits und wir Geschwister standen um unsere Mutter herum in einer ungemütlichen, grün getünchten Küche in einer ungemütlichen und primitiven, grün getünchten Wohnung. Das war bereits unsere zweite Behausung in jener Stadt, in der wir nur wenige Jahre zuvor als Einwanderer gelandet waren. Auf der Anrichte des Küchenschranks stand der kreisrunde Wecker aus hellgrünem Blech, mit einem Klöppel und einer Glocke oben, der immer zu laut tickte und der uns unsere Termine und Pflichten vorgab im Tagesrhythmus – vom morgendlichen Aufstehen und Fertigmachen für die Schule bis zum Abend, wenn wir schließlich wieder schlafen gingen. Er tickte auch jetzt wie immer zu laut, zu aufdringlich. Er tickte sogar bedrohlich, denn er zeigte bereits auf sechs, früher Abend, und der große Zeiger zog stur und gnadenlos seine Bahn. Wir hatten noch eine halbe Stunde, in der wir uns entscheiden mussten.

***

Unsere Essensvorräte standen auf Null, und zwar – was nicht oft vorkam – vollständig auf Null. Der große Küchenschrank, ein elfenbeinweißer Schleiflackklassiker jener Epoche, mit seinen zahlreichen Türen und Fächern, Teller und Tassen oben, Töpfe unten, mit seiner Anrichte und den Kammern links und rechts davon, in denen wir unsere Nahrungsmittel aufbewahrten, gab nichts, absolut nichts mehr her. Alles Essen war aufgegessen.

Die Brotkammer enthielt nichts mehr, nicht mal einen harten vergessenen Knust. Die Kammer, in der wir Mehl und Haferflocken, Reis und Graupen, Linsen und Erbsen aufbewahrten, war leer. Das Fach unten, in dem üblicherweise Kartoffeln, Möhren, Kohl lagen, war leer. Alles war alle, so komplett alle, dass nicht einmal mehr unsere Mutter irgendetwas zum Kauen und Schlucken zusammenbasteln konnte. In dieser Kunst war sie mit der Zeit zur Meisterin geworden, der „Not gehorchend“ (einer ihrer Standardsprüche), aber auch sie brauchte für ihre Improvisationen einen gewissen Grundstock an Nahrungsmitteln. Aus Nichts konnte selbst sie nichts machen.

Da waren meine beiden jüngeren Geschwister, die auf das Abendbrot warteten und die die Brisanz solcher Situationen, in der wir nicht selten steckten, noch gar nicht richtig mitbekamen. Da war meine nur wenig ältere Schwester, die „Große“, die in den schlimmsten und peinlichsten Situationen eingesetzt wurde, um die Familie zu „retten“ und über die Runden zu bringen. Sie war es zumeist, die betteln gehen musste. Jetzt kam also wieder eine peinliche Situation auf sie zu. Sie war bereits – wie ich sah – blass und stumm. Sie antizipierte die Scham und die Schande, die sie auf sich zukommen sah.

„Ich gehe mit dir“, sagte ich zu ihr, um es ihr leichter zu machen, „falls er nicht kommt.“

Er würde nicht kommen, das wussten wir. Er kam abends eigentlich nie gleich nach Hause. Er feierte seinen Feierabend in der Kneipe, er brauchte seine Zeit für sich, die Horde, die Kumpel, den Männertrubel in einer verqualmten Kneipe, seine Biere, und, ja, Frauen, die er zuweilen in diesem Milieu aufgabelte und mit denen er gerne schäkerte. Fünf Kinder hatte er in der Welt ausgesetzt und entzog sich ihnen, so oft und sobald er nur konnte. Er floh uns, er floh seine Frau, er lebte sein Leben abseits von ihr und von uns.

Er hatte ihr versprochen, am Abend da zu sein und Geld mitzubringen, damit wir einkaufen konnten. Aber er würde nicht kommen, das wussten wir. Er hatte das Geld, das wir jetzt brauchten, und er haute es für sich, für sich allein, auf den Kopp. Er ließ seine Frau wie üblich mit all den Widrigkeiten ihres gemeinsamen Lebens sitzen, eines Lebens, das darin bestand, ihre Kinder einigermaßen heil in all diesen Notlagen durchzubringen und unser Familienleben unter den gegebenen Umständen so gut es ging zu organisieren. Es war mir – wie schon so lange – auch an jenem Abend ein Rätsel, warum mein Vater so war, wie er war, und warum er so handelte.

Der Wecker zeigte jetzt zehn nach sechs.

Wir standen in der kleinen Küche und warteten stumm. Es war jetzt sicher, dass er nicht mehr kommen würde. Unsere Mutter gab sich schließlich einen Ruck, ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Wir hörten, wie sie Papier aus der Schublade nahm und ihren Füller, den grünen Pelikan mit der breiten Feder, aufschraubte. Wir hörten, wie sie schrieb.

Ich ging ans Fenster und schaute auf die dunkle Kaiserstraße hinunter. Wir wohnten ganz oben im fünften Stock eines hohen Nachkriegsbaus mit zahlreichen primitiv ausgestatteten Wohnungen, der wohl nur wenige Jahre zuvor hochgezogen worden war und hauptsächlich mit kinderreichen Flüchtlingsfamilien – Arbeitsimmigranten wie wir – vollgestopft war. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein kleines Geschäft hell erleuchtet, „Holbuttko“. Ich sah, wie das weiße Neonlicht aus dem Schaufenster auf den regennassen Bürgersteig fiel. Das war ein kleiner Kaufmannsladen von jener Sorte, die man nur wenige Jahre später nostalgisch „Tante-Emma-Laden“ nannte, in der Zeit des Aufschwungs, als sie reihenweise dicht machen mussten, weil die Discounter und die großen Supermärkte sie verdrängten.

Damals erfüllten sie eine wichtige soziale Funktion:

Leute wie wir konnten bei ihnen „auf Pump“ einkaufen und ich kann mich nicht erinnern, über all die Jahre meiner Kindheit und Jugend Lebensmittel jemals anders eingekauft zu haben als „auf Pump“. Wir mussten „anschreiben“, weil Bares einfach nie da war. Es versickerte in wenigen Tagen schon am Monatsanfang. Wenn unser Vater sein Gehalt bekam, teilte er es sorgfältig auf: einen Teil für sein Trallala am Feierabend und den Rest, der nie ausreichte, für uns, seine Familie. „Anschreiben“ funktionierte allerdings nur, wenn einmal im Monat irgendwie „Tabula rasa“ gemacht wurde, dann war ein Clearing fällig, die Schulden mussten auf Null oder einen kleinen Restbetrag gebracht werden – und wir waren mit diesem Clearing im Verzug. In den vergangenen Tagen hatten wir die kleinen Kaufleute aus dem „Tante-Emma-Laden“, ein älteres Ehepaar, hingehalten und vertröstet. Sie warteten auf ihr Geld, das unser Vater heranschaffen sollte. Heute wollte er das eigentlich tun, das hatte er versprochen. Das tat er aber nicht. Er war versackt mit seiner heimlichen Reserve an „Schickergroschen“, Geld, das er für sich abzweigte. Es hätte allemal gereicht, um unser Problem zu lösen.

Meine Mutter kam zurück in die Küche und gab uns einen Brief und eine lange Einkaufsliste. Wir mussten los, meine Schwester und ich, denn um halb sieben machte der Laden zu. Wir gingen schweigend die vielen Treppen hinunter, überquerten den kleinen Platz vor dem Haus und dann die Kaiserstraße. Wir sprachen nicht. Wir schauten uns mehrmals an, blieben aber stumm. Wir schämten uns.

Wir gingen in den hell erleuchteten Laden hinein und blieben gleich links neben der Tür stehen, denn es waren noch Kunden da, vor denen wir uns nicht auch noch entblößen wollten. Ich spürte den Kloß im Hals, mir war heiß und mein Herz klopfte und ich glaube, meiner Schwester ging es ähnlich. Der Mann hinter der Ladentheke bediente nun die letzte Kundin. Seine Frau – „Tante Emma“ gewissermaßen – rumpelte im hinteren Teil des Ladens herum und räumte auf, denn es war gleich Feierabend.

Schließlich war die letzte Kundin gegangen und der Mann hinter der Theke schaute fragend auf uns. Wir traten vor ihn an die Ladentheke und gaben ihm den Brief und die Liste. Er las den Brief und es wurde ganz still im Laden. Die Frau hatte aufgehört zu werkeln und sah auf ihren Mann und auf uns. Als er den Brief schließlich zu Ende gelesen hatte, legte er ihn vor sich auf die Theke, stützte sich mit beiden Händen an der Kante auf und beugte sich vor. Er studierte die Einkaufsliste eine Zeitlang. Er schaute uns nicht mehr an. Er ging an seine Regale und sammelte alles zusammen, was auf der Einkaufsliste stand, und türmte es vor sich auf der Theke auf. Er notierte alle Preise auf der Einkaufsliste und als er fertig war, sagte er: „Gebt mir die Netze.“

Wir gaben ihm die Einkaufsnetze und er packte alles langsam und bedächtig hinein. Er kam um die Theke herum und drückte uns die Netze in die Hand. Wir brachten unser Dankeschön heraus und er sagte weiterhin nichts. Wir überquerten den Bürgersteig und den Fahrdamm der Kaiserstraße und als wir uns noch einmal umschauten und auf den Laden zurückblickten, sahen wir, dass die beiden vorne an der Tür standen und uns stumm nachschauten. Wir sahen auch noch, wie sie einander anschauten. Dann gingen sie wieder an ihre Arbeit.

***

Den ganzen Abend blieb ich schweigsam. Ich aß stumm und ohne Appetit von dem Essen, das wir besorgt hatten. Später am Abend kam mein älterer Bruder heim. Er war Lehrling in einem Handwerksberuf und wenn er Feierabend hatte, machte er noch lange zusammen mit seinen Freunden die Stadt unsicher. Darin war er unserem Vater sehr ähnlich. Er hatte ein schnittiges Fahrrad, das er mit einem Rennradlenker ausgestattet hatte.

Er war mein Halbbruder, nicht der Sohn meiner Mutter. Mein Vater hatte ihn mit in die Ehe gebracht und meine Mutter behandelte ihn „besonders gerecht“: das hieß, er war der Einzige, der ein Taschengeld bekam, der sein Lehrgeld behalten durfte (während sie meiner Schwester, ihrer geliebten Tochter, das Lehrgeld bis auf den letzten Pfennig abknöpfte – für die Haushaltskasse). An jenem Abend setzte sie ihm wie immer ein reichhaltiges Abendbrot vor und er nahm das ganz selbstverständlich hin und wusste wie immer nicht, wie das überhaupt auf den Teller geraten war.

Erst nach Mitternacht kam dann endlich unser Vater. Ich zog mir das Kopfkissen über die Ohren, um möglichst wenig von dem Krieg, dem ewigen Krieg zwischen den beiden Alten, abzubekommen. Dieser Krieg dröhnte nicht nur Nacht für Nacht durch die Wand in unser Schlafzimmer, er dröhnte durch meine ganze Kindheit.

Die Nachkriegs- und Nachnazi-PTBS der west-deutschen Wunderlandgesellschaft war sehr symptomreich und hatte viele Facetten. Sie traf auch jene, die nicht Mittäter oder Mitläufer gewesen waren, wie meine Eltern. Das Drama ihrer kranken Ehe, das sie vor ihren Kindern aufführten, nahm seinen Anfang in jener unmittelbar vorausgegangenen Epoche, im Land Davor, über das ich zu jener Zeit noch sehr wenig wusste.

Zweitens: Musikunterricht/Spätschicht

Das zweite Ereignis, das mich in meinem Willen zu arbeiten und Geld zu verdienen bestärkte, geschah ein Jahr später, einen Winter weiter, Mitte Dezember 1957, kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag.

In den Fünfziger Jahren wurde Dortmund, die Boomtown im Kohlenpott, von einer ungeheuren Zuwanderungswelle regelrecht überschwemmt. An die 100 000 Menschen zogen innerhalb von nur zehn Jahren in diese Stadt, die zu großen Teilen noch vom Krieg zerstört war und die deshalb mit großen sozialen und infrastrukturellen Problemen zu kämpfen hatte.

Es gab von allem zu wenig. Zu wenig Wohnungen, zu wenig Schwimmbäder, zu wenig dies, zu wenig das, und vor allem: zu wenig Schulgebäude. Das Gymnasium, das ich seit dem Herbst 1953 besuchte, teilte sich das Schulgebäude mit einem kompletten zweiten Gymnasium. Das hieß: es gab „Schichtunterricht“, so, wie es ja auch Schichtarbeit in den Zechen, Stahlwerken und Großbrauereien der Stadt gab. Eine Woche lang Frühschicht von acht bis eins plus sechs Unterrichtsstunden am Sonnabend, die nächste Woche Spätschicht von eins bis sechs, sonnabends frei. Der Schichtwechsel mittags, ein Uhr, verlief in der Regel chaotisch, aber ziemlich reibungslos, und oft hatte man den Eindruck, dass der eigene Stammsitz, den man besetzte, noch arschwarm von der Frühschicht war.

Im Winter startete die Frühschicht im Dunkel des Morgens und endete im Lichte des Mittags, die Spätschicht begann im Lichte des Mittags und endete im Dunkel des Abends. So ging das für mich und meine Mitbetroffenen sieben Jahre lang, bis endlich ein neues Schulgebäude fertig war.

***

An jenem Dezembertag in der Vorweihnachtszeit 1957 hatten wir Spätschicht. Es war der letzte Tag der Woche, ein Freitag, und es war die sechste, die letzte Stunde der Schicht. Das Schichtende war in Sicht und das lange Wochenende ebenfalls. Fach: „Musik“. Es war schon dunkel.

Um den gehobenen Musikunterricht der Obertertia (neuntes Schuljahr) absolvieren zu können, war es notwendig, dass sich die Betroffenen zum Musiksaal begaben, der im obersten Geschoss des ausladenden Schulgebäudes lag, in einem Quergebäude mit Fenstern zur Münsterstraße hin, die vorweihnachtlich erleuchtet und mit bunten Lichtern geschmückt war. Durch das Fenster am Ende des Ganges schimmerte die Weihnachtszeit in den dämmrigen Korridor hinein.

Als meine Klassenkameraden und ich an jenem Abend dort oben ankamen, war der Musiksaal wie immer abgeschlossen und wir warteten auf den Lehrer, den wir „SASA“ nannten, weil er die Angewohnheit hatte, uns Musiksequenzen und Melodien auf „SASA“ trällern zu lassen statt wie üblich auf „LALA“. „SASA“ brachte dann den Schlüssel mit und ließ uns in den Saal. Wir mussten wie stets ziemlich lange warten, denn „SASA“ hatte die Angewohnheit sich zu verspäten: das verkürzte für ihn die Schulstunde. Für uns auch.

Wir juxten und lachten, wir waren gut drauf, wir läuteten gewissermaßen schon das Wochenende ein, das dritte Adventswochenende. Die Weihnachtsferien waren nahe. Kurzum: wir waren in fröhlicher, ziemlich ausgelassener Stimmung.

Als er dann endlich kam, dieser „SASA“ mit dem Schlüssel, war zu erkennen, dass auch er bereits in festlicher Wochenendstimmung war. Er trug – das war ungewöhnlich – einen eleganten dunklen Anzug, ein blütenweißes Hemd und dazu eine dunkelblaue Fliege mit hellen Pünktchen. Er war ein gutaussehender älterer Herr in seinen späten Fünfzigern. Seine weißen Haare, die er üblicherweise beethovenmäßig strubbelig trug, waren diesmal nach hinten gebürstet, was ihm ein strafferes, fast jugendliches Aussehen gab. Klar: nach dieser letzten Unterrichtsstunde seiner Spätschichtarbeitswoche hatte er sich ein vorweihnachtliches Schmankerl wohl verdient – ein Konzert vielleicht oder eine Oper oder auch ein Theaterstück. Irgend sowas Feines, das das Wochenende festlich einläuten würde. Die Vorfreude war ihm anzumerken.

Er eröffnete den Unterricht, indem er uns aufforderte, unser Musik-Lehrbuch hervorzukramen und ein bestimmtes Kapitel aufzuschlagen, das er mit uns durchzunehmen gedachte. Als sich die kurze Unruhe gelegt hatte und die Mitschüler ihre aufgeschlagenen Musikbücher auf ihren Knien platziert hatten, ließ „SASA“ seinen Blick durch die Reihen schweifen und stellte fest, dass einer der Schüler bei seinem Nachbarn reinschaute, weil er sein eigenes Buch nicht dabei hatte.

„Wo ist dein Buch? Warum hast du dein Musikbuch nicht dabei?“, fragte er mich.

Sein Gesicht war unfreundlich und humorlos, ohne jede Empathie. „Streng“ nannte man das in jenen Zeiten. Er galt als „strenger“ Lehrer. Ich ahnte, was kommen würde. Er war berüchtigt für seine ausufernden Strafarbeiten bei auch nur kleinsten „Vergehen“. Ich hatte keine Lust, mir meine schöne Stimmung und die Vorweihnachtszeit durch so etwas vermasseln zu lassen, war sofort hellwach und überlegte blitzschnell, wie ich das Ungemach von mir abwenden könnte. Ich stand nämlich vor einem Dilemma:

Würde ich die Wahrheit sagen („Ich besitze keins“), hätte ich gewonnen und er wäre nicht mehr in der Position gewesen, mich zu bestrafen. Aber der Preis war: ich würde mich vor ihm und auch meinen Klassenkameraden sozial als Underdog „outen“, mich gewissermaßen „ausziehen“. Das war peinlich und das vermied ich in meiner Zeit auf dem Gymnasium tunlichst. Ich hatte gute Gründe dafür. Die Gesellschaft der braven, wohl etablierten Bürger mag die nicht, die von unten zu ihnen aufschließen. Sie halten sie mit ihrem Dünkel auf Distanz. Das wusste ich längst.

Würde ich hingegen lügen („Ich hab’s vergessen“), hätte ich verloren und wäre in den nächsten Wochen mit einer zähen und dummen, langwierigen und langweiligen musiktheoretischen Strafarbeit belastet gewesen, was mir den Advent und die Weihnachtszeit versaut hätte. Andererseits hätte ich mein „Gesicht gewahrt“ und hätte die Rolle durchgehalten, die ich mir zugelegt hatte und die darauf basierte, dass ich einen eisernen Vorhang zwischen „Privat“ und „Öffentlich“, zwischen „Drinnen“ und „Draußen“, hochgezogen hatte. Ich erzählte im „öffentlichen“ Bereich, in der Schule, nichts von den Dramen, die sich „privat“ bei mir zuhause abspielten, und andererseits zuhause nichts von dem, was mir in der „Öffentlichkeit“ – zu jener Zeit also in der Schule – so alles widerfuhr.

Ich überwand meine soziale Scham und entschied mich für die Wahrheit, weil es ja weihnachtete, was ja bekanntlich „weich“ machen soll. Das Fest der Liebe stand ins Haus und ich wollte die Adventsstimmung ausnutzen.

„Ich habe kein Musikbuch“, sagte ich.

Er sah mich Stirn runzelnd an, unfreundlich, humorlos, ohne Empathie, „streng“ eben, wie man diesen hässlichen Blick zu nennen pflegte.

„Was heißt das: ich habe kein Musikbuch?“

Ich erklärte es ihm:

Meine Eltern hätten nur wenig Geld und außerdem hätte ich noch vier Geschwister, die alle noch zur Schule gingen. Zu Beginn des Schuljahres könnte ich mir allenfalls die Schulbücher für die Hauptfächer kaufen, Deutsch, Englisch, Mathe und so. Die Bücher für die Nebenfächer kämen dann im Laufe des Jahres dran, für das Musikbuch sei noch kein Geld da gewesen.