Kitabı oku: «Die Ehre der Stedingerin», sayfa 2
„Sag‘ mal, zu wem hältst du eigentlich?“, mischte sich Eike von Bardenfleth ein. Gegen den älteren Bruder wirkte sein Gesicht grob geschnitten, eine Warze über den buschigen Brauen störte Ulrike nie besonders, und er sorgte für Aufregung und Stühle rücken, weil er über die Sitzbretter und Tische geklettert kam und sich unaufgefordert zu ihnen gesellte. „Das ist alles eine Riesenlüge. Wer seinen Hund hängen will, findet immer einen Strick“, raunte er Bolke zu und spannte selbstbewusst neben Ulrike die Schultern aus.
Nachdenklich betrachtete Bolke ihn und schüttelte den Kopf über seinen zynischen Bruder. „So ist es ja nicht, Eike. Die wollen uns nicht umbringen. Wir sollen für sie den Knecht spielen, das ist der Zweck.“
„So, meinst du? Na, ich kann dir was erzählen. Der Ritter der Lieneburg hat den Werther-Hof heimgesucht. Udo Werther hätte zwei Kühe bis zum Sonnenuntergang bei der Burg abliefern müssen, aber er war nicht zugegen, heute Morgen auf dem Markt. Die Schergen veranstalteten in seiner Diele ein Schlachtfest und stachen ihm die Schweine ab. Ein junger Friese, den du kennen dürfest, sorgte für heftiges Handgemenge. Sie suchen ihn überall.“
Bestürzt nickte Bolke. „Ich wüsste in Berne wenige Leute bei denen ich annehme, sie können lesen. Die schriftliche Proklamation an der Tür vom Rathaus gleicht einer billigen Posse!“
„Der Ocko ist ein Teufelskerl“, flüsterte Eike ihm zu. „Einem der Leute des Vogts brach er den Arm und soll einen anderen mit einem Fleischermesser erstochen haben. Dann verschwand er wie ein Spuk über die Mauer im Stall auf den Dachboden. Du kannst dir vorstellen, dass der Ritter schäumte vor Wut. Der alte Werther und vier seine Knechte hängen dafür jetzt in den Birken am Moorbach. Von wegen, die wollen uns nicht umbringen.“
Bolke nickte und schloss die Augen. „Ein bockiger Esel sollte damit rechnen, geschlachtet zu werden… und stirbt der Bauer, muss seine Witwe selbst dafür eine Abgabe leisten an die Burg. Das beste Stück im Viehbestand fällt dann an den Vogt. Aber das ist ja ebenso fällig, will jemand heiraten. Anderswo war das ewig so. Wir werden uns an diese Schikanen gewöhnen.“
Eike stöhnte. Ulrike holte beunruhigt Atem; der Name Ocko fiel und in ihr flackerten Erinnerungen auf, an die Tage, in denen sie noch ein Kind sein durfte. Sie besann sich auf einen jungen Friesen mit einem verwegenen Zug um den Mund und wachen, hellblauen Augen. Der hieß auch Ocko und führte eine Bande Halbwüchsiger an, die früher die geheimnisvolle Wildnis hinter den Moorweiden unsicher machte. Er duldete keine fremden Kinder auf dem Gut der dortigen Meierei. Später geriet er ins Gerede, da er sich mit jeder einließ, die ihm schöne Augen machte, und fiel in Ungnade bei allen. Dafür rächte er sich in denkwürdiger Art und Weise. Zur Lindenblüte stiegen die Jungfrauen der Gemeinde nach alter Sitte an der Leiter in die Äste hinauf und pflückten ein Körbchen Lindenblüten, und es hieß, ein Handwerksbursche auf Wanderschaft passierte die große Linde, die voller Weibsleute saß und nahm sich in seiner Bettlerfreiheit heraus, die Leiter zu entfernen. Hinterher sprach sich freilich herum, wem der Streich zuzuschreiben war, aber Ocko scherte das wenig, weil für ihn damals die Wanderjahre anbrachen. Ulrike versuchte, sich auf Einzelheiten zu besinnen, doch ehe betretene Stimmung aufkam, fiel Bolke von Bardenfleth in einen Plauderton. „Gestern besuchte mich Elmer der Fuhrmann“, besann er sich. „Der Alte beschwerte sich entrüstet, jemand habe ihm das Pferdegespann gestohlen, während er in der Schänke saß und zechte.“
Begeistert stieß Ulrike die Freundin mit dem Ellbogen an, er hatte ihre Neugierde geweckt. Bolke lächelte sinnig, und Birte, sich neugierig über den Tisch beugend, folgerte: „Klingt nach dem Streich eines Spaßvogels.“
Bolke schickte trocken die Erklärung hinterher. „Sagen wir, er hat kluge Pferde, der Elmer. Er wankte heim und traute seinen Augen kaum, da ihn Fuhrwerk und Gespann bereits erwarteten. Er hat seine Pferde über Gebühr warten lassen, und die Tiere fanden allein den Weg nach Haus.“
Birte prustete ein helles Lachen heraus. Ulrike belächelte es. Sie ärgerte sich, offenbar hielt selbst ein Mann wie Bolke es für unangebracht, sie und Birte an einem Männergespräch teilhaben zu lassen. Seit sie sich als eine Erwachsene begriff, stieß es ihr übel auf, kam dieser ungeliebte Wesenszug an den Tag. Ulrike war kein Kind mehr und spürte genau wie die Männer, der Graf von Oldenburg streckte vor dem Rathaus zu Berne eindeutig die Hand nach Stedingen aus; unruhige Jahre bahnten sich an. Sie hob aufbegehrend das Kinn, da empfahlen sich die Bardenflether schon. Eike nickte Ulrike zu, niemand sollte von ihm sagen, er habe sie wie Luft behandelt. Die beiden tauchten in der Menge unter, da flüsterte Birte: „Der Bolke ist nach meinem Geschmack.“
„Er scheint verliebt“, fiel ihr ein. „In dich, Birte. Hast du das nicht gemerkt?“
Birtes Züge erstarrten. „Ach was, du hörst das Gras wachsen.“
Einen Moment überraschte Ulrike ihr ungläubiges Gesicht, dann zuckte es um ihren Mundwinkel, als bereite ihr Birtes Verlegenheit Vergnügen. Sie zwinkerte schelmisch. „Meinst du, es ist Zufall, wenn der höchste Deichgraf sich so eurer Sache annimmt? Hat dir noch nie ein Mann so richtig von Herzen nachgestellt und dir so wie er eben, in immer länger werdenden Reden zu verstehen gegeben, wie du ihm gefällst?“
Es überraschte Birte, dass sie verdattert die Lippen kräuselte. „Hat er das?“
„Ja, er sah meistens dich an. In sechs Tagen feiern wir Erntedank in Berne. Lass uns hingehen. Ich kann dir flüstern, wer dich zum Tanz auffordern wird.“
„Na, wir werden sehen.“ Birte freute sich, und in Ulrikes Zügen setzte sich ein breites Schmunzeln durch. „Während der Rede des Deichgrafen betrachtete dich sein Sohn mit einem verträumten Ausdruck… richtig lange… verstehst du, Birte? Und dieser Mann, das darfst du mir glauben, der weiß, was er will.“
In dem Augenblick näherte sich vom Feldweg, der zur Huntebrücke führte, trommelnder Hufschlag, eine Handvoll Reiter steuerten den Hof an. „Wir bekommen Besuch“, bemerkte Birte leise.
Ulrike nickte ihr zu. „Sie suchen Ocko. Ob es nun der ist, an den ich bei diesem Namen denke, weiß ich nicht, aber dem ist einiges zuzutrauen. Womöglich feiert er flott hier mit, während die Schergen des Vogtes Ställe, Scheunen und Wäldchen durchkämmen nach ihm. Der mit der Kettenhaube ist Graf Moritz. Ich sah ihn vormittags in Berne, als sie die Bulle verlasen und das Blatt an die Rathaustür genagelt haben.“
Der Graf wäre fast in die feiernde Gesellschaft hinein galoppiert und riss bei der Trauerweide heftig die Zügel an, sein Ross bäumte sich vor den Tischen auf. „Was ist denn hier los?“, rief er gehässig. „Ich schätze, ihr feiert zu früh.“
Zum zweiten Mal an diesem Abend fiel Ulrike der junge Bardenflether auf. Der war nämlich abseits der gedeckten Tafel noch in ein Gespräch gezogen worden und lachte dem ungeladenen Besuch beherzt ins Gesicht. „Auch, wenn Ihr unser Lehnsherr seid… Ihr stört, werter Herr Graf! Für Euren Stand wirft es schlechtes Licht auf Euer Ansehen im Land, in der Art in eine Feier hinein zu poltern!“
„Schweig, stehst du vor deinem Lehnsherren, befahl ihm Graf Moritz. „Ich habe euch Wichtiges zu sagen, womit sich die Feier erübrigen dürfte.“
„Lasst hören, werter Herr Graf“, gab Bolke von Bardenfleth frech zurück. Ein Klappern lief durch die Sitzreihen der Festtafel. Alle, die bis eben unbeschwert an ihrem Bier nippten, stellten den Krug auf den Tisch und hielten den Atem an.
„Sollte einer unter euch einen heimlichen Gast auf dem Heuboden beherbergen, empfehle ich, das zu melden. Wer Ocko Unterschlupf gewährt, wird gehängt… wie der Gesuchte selbst. Ist das klar? Niemand kann sich hinterher herausreden“, drohte der Graf ausdrücklich und erinnerte sie mit gesenkter Stimme: „Noch etwas: Ich schickte eure Knechte zum Hemmelskamper Wald um Eichen zu schlagen für ein Herrenhaus. Ich will, dass es vorangeht auf der Baustelle, und ich erwarte von jedem, den ich hier sitzen sehe, morgen ab dem Sonnenaufgang bei der Rodung zu helfen. Wer fehlt, den lasse ich in Ketten nach Burg Lechtenberg schleifen.“
Sein Herold mochte sich überflüssig fühlen, doch der Graf formulierte es kurz und bündig selbst und preschte mit seinen Reisigen davon, ehe der junge Bardenflether mehr erwidern konnte. Entsetzen ergriff die Feiernden, und Bolke von Bardenfleth räusperte sich. „Ihr habt es gehört. Nicht einmal der Deichgraf kann von euch verlangen, euch dieser Anordnung zu widersetzen. Es wäre einfach unklug; tut mir leid um die, die der Schuh drückt, wo er Sibo Aumund drückte. Wir hätten euch ebenso geholfen, aber das wird schwierig. Man stellt uns ein Bein.“
Schräg gegenüber saß Renke van Hartjen, ein graubärtiger Mann mit geröteten Wangen, die Augen glasig vom vielen Bier. Es betraf ihn. Er hob aufhorchend den Kopf und zog gefasst die Unterlippe hoch. „Herrjemine“, stieß er verdrossen hervor, „das schmeckt nach einem abgekarteten Spiel. Der Graf weiß, das Korn ist reif und muss schleunigst in die Scheune. Wie kann er von mir verlangen, auf der Rodung zu helfen? Ich bin nicht der Heiland, vermag nicht, an zwei Stellen zugleich zu sein und weigere mich, meinen Sohn bei der Ernte im Stich zu lassen?“
„Sie wollen billiges Ackerland einsammeln“, erklärte Bolke ernst. „Diese Menschenschinder. Mir sind wie jedem der hier Anwesenden die Hände gebunden. Ich rate euch: Geht nach Warfleth. Fragt nach Detmar tom Dieke. Es gibt noch mehr, die sich nicht einschüchtern lassen. “
„Was wollen sie mit den brachliegenden Äckern?“, flüsterte Birte der Freundin zu. „Die werden doch nicht ihre Schergen vor den Pflug spannen.“
Ulrike fuhr sich nervös um den Hals. „Dein Vater besitzt ein Gut. Das gefällt ihnen nicht. Die wollen Leibeigene, die sich nicht mucken.“
Sie hob wie unterbrochen das Kinn - am anderen Ende der Bank sprang Eike von Bardenfleth auf, die Hände in den Nachthimmel gestreckt. „Heda Freunde… auf ein Wort. Wartet noch!“ Er nickte allen zu, als hätte sein besonnener großer Bruder etwas Wichtiges außer Acht gelassen. „Renkes Roggenfeld gehört zum Gemeinschaftsacker Altenesch. Wer sich beim Besuch des Grafen unauffällig verhielt, sollte über den Mumm verfügen, sich wie ich morgen zum Sonnenaufgang am südlichen Feldrain einzufinden… im Schatten der größten Eiche! Ich hörte soeben, Sibo Aumunds Knechte sind nicht länger für Hemmelskamp eingeteilt. Sie brennen darauf, mitzuhelfen! Je mehr erscheinen, desto besser…! Dem Grafen wird die Spucke wegbleiben. Der hütet sich, einen Aufstand zu entfesseln und wird anders sein Gesicht wahren. Nach Holler Recht sind wir und unsere Kindeskinder unmissverständlich von jeder Fron befreit, darauf können wir pochen.“
Sein Auftritt sorgte für Beifall und erhitzte Gemüter. Manchen reizte es auf einmal, das Ganze morgen früh mit Eike von Bardenfleth auf die Spitze zu treiben. Es wurde stockdunkel, ehe Ulrike den Heimweg antrat. Von der Festtafel aus nahm sie wahr, in Sichtweite blühte Wiesenschaumkraut, und sie widerstand nicht, einen üppigen Strauß für die Vase zu pflücken. Danach überlegte sie ernüchtert, ob es im Sinn ihrer Mutter wäre, morgen den Männern bei der Ernte zu helfen. Bei der Rodung zu fehlen bedeutete ein Wagnis einzugehen, und die Vorstellung, Udo Werther am Moorbach erhängt, ließ sie erschauern und machte ihr Angst. Die Nachbarhilfe am Altenescher Feld könnte ähnlich enden, und die Tatsache, die Verantwortung für die Schwestern zu tragen, nagte an ihrem Gewissen. Timke war noch keine sechs Jahre alt und die würde mithelfen wollen…
Müde von der Arbeit auf dem Stoppelfeld kamen die drei Schwestern zur Mitternachtsstunde zu einer finsteren Laube, die Berne mit Elsfleth verband und sich einen Steinwurf entfernt im Waldesdunkel verlor, da näherte sich von hinten humpelnder Hufschlag.
„Nanu“, bemerkte Wibke. Für die Tochter eines Schmieds stand sofort fest: „Das klingt nach einem lahmenden Gaul.“
„Stimmt“, bestätigte Ulrike, um sich neugierig umzudrehen und mit den Augen die nächtliche Dorfstraße nach einem kommenden Reiter abzusuchen. In der Tat zeichnete sich schattenhaft ein Pferd im Dunkel ab, und die Gestalt, die es am Zügel führte, war ihr nicht geheuer. Sie warteten, und es handelte sich um einen Edlen, wie an seinem Barett im näher kommen zu sehen war. Im Licht des Mondes wirkte sein langes Gesicht gutmütig und seine Augen ausdrucksvoll. Solch einen Mund verleiht einem Gott, wenn man gern und viel lacht, sagte sich Ulrike. Sie knickste höflich vor ihm, und er erfasste, ihren groben Leinengewändern nach zu urteilen waren sie nicht seines Standes. Um diese Stunde und mit ihnen unter sich, verbeugte er sich trotzdem wie unter Ebenbürtigen und zog sich zum Gruß höfisch das Barett mit der Straußenfeder ab. „Gott sei gelobt, dass ihr mir über den Weg lauft“, sagte er. „Ich habe einen scharfen Ritt hinter mir, und mein Rappe hat irgendwo in einem Vorort einen Huf verloren.“
Ulrike schmunzelte. „Wie sich das trifft, Herr von und zu…“
„Keyhusen“, ergänzte der Junker. „Dirk von Keyhusen. Ich werde auf Burg Lechtenberg erwartet. Ich habe allerdings keine Ahnung, wohin nun…“ Er lächelte breit und rieb sich das Kinn. „Ich kehrte mit einem Freund in einem Gasthaus vor Oldenburg ein, und mein Freund machte bei der Gelegenheit der Tochter eines bei Tisch schlafenden Tuchhändlers den Hof, um das Mädchen dreist auf unsere Kammer zu entführen. Ich verdrückte mich, ritt allein weiter. Selber schuld, könnte man sagen: Wer meint, seinen besten Freund erziehen zu müssen und nur an den eigenen Bauch denkt, den bestraft Gott auf seine Art.“
Ulrike streichelte dem Ross, das durch die Nüstern unwillig schnaubte, das harte Stirnfeld. Die Pferdeschnauze schnüffelte an ihr, und sie hielt den Strauß aus Wiesenschaumkraut nicht gleich weg. Das Tier verleibte sich mit schneller Zunge alle Blüten ein. „Was hast du ihm gegeben?“
Ulrike starrte mit halboffenem Mund auf den Rest Wildkraut in der Hand. Sie lachte hell auf. „Meinen Blumenstrauß.“
Er schloss schuldbewusst die Augen. „Das wollte ich nicht. Ich hätte dich warnen müssen. Adalbert frisst alles, was ihm vors Maul kommt.“
Ulrike nahm es leicht. „Macht ja nichts“, sagte sie, um ihm das schlechte Gewissen zu nehmen. „Na ja, so konnte ich wenigstens das für Euch tun. Denn heute noch zur Lechterburg? Entschuldigt bitte, hoher Herr, Euch dahin zu bringen, ist es wohl zu spät. Ich wüsste höchstens eine Herberge in Berne, bei der meist eine Kammer leer steht.“
„Na das nehme ich doch gerne an.“ Sein Lächeln wirkte flüchtig, aber nur, weil er über ein Problem nachsann. „Wisst ihr einen tüchtigen Schmied in Berne?“
„Sicher, unseren Vater“, entgegnete Ulrike freudig. „Der repariert Deichseln, stellt Scharniere her und vermag obendrein ein Schwert zu schmieden. Wenn wir Euch nicht zu geringen Standes sind, begleitet uns nach Berne.“
So brauchten sie den weiten Weg durch die finstere Waldschneise nicht allein zu gehen, und obwohl außer ihnen um diese Stunde keine Seele mehr unterwegs war, außer einem Marder, der vom Wald her seine nächtliche Runde begann, fand Dirk von Keyhusen noch zu einem Schmied, der seinem Pferd ein frisches Hufeisen unternageln konnte. Ulrike ahnte nicht, wie sehr dieser Akt christlicher Nächstenliebe sich auszahlen sollte.
2. Kapitel
Bis zum Erntedankfest wären noch zwei Tage gewesen, und schon gegen Morgen blies von der Weser her ein heftiger Wind, der die bei den Van Hartjens erwachten Hoffnungen verwehte. Graue Wolken zogen über Osterstade auf, wie am Vortag, und diesmal blieb Stedingen nicht verschont. Eike von Bardenfleth und seine Helfer fingen an, mit Sensen gerüstet das reife Feld abzuernten, doch nach knapp einer Stunde empfahl es sich, schleunigst zu einem Unterstand zu fliehen. Bei Hemmelskamp fielen vereinzelt erste große Tropfen auf den trockenen Sandweg. Dann entlud sich die Schwüle in einem Unwetter; über Stunden stürmte es, Regen peitschte über die reifen Felder. Der Wolkenbruch knickte die Ähren um und drückte alles in den Matsch. Und es regnete einen vollen Tag weiter. Wen die Umstände hinderten, die Ernte einzufahren, für den bedeutete die leer gebliebene Scheune den Ruin. Hinterher hob sich ein Regenbogen ab von dem diesigen Himmel über dem Huntedeich, und das war der Hohn. Aber die Sonne kehrte zurück, und der Spätsommer begann. Vor allen Türen hingen Ährenkränze oder Kränze mit Herbstblumensträußen.
Ulrike versuchte, ein wenig die Stimmung der Jahreszeit einzufangen. Sie stellte eine Bastschale auf den Tisch in der Essecke am Herd, die überquoll von saftigen Früchten, polierte die Äpfel, bis sie appetitlich glänzten, legte goldgelbe Birnen dazu, Quitten und blaue Zwetschgen. Ein darüber rankender Hagebutten-Zweig rundete das Bild ab. Mit dem Eindruck, es könnte Gefallen finden, betrachtete sie ihr Werk. Plötzlich betrat ihr Vater den Raum, das Gesicht verbissen, und Ulrike erschrak. „Was ist Vater? Hat einer mit Haller Pfennigen bezahlt?“
Lüder zog einen festen Mund, und das kündigte stures Schweigen an. Er rieb sich die Nase, dann warf er ihr einen wilden Blick zu, um seinem Ärger doch Luft zu machen. „Du weißt, in Berne soll eine Burg… oder sagen wir ein Herrenhaus für den Oldenburger Grafen erbaut werden.“
Ulrike hantierte noch mit den Händen an den Birnen und nahm die Finger von der Schale. Sie nickte ihm zu. „Ja, ich weiß.“
Lüder stieß einen dumpfen Seufzer aus. „Dann will ich mal ganz offen sein, du lässt ja doch nicht locker“, erwiderte er. „Gestern, als du kurz zum Knochenhauer warst, haben sie bekannt gegeben, dass wir neuerdings zum Lehen der Grafschaft Oldenburg gehören. Und wie dieser Puderarsch den Inhalt der Bulle heruntergeleiert hat, hat mich zur Weißglut gebracht. Vielleicht hast‘ den Rest ja noch mitgekriegt. Jedenfalls habe ich das Maul aufgerissen und bin davon angefangen, dass wir sieben Jahre von jeder Steuer befreit sind, nämlich durch die Verlängerung des Alten Deiches an der Olle.“
Ein Zucken um ihren Mund verriet, wie heftig sie genau das beunruhigte. „Du bist und bleibst ein Hitzkopf. Das war unklug, Vater. Und du weißt das.“
„Das muss ich mir von meiner Tochter sagen lassen“, seufzte er, setzte sich vor die hübsch hergerichtete Obstschale an den Küchentisch und vergrub den Kopf in die schwieligen Hände.
„Ärgere dich doch nicht…Vater. Das Gewitter mag so manchen teuer zu stehen kommen, trotzdem ist es nun einmal geschehen… und es trifft uns ja nicht selbst."
Ulrike blickte ihm forschend in die traurigen Augen - runzelte die Stirn, und er schnitt ein wütendes Gesicht, die Brauen erhoben, den Atem angehalten. Dann atmete er schnaufend durch. „So? meinst du? Ja, wenn das schon alles wäre, was mir im Magen liegt“, entfuhr ihm. „Hier, in dem Haus, in dem ihr geboren wurdet, dürfen wir nicht bleiben. Alles ist hin, das tut so weh. Seit zwanzig Jahren verbringe ich in der Schmiede meine Tage, beschlage den Leuten die Pferde und bessere ihnen die Pflüge aus, und das war es nun.“
Entgeistert starrte Ulrike ihn an. „Was?“
„Ja“, raunte er. „Eben war Ehlert da, des Grafen rechte Hand. Du kennst ihn, den Mann mit dem goldbestickten Barett, der am letzten Sonntag die Bulle anschlug und die Erneuerung des Zehnten bekannt gab. Er stellte mich vor die Wahl: Entweder ich bin bereit, der Burgschmied des Oldenburger Grafen zu werden, oder wir verlieren Heim und Herdstelle. Sie benötigen den Platz für den Bau des Herrenhauses, das Haus wird abgerissen.“
Ulrike unterdrückte einen Aufschrei. „So bringt der Graf die zum Schweigen, die sich herausnehmen, ihm die Meinung zu sagen. Gott, ist das mies. Ja, ja, die Burgen bringen nichts Gutes, das sagtest du oft.“ Dann dachte sie nach. „Und was willst du tun, Vater? Wollen wir uns eine andere Bleibe suchen? Ich bin befreundet mit Birte, der Tochter der Aumunds, und der Deichgraf bewirkte bei den Aumunds ein Wunder. Allen in Berne und Elsfleth führte er vor, was es ausmacht, helfen wir uns gegenseitig und unterstützen einander. Vielleicht hilft Birtes Vater uns.“
„Ich weiß nicht, ob ich das möchte“, erwiderte Lüder. Die große Erleichterung verschaffte es ihm nicht. Es klang eher knurrig und unzufrieden, ohne wirklich Hoffnung zu schöpfen.
Dann öffnete sich die Küchentür, Wibke erschien, die kleine Timke an der Hand. „Was zieht ihr für Gesichter?“
„Wir werden von hier vertrieben“, erklärte Ulrike.
Lüder verbesserte sie. „Entweder ich füge mich, künftig für den Grafen zu arbeiten, oder sie zerren uns mit Gewalt aus dem Haus und wir schauen ohnmächtig zu, während sie vor unseren Augen die Schmiede abreißen.“
Auch Wibke schluckte heftig auf die böse Neuigkeit. Timkes Hand verkrampfte sich in die der Schwester, ihre Augen nahmen einen nassen Schimmer an. Sie barg das Gesicht an der Schürze von Ulrike und schluchzte. Ulrike strich ihr über das Haar und versuchte, sie zu trösten. „Vater malt schnell den Teufel an die Wand. Ob es uns so schlimm trifft, wie es sich in seinem Brass anhört, wollen wir mal sehen.“
„Vielleicht noch schlimmer“, bellte Lüder. „Oh wie ich ihn hasse - diese Ratte mit Sporen.“ Er schüttelte den Kopf über die fatale Lage und bekam offenbar selbst feuchte Augen.
„Also ich gehe jetzt zu Birte“, entschied Ulrike und beschloss, das nicht lange aufzuschieben. Die Augen streiften von Wibke zu Timke, wie eine Aufforderung, ihr zu folgen. Die beiden Schwestern nickten einander zu, und sie ließen den Vater allein in seinem Groll. „Wir müssen uns danach sputen und schleunigst zum Hemmelskamper Wald“, gab Wibke der Älteren zu bedenken. „Alle helfen auf der Rodung, fällen Bäume und beladen die Fuhrwerke.“
„Jeden Tag verspätet sich der eine oder andere“, beruhigte Ulrike sie. „Hauptsache wir sitzen mit am gemeinsamen Mittagstisch. Gewöhnlich geht dann der Konrad mit dem Ehlert durch die Bänke und kontrolliert, wer fehlt.“
Auf der hölzernen Huntebrücke erzeugten ihre Schritte ein dumpfes Poltern. Sie hielten einen Augenblick inne. Der heftige Regen hatte die Hunte über Nacht wieder in einen reißenden kleinen Fluss verwandelt, und den Bauch ans Geländer gelehnt, bebte die Brücke spürbar unter der schäumenden Flut. Die überschwemmte Wiese am abgewandten Schilffeld glänzte wie sonst im April; es stank nach dem Regen wie aufgefrischt nach Kuhmist, wenn die verrotteten Felder auch nicht mehr sichtlich dampften. Drei Reiher pirschten verstreut durch das gelb gemusterte Feuchtgebiet mit den Binsen und einer Badebucht. In der Ferne vor dem Birkenwald entdeckte Ulrike auch den Storch, der auf dem Dach der Aumunds wohnte. „Weißt du, was das Unwetter für die Bauern bedeutet?“, fragte sie Timke.
Der fiel spontan auf, „sämtliche Gräben sind voll und die Kornfelder böse zugerichtet. Na und die Apfelbäume drüben, sehen ganz schön gerupft aus.“
Wibke zog die Nase kraus. „Eben. Den meisten ist die Ernte verdorben…“
Erschüttert blickten Timkes Augen ins Leere. Wibke nickte verbissen. „Sonntag ist Erntedank. Alle müssen eine halbe Fuhre Weizen dem Speicher der Lechterburg abgeben. Bei manchen reicht‘s Korn kaum, für Herbst und Winter bei Aumunds Brot backen zu lassen. Etliche dürften bald auf der Straße hocken – ohne eine Bleibe.“
„So wie wir? Och Mensch. Was wird nun aus uns? Wo schlafen wir überhaupt, wenn die uns auf die Straße jagen?“, bemerkte die Kleine ängstlich.
Ulrike seufzte betrübt, mehr nicht, auch wenn sie sich das Selbe fragte. Und doch wehrte sie sich dagegen, den Kopf hängen zu lassen. „Es gilt jetzt, zu tun, was in unserer Macht liegt, damit es gar nicht so weit kommt. Ich weiß was ich tue und hoffe auf Birte. Wenn’s klappt, ist das Problem umschifft. Unsere Mutter sagte gerne, Aufgeben ist Schwäche - nur der Schwache verzagt.“
Pfützen glänzten auf dem Aumundhof. Sie brachen barfuß auf und trugen nicht, wie das Gesinde hier, Trippen aus Holz. Mit nassen Füßen ließen sie den Stall links liegen, wo sich eine stattliche Trauerweide erhob, und Ulrike dachte darüber nach, wie es auf ihre neue Freundin wirkte, wenn sie derartige Sorgen bei ihr ablud. Unversehens öffnete sich knarrend die Stalltür. Birte hatte die Schweine gefüttert, und die Freundinnen schlossen einander in die Arme. „Mein Vater“, begann Ulrike, „hat sich am letzten Sonntag um Kopf und Kragen geredet…“
Nie vorher begegnete die Freundin Ulrike feinfühliger. Birte streichelte ihr die Schultern, schaute sie bewegt an. „Wir haben ausreichend Platz. So viel sage ich dir jetzt schon zu. Unsere Magot, die Küchenmagd, hat als einzige vom Gesinde eine eigene Kammer gehabt, und seit Mariä Namen wohnt und arbeitet sie nun zu aller Überraschung am Almershof, weil sie Nachwuchs gekriegt hat und uns weggeheiratet wurde. Übel, dass sie ausfällt, aber hat ja nun auch etwas Gutes. Die Kammer liegt seitdem verlassen, ungenutzt… Ich rede mit Vater. Er hat ein Herz für Lüder. Der ist so aufrecht, betont er, so oft er auf den denkwürdigen Auftritt vor dem Rathaus zu sprechen kommt, und dann kriegt er sich gar nicht wieder ein und lacht sich scheckig darüber, wie der werte Graf Lüder einen Augenblick angeglotzt hat.“
Das Giebeldreieck des Gutshauses trug ein kleines Dwalm, und es hatte drei Türen, in der Mitte ein großes Doppeltor und zwei kleine, die zum Kuh- und Pferdestall führten. Ulrike folgte Birte durch den großen Eingang auf die festgeklopfte Diele, wo im Winter das Korn gedroschen wurde. Auf einer Seite drängten sich in Pferchen die Kühe, auf der anderen reihten sich die Raufen und Krippen des Pferdestalls. Es raschelte im trockenen Stroh, eine braune Glucke mit Küken flüchtete vor der einfallenden Sonne hinter die Pferdekrippe. Da Ulrike sich aufmerksam umschaute, hielt es Birte für angebracht, sie auf den Bretterboden über der Diele hinzuweisen: „Das ist der Balken. Der Raum dient der Aufbewahrung des frisch vom Feld kommenden Getreides. Unter der Schräge über den Ställen bewahren wir unser Brennholz auf und natürlich Torf und Stroh.“
Die Herdstelle lag im hinteren Teil der Diele, mit der Rauchfangluke darüber, doch Sibo Aumund suchten sie vergebens. Birtes Mutter war darin vertieft, einen Berg von Wurzelgemüse in feine Scheiben zu schneiden. „Zur Hölle soll er fahren, dieser Scheißkerl von Herold“, schimpfte sie und legte ärgerlich das Messer aus der Hand. „Wie der unseren Vater zur Sau gemacht hat, na hättest mal hören sollen. Sibo sei jung genug für den Frondienst, er solle sich nicht erdreisten, seine Knechte vorzuschicken. Ist deinem Vater ganz schön gegen den Strich gegangen. Aber Gott sei Dank, er lässt sich ja was sagen. Herrgott, wenn der… Na grüß ihn schön.“
Dann wandte sie sich wieder dem Zwiebelbrett zu, und sie mussten einen kurzen Spaziergang auf sich nehmen, um mit ihm zu sprechen, und auf der langen Wegstrecke über den Ochtumsdeich dachte Ulrike über ihren Vater nach. Lüder vermochte zu schweigen wie ein Grab, aber den Mund ließ er sich nie verbieten, und sie liebte ihn dafür. Was könnte einem solchen Menschen bitterer schmecken, als hinterher klein beizugeben? Alle, die ihn für seine Unbeugsamkeit bewunderten, würden bald heimlich mit dem Finger auf ihn zeigen.
Es stank nach einem Exempel, ganz ohne Daumenschrauben und Peitsche. Seine gereizte Art und die nassen Augen passten nicht zu ihm, das ließ ihr keine Ruhe. Ihr Blick streifte mit klammem Herzen die überschwemmten Ufer der Ochtum, und sie fühlte sich an eine gruselige Geschichte erinnert. Eike erwähnte kürzlich, in Friesland erzählten die Eltern ihren Kindern gern vom Drängler, damit sie rechtzeitig vom Spielen den Heimweg antraten. Ein gespenstisches Wesen mit nassen Armen geisterte plötzlich durch ihre Gedanken. Es lauere an den entlegenen Deichstrecken dem späten Spaziergänger auf, und auch in Stedingen war schon so mancher Wandergeselle auf rätselhafte Weise von heute auf Morgen spurlos von der Bildfläche verschwunden. Zeugen gab es nicht. Wem er begegnete, der endete ja in der Ochtum. Der Drängler zieht und drängt sein Opfer unbarmherzig zum Wasser, und wen es trifft, der fühlt sich entsetzlich beengt, wie mit schweren Ketten umschlungen. Vergebens klammert das Opfer sich an Baum und Strauch, wehrt und sträubt sich. Ein Rangeln auf Leben und Tod wird daraus, ehe die Kraft schwindet und das grässliche Wesen den Erschöpften ersäuft. Was der Graf ihrem Vater antat, lief auf das Selbe hinaus, er brach seinen Lebensmut und trieb ihn in die Verzweiflung.
Nach dem überfälligen Wolkenbruch kam die Sonne wieder durch, da erschienen die vier Mädchen auf der Rodung am Hemmelskamper Wald. Die hübsche Birte Aumund sorgte für Pfiffe und anzügliche Sprüche unter den Männern.
„Das ist die Tochter von Sibo“, tuschelte einer der breitschultrigen Burschen, die sich um Eike von Bardenfleth scharten.
„Heda, Rike“, rief Eike sie an, und Ulrike hob das Kinn. Sie ahnte, was ihm das Herz schwermachte und wandte sich Birte zu, als sei sie anderswo gefordert, da stemmte er enttäuscht die Arme in die Hüften.
Überall lagen Birkenstämme im Heidekraut, und fleißige Hände befreiten sie von den Zweigen. Während Ulrike mit Wibke und Timke darüber hinweg stelzte und Birte Ausschau nach ihrem Vater hielt, klang wieder das Hämmern der Äxte über die Heidefläche an dem immer ansehnlicher werdenden Kahlschlag am Birkenwald. Sibo reckte lächelnd den Kopf und ließ die Axt sinken. Seine Tochter und drei junge Mädchen steuerten ihn an. Der Mann, der einen der zwanzig reichsten Höfe im Stedinger Land besaß, ähnelte oberflächlich Birtes kleinem Bruder Klaas, doch das Leben hatte ihn gezeichnet, sein Haar war schon grau und schütter wie das Seggegras am Weserstrand. Eine kurze Erklärung genügte, ihm Einblick in den Sachverhalt zu vermitteln. Er schlug Ulrike vor: „An deines Vaters Stelle würde ich das Angebot des Grafen annehmen. Auf einer Burg sind ständig Pferde zu beschlagen und Rüstungen auszubessern.“