Kitabı oku: «Tingeln durch das Land Danach – Band 2», sayfa 4

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Das war nicht gerade geschickt einem Musiklehrer gegenüber, das wusste ich, aber es stimmte. Und ich hatte ihn in der Tat „platt“ gemacht, ich hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen. Er konnte mich jetzt nicht mehr bestrafen. Ich hatte mein Ziel erreicht, erkannte aber sofort und mit sicherem Instinkt, dass er nachtreten würde.

***

Ich sehe ihn da stehen, hinter ihm der große, schwarz glänzende Flügel vor einem getäfelten Wandschrank aus braunem Holz, in dem allerlei Musikinstrumente und allerlei „Technik“ eingeschlossen waren. Ein seriöser, wohlanständig gekleideter Herrenmensch aus der Rasse der feinsinnigen Akademiker, auf die meine Mutter so große Stücke hielt. Weiße Haare, gepflegtes Äußeres. Nein, er konnte jetzt nicht mehr strafen, was er lustvoll getan hätte, er hatte eine kleine Niederlage einstecken müssen. Ich beobachtete ihn und sah ihn jetzt „ganz“. Er würde eine Gemeinheit nachschieben, das war deutlich zu sehen.

Dieses „Ganzsehen“ einer Person ist etwas, was sich als Schutzmechanismus entwickelt, wenn du sozial von unten kommst und den manchmal vorsätzlichen, meist aber unabsichtlichen Gehässigkeiten der Dünkelhaften ausgesetzt bist. Es ist ein sozialer Röntgenblick, ein Schauen durch die Oberfläche hindurch. In jener Zeit war das „Ganzsehen“ bei mir schon stark entwickelt.

Ich sah jetzt deutlich, wie er sich unmerklich versteifte und ich wusste genau: er würde sich nicht mit seiner „Niederlage“ zufrieden geben, er sann auf Rache, er würde gleich zuschlagen. Man sah ihm an, dass er darüber nachdachte, wie er mich demütigen konnte.

Und in der Tat: er war nicht souverän. Die Gemeinheit kam prompt. Sie richtete sich nicht einmal direkt gegen meine Person: er beleidigte meine Mutter und meinen Vater.

„Eltern“, verkündete er schließlich nach der langen angespannten Stille im Raum, „sollten ihre Kinder nicht auf die höhere Schule schicken, wenn sie nicht einmal imstande sind, ihnen die notwendigen Schulbücher zu kaufen.“

Er genoss das betretene Schweigen seiner Schüler mit einem feinen Lächeln und verdeutlichte in einem Nachsatz:

„Solche Kinder gehören nicht aufs Gymnasium.“

Nach einer weiteren, sehr langen Schweigeminute, die er sichtlich auskostete, begann er seinen Musikunterricht. Und der lief immer nach dem gleichen Schema ab.

***

Unsere Schulstunden waren wegen des Schichtunterrichts von fünfundvierzig auf vierzig Minuten verkürzt worden. Von diesen vierzig Minuten ersparte er sich im Minimum fünf Minuten allein dadurch, dass er grundsätzlich zu spät kam. Etwa zehn Minuten seines Unterrichts füllte er mit einem Stück Theorie aus dem Lehrbuch – nehmen wir an: Aufbau und Struktur der Fuge. Das entsprechende Lehrbuchkapitel hatten seine Schüler in äußerster Stille nachzulesen, während er auf dem Schemel vor dem Flügel saß, jede Störung missmutig registrierte und gegebenenfalls lustvoll bestrafte. Danach Abfragen des Gelesenen mit kurzen Erläuterungen und Beispielen an der Tafel, die wir sorgfältig in unser Notenheft zu übernehmen hatten, da sie Stoff für die nächste Klassenarbeit waren.

Dann setzte er sich an den Flügel und gab uns kommentiert zu hören, worauf es denn so ankam in den Künsten der Fuge. Schließlich, nachdem er auf die Uhr geschaut hatte – sein Zeitmanagement war äußerst präzise –, ging er an den getäfelten braunen Wandschrank, schloss ihn auf und holte einen großen Plattenspieler mit integriertem Lautsprecher hervor, den er auf dem Flügel aufbaute. Gemessenen Schrittes trat er wieder an den getäfelten Wandschrank heran, schloss die Abteilung mit der Plattensammlung auf und entnahm ihr eine Langspielplatte. Bleiben wir im Beispiel: „Bach, Kunst der Fuge.“

Sorgfältig und bedächtig holt er nun die Platte aus ihren diversen Hüllen, geht wieder zum Wandschrank, in dem ein Staubtuch bereit liegt, das er ergreift, kurz ausschüttelt und mit dem er die Platte geradezu liebevoll abwischt. Ich sehe ihn, seine Lesebrille auf der Nase, wie er sich vorbeugt und die Platte auflegt, den Arm mit der Nadel anhebt und haargenau auf die Stelle aufsetzt, auf die es ihm ankommt und auf die er uns vorher aufmerksam gemacht hat. Bach ertönt.

Jetzt macht er etwas Vorweihnachtliches, Stimmungsvolles. Er löscht das Deckenlicht. Nur das Licht für die Noten über der Tastatur des Flügels brennt noch. Von draußen fallen die Weihnachtslichter der belebten Münsterstraße in den Raum. Er sitzt auf dem Klavierschemel, entspannt, den Kopf geschmäcklerisch leicht nach links hinten geneigt. Er lauscht in gebührender Ergriffenheit und belauert uns gleichzeitig. Jedes Flüstern wird mit einer Strafarbeit geahndet, jedes Räuspern unwillig und verärgert registriert. Schüler, die niesen oder husten mussten, so erinnere ich mich, pflegte er zuweilen vor die Tür zu schicken.

Mit traumwandlerischer Sicherheit gelang es ihm stets, cirka drei bis vier Minuten vor Schluss der Schulstunde auf seine Armbanduhr zu schauen. Wenige Takte danach hob er dann seine rechte Hand – mit dem Handteller nach oben. Danach stand er auf. Er sagte nichts mehr. Wir wussten auch ohne verbale Anweisung, was sein Handzeichen bedeutete: sein Unterricht war zu Ende, wir sollten aufstehen und gehen. Im Weglaufen sahen wir noch, wie er bedächtig und sorgfältig sein Equipment wieder abbaute und wegschloss. Er war immer pünktlich fertig.

***

An jenem Abend war ich als Erster draußen auf dem dämmrigen Korridor. Scham und Wut steckten mir im Hals. Ich blieb neben der Tür stehen und ließ die anderen an mir vorbeilaufen. Manche mieden meinen Blick, manche grinsten unsicher, manche zuckten mit den Schultern. Alle waren froh weg zu kommen.

Zuletzt kam Schröder. Er legte seinen linken Arm auf meine rechte Schulter und lachte:

„Siehste, du gehörst gar nicht hierher, weil deine Eltern zu blöd sind, Kohle zu machen. Das hätten die doch wissen müssen, dass du ein Fall für die Volksschule bist. Kannst doch Handwerker werden. Was Ordentliches.“

Ich lachte auch.

„Gehen wir noch ein bisschen tingeln?“, fragte er. Ich glaube, er wollte mich ein wenig ablenken und aufheitern.

„Heute nicht“, sagte ich. „Ich möchte allein sein.“

„Na gut“, sagte er. „Aber erwarte nichts von dem da.“ Er zeigte auf die erleuchtete Türöffnung, hinter der „SASA“ werkelte.

„Von dem kommt nichts mehr. Nichts. Absolut nichts. Hau lieber ab.“

Er lachte verächtlich in Richtung „SASA“ und machte sich davon.

Ich ging ein paar Schritte zurück zur Tür des Musiksaals und stand in dem dunklen Gang, angeleuchtet von dem warmen rötlichen Licht, das aus dem Saal auf mich fiel. Ich weiß heute nicht mehr, warum ich das eigentlich machte. Vielleicht wollte ich ihm Gelegenheit geben, sich noch in irgendeiner Weise zu dem Vorfall zu äußern. Ich glaube, dass ich den Wunsch hatte, dass er das Gesagte abmildern würde. Dass er sich entschuldigen würde, davon ging ich nicht aus.

Er sah mich da auch stehen, ein kurzer überraschter Blick und dann ein abweisendes Gesicht voller Abscheu. Danach wendete er sich ab und ignorierte mich fortan. Ich blieb in der Tür stehen und beobachtete ihn weiter und wusste, dass er sich beobachtet fühlte. Ich spürte, dass mein Verhalten ihm unangenehm war und dass er vermutlich selber um seine Schäbigkeit wusste. Ich erkannte das an seiner verkrampften Starrheit. Er war zu keiner Reaktion fähig.

Ich ging nicht weg. Am Ende der Prüfung, die er nicht bestand, schwor ich mir, mich nie wieder sozial auszuziehen und an das Mitgefühl solcher Leute zu appellieren.

Tingeln

Langsam und nachdenklich ging ich durch das leere, stille, halbdunkle Schulgebäude, in das ich also gar nicht hinein gehörte. Ich überquerte den Schulhof und trat durch das Tor auf die Straße, bog nach links in die Haydnstraße ab und dann nach rechts in die Münsterstraße.

Wenn etwas in mir brodelte, brauchte ich eine gewisse Zeit, um wieder frei zu werden, bevor ich zuhause landete. Was ich erlebt hatte, war nicht neu für mich. Auch meine Geschwister hatten Erlebnisse dieser Art gehabt und hatten es für sich weggesteckt.

Früher, im Zeitalter der goldenen Sonnen meiner ersten zehn Jahre, rannte ich bei inneren Verletzungen an die Weser, zu dem alten Treidelpfad in Richtung Tündern. Die Uferböschung dort war mit dichten Büschen bewachsen, in die kleine Pfade hineinführten, die sich zu kleinen versteckten Nischen am Wasser öffneten. Dort saß ich dann lange und schaute dem Treiben auf dem Fluss zu.

Langsam und zaudernd hatte ich mir angewöhnt, die Stadt, in der ich jetzt leben musste, in ähnlicher Weise zu nutzen, diese hässliche Stadt mit ihren Ruinen, den Baustellen, dem Dreck und dem Lärm überall. Ich hatte nun einmal nichts anderes als diese Stadt und ich nutzte sie jetzt als meinen Treidelpfad. Ich „tingelte“ durch die Straßen, manchmal allein, manchmal mit Schröder, der die gleiche Lust am „Tingeln“ hatte. Ganz langsam erwachte ich aus meinem Kindertraum, ich verlor meinen Widerwillen und wurde neugierig. Ich maß das, was ich in Dortmund bekommen hatte, nicht mehr an dem, was ich in Hameln verloren hatte. Ich fing an, die Stadt zu durchlaufen und für mich zu erkunden. So trödelte und „tingelte“ ich gerne nach Schulschluss und sog die Bilder, den Lärm, die Vielfalt der Gerüche und natürlich auch den Gestank der Stadt in mich hinein.

An jenem Vorweihnachtsabend war die Münsterstraße noch sehr belebt und bevölkert. In der Mitte fuhren die Straßenbahnen hin und her, es herrschte reger Autoverkehr und auf den Bürgersteigen links und rechts waren die zahlreichen kleinen Geschäfte noch geöffnet, ausgeleuchtet mit dem grellen, weißen Licht der Neonröhren oder dem gelblichen Licht der Milchglaskugeln. Es wurde noch lebhaft eingekauft, die Geschäfte waren voll, die Menschen rannten mit ihren vollen Einkaufsnetzen und Taschen die Bürgersteige entlang. Weihnachtseinkäufe, Vorweihnachtsstimmung.

Die Münsterstraße war damals eine Art Basarstraße der kleinen Leute, wie man sie heute noch in osteuropäischen Großstädten findet, abseits der Touristenzentren, da, wo die Einheimischen einkaufen, die Menschen mit dem schmalen Geldbeutel.

Schuhgeschäfte gab es, mit billigen Schuhen, die auch billig aussahen, Textilgeschäfte mit preiswerten, grell gefärbten Klamotten, Läden mit Handtaschen, Gürteln und sonstigen Lederwaren, Tante-Emma-Läden mit Lebensmitteln, Tabakgeschäfte, Gemüse, Obst, Kartoffeln, ein Fischgeschäft, in dem auch Geflügel verkauft wurde, Metzgereien, darunter ein Pferdemetzger, bei dem ich manchmal einkaufte, denn Pferdefleisch war billig und für uns niedersächsische Landeier nichts Ungewöhnliches. Und Kneipen gab es natürlich. Kneipen, Kaschemmen, Stampen, Bars jeder Sorte …

Kurz vor dem Burgtor wechselte ich die Straßenseite, um am „Nordpol“ vorbei zu tingeln, einer Striptease-Bar, einem Ort voller Geheimnisse. Vor dem Eingang stand bereits der Türsteher in seiner Phantasieuniform, mit der Kapitänsmütze auf dem Kopf, der „Reinschmeißer“, der sein Etablissement anpries und versuchte, Männer aus dem vorbeihastenden Publikum heraus zu fischen und in seine Höhle zu locken. Ich lungerte ein wenig vor dem Eingang herum und schaute mir die Fotos mit den nackten Frauenkörpern an, die an den einschlägigen Stellen geschwärzt oder mit glitzernden Sternchen überklebt waren. Der „Kapitän“ grinste mich kumpelhaft an.

Nördlich der Eisenbahnlinie, die die Innenstadt durchschneidet, im Einzugsbereich meiner Schule und meines Schulwegs, lag nämlich das Rotlichtviertel der Stadt. Für uns Schüler bequem zu erforschen. Da war die Linienstraße, gleich neben der Münsterstraße, ein großer Straßenpuff mit riesigen Warnschildern am Eingang, die den Minderjährigen den Zugang und das Flanieren in der Bordellstraße verboten.

Die ganze Gegend nördlich des Hauptbahnhofs war voll mit billigen Rotlichtkneipen und Kaschemmen und dem entsprechenden Publikum, Loddeltypen, Nutten und kleinen Gangstern, wie ich mir das so vorstellte. All das durchstreifte ich gern auf meinem Schulweg, besonders nach der „Spätschicht“ und besonders gern im Winter, wenn es schon dunkel war, denn dann bekam die Gegend ihren besonderen Glanz, wurde spannend und geheimnisvoll.

Am Burgtor schaute ich noch einmal zurück. Da war die Eisenbahnbrücke, das Eingangstor zur Münsterstraße. Oben war eine Inschrift angebracht, die ich hundert- und aberhundertmal las auf meinem Schulweg: „Die Münsterstraße, dein Einkaufsziel.“ Diese Münsterstraße gibt es nicht mehr, sie gibt es nirgends mehr in Deutschland.

In der Brückstraße jenseits des Burgtors und in den kleinen Gassen des Brückstraßenviertels änderte sich die Szenerie. Gleich am Anfang der Straße lag die „Schauburg“, am Ende zur Reinoldi-Kirche hin das „Capitol“. Ich glaube, die meisten Kinos der Fünfziger hießen entweder „Schauburg“, „Scala“ oder „Capitol“. An den dunklen Winterabenden gehörte es fast immer zum Programm meines Schulwegs, mir die Filmbilder in den wohlig warmen Foyers anzugucken. Bilder mit Brigitte oder Gina waren meine Favoriten.

Die Bardot-Filme Mitte der Fünfziger waren – glaube ich – vor allem darauf angelegt, Brigitte zu zeigen, ihren Körper, ihr Gesicht, das Weib eben, das immer lockt und sich in die Träume und Sexphantasien von Millionen Männern einloggt. Mindestens einmal im Verlauf der eher banalen Handlungen ihrer Filme drapierte sie der jeweilige Regisseur als die Göttin der Wollust und Verführung in irgendein Bett oder ins Gras oder sonst wo hin. Und diese ganz besondere Einstellung hing dann als Filmbild im Foyer der „Schauburg“ oder des „Capitol“ und lockte. Lockte vor allem Männer an die Kinokasse …

Das Gesicht einer schönen gefährlichen Raupe mit langen Wimpern, großen, naiv fordernden Augen und leicht geöffnetem Mund. Meist schimmerten ihre Zähne hinter den vollen, feucht glänzenden Lippen, die schmollend und vorwurfsvoll lockten: in verhaltener, träge-missmutiger Gier. Und hinter sich her zog das Raupengesicht seinen Raupenkörper. Lasziv auf Effekt drapiert: die Wölbungen ihrer Brüste, ihr hoch gereckter Arsch, die langen Beine, die vollen Schenkel mit der schattigen Nische unter dem hoch geschobenen Saum ihres Kleides … Die volle Dröhnung.

Ich schlich – wie so manch anderer meines Geschlechts – um dieses eine besondere Bild, das Lockvogelbild, das herausstach aus den restlichen eher langweiligen Szenefotos. Es gab mir angenehme Tagträume für den weiteren Heimweg und eine Ahnung davon, was mir das Leben noch alles so bieten würde.

Die Bars des Brückstraßenviertels boten Livemusik im Stil der Zeit. Schrammelkapellen, die zum Vergnügen ihres Publikums – auf Zuruf und wenn die obligatorischen Runden geschmissen wurden – die Schlager der Saison oder altbewährte Operettenmelodien spielten.

Wenn mein Opa, das niedersächsische Wildschwein vom Lande, das stets auf Abenteuer aus war, uns in Dortmund besuchte, gehörte es zu seinem Programm, zusammen mit meinem Vater hier im Brückstraßenviertel eine Nacht um die Häuser zu ziehen. Es gelang ihm in einem der größeren Etablissements dieser Sorte, die Kapelle dazu zu bewegen, ihm zu Ehren das „Weserlied“ zu spielen, was ihm sicherlich Gelegenheit gab, sich großspurig in Szene zu setzen und ihn, wie ich vermute, einige Lagen gekostet hat. Bei späteren Besuchen war er stolz, wenn er mit dieser Erkennungsmelodie, auf die er die Kapelle getrimmt hatte, begrüßt wurde, sobald er das Lokal betrat.

Mein Schulweg führte mich dann – vorbei an den beiden alten Kirchen – auf den Ostenhellweg. Hier gab es noch das damals sehr moderne „Film Casino“ mit den großen Premieren der Zeit, ein Kino mit einem herrlich großen Saal und einer ausladenden Empore hinten, auf der ich am liebsten saß, wenn ich mir einen Film anschaute. Hier war dann die letzte Bildergalerie meines Schulwegs und ich freute mich, wenn ich Gina sah, Gina Nazionale, die Schöne aus Italien …

Der Ostenhellweg war bereits still, die großen Geschäfte waren noch hell erleuchtet, aber bereits geschlossen. Ich ging jetzt zügig nach Hause. Ich hatte noch einen langen Weg die Kaiserstraße entlang und landete schließlich in unserer grün getünchten Wohnung im fünften Stock.

Der eiserne Vorhang

Ich erzählte nichts von dem, was „SASA“ gesagt hatte. Ich erzählte es nicht, dass er mich vor all meinen Klassenkameraden an den Schandpfahl gestellt hatte. Es hätte vor allem meiner Mutter wehgetan.

Ich habe in meiner Gymnasialzeit angefangen, zwischen „privat“ und „öffentlich“, zwischen „drinnen“ und „draußen“ meinen „eisernen Vorhang“ zu ziehen. So erzählte ich zuhause nie etwas von „draußen“, das meine Mutter hätte verletzen können, denn sie vor allem wollte ich schützen.

Nach dem Erlebnis mit „SASA“ nahm ich mir vor, nun auch „draußen“ nie wieder etwas von „drinnen“ preiszugeben – nichts von der Armut, nichts von unserem täglichen Überlebenskampf, nichts von der Hölle, die sich meine Eltern gegenseitig bereiteten und in der ich lebte.

Scham habe ich in jener Zeit oft empfunden. Sie stellte sich nach außen hin dar als Schüchternheit, die mich quälte und die ich lange Zeit nicht loswerden konnte. Meine Schüchternheit, dieses seltsame Schamgefühl: das war nichts anderes – so ahnte ich schon früh – als die Scham und die Menschenscheu meiner Mutter, die sich auf mich übertragen hatten.

Sie stammte aus einem bildungsbürgerlichen, ja, „gutsherrlichen“ Milieu und für sie waren die Armut und das psychische Elend, in das sie in ihrem von Unglück geprägten Leben hineingeschlittert war, der Tiefpunkt ihres Lebens. Sie hatte starke soziale Hemmungen entwickelt und „traute sich kaum noch unter Menschen“, wie sie selbst oft bemerkte.

Einmal rutschte ihr ein scheußlicher Satz heraus:„Wenn ich euch nicht hätte, hätte ich mir schon längst den Strick genommen.“ Sie meinte uns, ihre Kinder. Wir hielten sie also am Leben, in ihrem Leid, in dem sie ja gar nicht stecken würde, wenn es uns nicht gegeben hätte. Ein verquerer Satz mit einer – wie ich immer empfand – widerwärtigen Redewendung, die offenbar aus der unmittelbaren Vergangenheit stammte, denn man hörte sie damals oft von den Alten. Der „Strick“ gehörte zum Alltagsvokabular und zur Alltagspraxis der Nazi-Zeit und war in den normalen Sprachgebrauch jener Generation eingegangen. „Sich den Strick nehmen“ hieß: Schluss machen. Am „Strick“ baumelten die Menschen zu Tausenden im Land Davor, in jener Zeit, der die Erwachsenen gerade entronnen waren.

Ich aber hörte in diesem Satz: von der Schuld meiner Geburt, meiner Existenz. Ich war schuldig, weil ich überhaupt da war und das – so denke ich – war der Kern meiner Scham und meiner Schüchternheit dem Leben gegenüber. Zur „Schande“ wurde die Scham, wenn meine Lebenssituation zum Anlass öffentlich geäußerter Verachtung wurde.

„SASA“ hatte mir vor meinen Mitschülern seine Verachtung gezeigt und hatte mich vor den Augen und Ohren meiner Mitschüler an den Pranger gestellt: Sozialrassismus, wie er im Land Danach gang und gäbe war. Sicher, einige meiner Mitschüler waren empört gewesen über sein Verhalten, das war zu spüren, andere hatten nur ein wenig hilflos gegrinst. Aber ich war tätowiert, so oder so, das wusste ich genau, das wusste und wollte auch „SASA“. Das Tattoo würde verblassen, auch das wusste ich, denn auf die Vergesslichkeit der Menschen ist Verlass. Aber es würde eine tiefe, unreflektierte Sicht vom Underdog bleiben in ihren Köpfen, in den Köpfen meiner Mitschüler, und das war die Absicht hinter der Entgleisung. Tief unten in ihrem Bewusstsein würde es hängen bleiben und damit zuweilen aktiviert werden können: nämlich, dass ich ein „armer Schlucker“ war, einer von unten, ein „Anderer“, einer, der eigentlich gar nicht dazu gehörte …

Die negative oder positive Rollenzuschreibung in einer Männerhorde, in der du dich als Junge oder Mann bewegst – bewegen musst – ist etwas, an dem du nicht vorbei kommst und das an dir klebt. Sie bestimmt deine Stellung, deinen Rang in der Gruppe, ob du das willst oder nicht. Ich sah das damals schon recht klar, wollte mich aber von derartigen Rollenzuschreibungen bewusst lösen.

Ich hielt mich daher während meiner gesamten Schulzeit von allen Cliquen fern, in denen ich – wie ich spürte – letztlich immer „ein Anderer“ sein würde, der „arme Kerl“ eben, den man so mitschleppte, die Schlusslaterne, die jede Clique braucht, der „letzte Arsch“. Das war nicht meine Rolle und sollte nie meine Rolle werden.

Auf meinem Weg zur Schule wurde ich zum Schauspieler: ich schlüpfte in die Rolle des „Alleingängers“, des Eigenbrötlers. Ich stand auf einer Bühne, vor dem eisernen Vorhang, hinter dem alles Private verborgen lag, meinem Publikum zugewandt und spielte Theater. Wenn ich wieder zurück ins Private schlüpfte, hinter den eisernen Vorhang, der meine Welt teilte, legte ich die Rolle wieder ab. So changierte ich zwischen meinen sozialen Welten – und dieses Muster habe ich lange beibehalten: ich schlüpfte in meine Rollen hinein und schlüpfte aus ihnen wieder heraus, wie ich es gerade brauchte. Es gab viele Bühnen in jener Zeit, mit sehr unterschiedlichen Rollen: die „Malocherbühne“, auf der ich in Männerhorden „meinen Mann“ stehen musste. Gleichzeitig war ich braver, angepasster Gymnasiast. Ich war „anschreibender“ Bettler im „Tante-Emma-Laden“. Ich war Kind und Opfer meiner Eltern, die aus ihrer neurotischen Endlosschleife nicht herausfanden. Wer war „Ich“ eigentlich?

Who was me?

4 Binnenwanderungen

Meine zweite Reise in die Malocherwelt, die erste meiner vielen Reisen in die Flaschenkeller, ging von einem glücklichen Ort aus.

Das Jahr 1959, das uns den langen, heißen Sommer bescherte, den man alsbald „Jahrhundertsommer“ nannte, begann sehr kalt, sehr frostig und sehr optimistisch. Mitten im Januar, genau an meinem sechzehnten Geburtstag, zogen wir wieder einmal um. Es war der dritte Umzug in dieser neuen Stadt innerhalb von nur fünf Jahren und der nun, das wussten wir, würde der letzte sein. Wir waren am Ziel angekommen. Heute, am 16. Januar 1959, meinem sechzehnten Geburtstag – fünf Jahre und fünf Monate war es her, seit wir in die Stadt der Arbeit eingewandert waren – nahmen wir unser eigenes Häuschen mit Garten in Besitz. Wir hatten nicht damit gerechnet, wir hatten nicht einmal davon geträumt. Kein Traum erfüllte sich hier: die Realität war schneller als der Traum gewesen und hatte uns alle überrascht.

Der Möbelwagen hielt an einer neuen, frisch asphaltierten Straße, an der dutzende von kleinen Wohnhäusern hochgezogen worden waren und fast fertig in der Gegend herumstanden. Unser neues Wohnviertel war, als wir einzogen, nichts anderes als eine Großbaustelle mitten auf einem Acker, den man in Bauland umgewidmet hatte. Billiger Grund und Boden für die kleinen Leute, denn ganz in der Nähe sah man die riesige Schlackenhalde der Dortmund-Hörder Hüttenunion, auf der Loren hin und her fuhren, die ihre heiße und manchmal noch glühende Asche abkippten. Niemand mit Geld und Geschmack hätte hier gebaut: wer lebt schon gerne am Fuße einer Industriehalde …

Noch keines der Häuser war fertig. Sie waren noch nicht verputzt und daher noch eingerüstet: Reihenhäuser mit je vier Wohneinheiten nebeneinander, Vorgarten vorne, Terrasse und Kleingarten hinten – so war es vorgesehen – und so wurde es dann auch. Licht, Luft und Sonne für uns und all die anderen kleinen Leute hier draußen am Rande von Brackel.

Aber noch war alles Baustelle und nackter Lehmboden und so schleppten wir zusammen mit den Möbelpackern unsere Habe auf ziemlich abenteuerliche Weise in unsere kalte, ungemütliche Behausung. Über einen Streifen mit aufgebrochenen Ackerschollen, der schon wenige Monate später ein ansehnlicher Vorgarten war, hatten die Bauarbeiter Bretter gelegt, die zur Haustür führten. Diese Bretter sollten verhindern, dass man während der herbstlichen Regenperiode im Schlamm versank. An jenem Januartag allerdings bestand diese Gefahr nicht, denn der Boden war steinhart gefroren. Und über diese wackelige, eisglatte Bretterbrücke von der Straße bis zur Haustür hin wurde nun unser gesamtes Hab und Gut balanciert, durch das Baugerüst hindurch bugsiert und drinnen schließlich auf die fünf eiskalten Wohnräume und in die feuchten, kalten Keller verteilt.

Unser neues Häuschen war das Eckstück eines der zahlreichen Reihenhäuser, die da in nur einem Jahr hochgezogen worden waren. Nach drei Seiten hin verfügten wir plötzlich über eigenes Land. Jetzt war zwar alles noch Ackerscholle und Baustellendreck, noch nicht vermessen, noch nicht aufgeteilt, noch nicht zugeteilt als Gartenparzelle, aber wir wussten, dass wir alsbald im eigenen Häuschen herumwurschteln und auf eigenem Land Gemüse und Früchte produzieren würden. Ich schaute mich um.

Weit und breit auf dem riesigen Baugelände sah ich nur diese eingerüsteten Rohbauten, ich sah Baumaschinen und Kräne, überall lag Baumaterial herum. Da war noch kein Grün, kein Busch, keine Staude, kein Baum, kein Grashalm. Alles war kahle, braune, gefrorene Ackerscholle.

Manche dieser Wohnscheiben waren bereits bewohnt: das sah man an dem Rauch, der aus den Schornsteinen quoll. Auch unser neuer Nachbar war schon „drin“ und heizte kräftig ein. Für uns zum Vorteil: zumindest die eine Wand, die uns mit seiner Wohnscheibe verband, war nicht mehr ganz so feucht und klamm, sondern bereits ein wenig angewärmt.

Ich stand dick vermummt in einem der oberen Zimmer und empfand die eisige Atmosphäre, die mich an meine Kindheit in der Baracke erinnerte, als prickelnde Herausforderung. Ich hatte Geburtstag und wir hatten unser eigenes Haus bezogen, was für ein Ding! Ich war gut drauf. Zusammen mit meinen Schwestern und meiner Mutter baute ich in den drei Schlafzimmern im Obergeschoss die vielen Betten für uns alle auf, damit wir in der ersten Nacht, vor der uns ein wenig graute, eine Höhle hatten, in die wir hineinkriechen konnten.

Unten in dem großen Wohnzimmer mit dem Ausgang zur Terrasse hin bauten mein Vater und meine Brüder den großen Kachelofen auf, der uns von Wohnung zu Wohnung begleitet hatte. In den Tagen zuvor hatte unser Vater bereits ein Loch für das Ofenrohr in den Kamin gemeißelt, hatte Kohlen und Holz anliefern lassen und siehe da: bereits nach wenigen Stunden saßen wir inmitten unserer Kisten und Kästen, inmitten unseres Umzugsgerümpels um den mollig warmen Ofen herum, auf dem ein Kessel mit heißem Wasser stand. Wir brauchten es für die Wärmflaschen, denn es würde eine kalte und klamme Nacht werden. Wir machten uns über unsere Butterbrotpakete her und stießen mit ein paar Flaschen Bier und einigen klaren Schnäpsen auf meinen Geburtstag und unser Glück an.

***

Unsere erste Wohnung in dieser zerstörten Stadt, in die wir im Herbst 1953 eingewandert waren, war recht luxuriös gewesen. Luxus und Wohnkomfort inmitten einer trostlosen Wüste aus Ruinen und Baustellen. Ein einsames Haus hatte den Bombenterror „überlebt“ und war stehen geblieben. Dort zogen wir nun ein, dritter Stock, ein weiter Blick auf eine riesige Brache: Ruinengrundstücke, Baustellen, laute, hässliche, verkehrsreiche Straßen …

Zentralheizung und stickige Luft. „Kachelbad.“ Heißes und kaltes Wasser. Eine lange Zimmerflucht mit großen Fenstern zur Baustellen- und Ruinenwüste hin.

Das waren die „Sorgenfenster“, denn nachts stand ich oft hinter einer der großen Glasscheiben und schaute hinaus: sorgenvoll, mit schweren und trüben Gedanken. Hier, in unserer ersten Wohnung in dieser unwirtlichen Stadt, spürte ich sehr intensiv und zum ersten Mal in meinem Leben – ich war zehn Jahre alt – Unheil auf mich zukommen. Ich sah eine große, dunkle Wolke Unheil, die über uns allen schwebte. Sorge und Angst – das waren meine Gefühle in jenen Nächten in unserer ersten Wohnung.

In den ersten Dortmunder Jahren in unserer „Luxuswohnung“ fiel alle kindliche Unbeschwertheit von mir ab. Ich sah – fast schlagartig – das Unglück meiner Eltern, die Katastrophe ihrer Ehe, ihre Unfähigkeit einander zu verstehen und zu lieben. Bisher hatte ich nur eine Ahnung von diesem Unglück gehabt, die so schwach war, dass sie die glücklichen und sonnigen Spiele meiner Kindheit nicht überschatten konnte. Jetzt fürchtete ich, dass es irgendwann zum „großen Knall“ kommen und unsere Familie auseinanderbrechen könnte.

***

Da das „Kinderzimmer“ unserer ersten Wohnung zu klein für fünf Betten war, wurde ich ausgelagert und schlief im Wohnzimmer auf der Couch – allein. Meine Geschwister schliefen im Zimmer nebenan, meine Eltern noch ein Zimmer weiter.

Meist schlief ich nicht ein in meiner Einzelzelle. Ich konnte nicht einschlafen. Ich lag auf meiner Couch, war wach und hatte Angst. Ich sorgte mich um meinen Vater, der abends nicht nach Hause kam, sondern „um die Häuser“ zog. Ich fürchtete, dass ihm etwas zustoßen könnte – in dieser fremden, hässlichen, dunklen Großstadt. Irgendwann stand ich dann auf, stellte mich an das große Glasfenster und schaute die nächtlichen, stillen Straßen entlang, die ich gut überblicken konnte, da der Schutt der Ruinen abgetragen worden war, was einen weiten, unverstellten Blick ermöglichte.

Ich wünschte ihn mir herbei und da ich einen freien Blick hatte, nahm ich jede dunkle Figur, die da unten in den Straßen herumlief, ins Visier. Alsbald kannte ich die charakteristischen Bewegungen der Nachtschwärmer und Spätheimkehrer, wenn sie – weit hinten – durch das steinerne Tor neben der Marienkirche schwankten. Die torkelten aus den Kneipen und Bars des Brückstraßenviertels in ihr trautes Heim …

Ich entwickelte schon bald einen sicheren Blick und erkannte meinen Vater auf Anhieb, wenn er in jenem Tor auftauchte. Wenn ich schließlich ganz sicher war, dass er im Anmarsch war, legte ich mich auf meine Couch, hörte auf die Schritte, die in der stillen Straße näher kamen, hörte, wie unten die Haustür ging, hörte ihn die Treppe heraufkommen und unsere Wohnungstür aufschließen. Dann zog ich mir die Bettdecke über den Kopf, denn jetzt kam die Stunde ihrer Ehe …

Oft stand ich noch nach Mitternacht dort, oft wartete ich gar die Polizeistunde ab – ein Uhr Früh –, weil dann die Kneipen schlossen und alle Streuner heim zu Muttern mussten. Unsere große Standuhr tickte laut und schlug jede halbe Stunde – und ich wusste, wenn ich am Fenster stand und über all die neuen Rätsel in meinem neuen Leben nachdachte, dass ich eigentlich schlafen sollte, denn mein Tag begann früh.