Kitabı oku: «Die Ehre der Stedingerin», sayfa 4
Ulrike presste die Lippen aufeinander wie unter Schmerzen, überlegte – und nickte ihm einverstanden zu. Nicht, weil ihr sein Gesicht gefiel, sondern weil seine Stimme angenehm klang und etwas in ihr bewegte.
„Warum hast du solche Angst vor dem Grafen von Oldenburg?“ Der Ton, in dem er fragte, klang vertraut, und sie erzählte ihm endlich, was ihr das Blut in Wallung brachte. „Ich frage mich, was muss das für ein Mensch sein, der so mit seinem Volk umspringt. Da beobachten die Bauern mit Argwohn das Wetter, um im richtigen Augenblick die Ernte in die Scheune zu holen, und ist es so weit, erklärt der Vogt, es gäbe wichtigeres und käme nun auf jeden Arm an, ganz schnell würden Unmengen an Holz benötigt. In meinen Augen ist das hundsgemein und schäbig, da beißt die Maus keinen Faden ab. Für ein Herrenhaus in Berne, heißt es…“
Dirk räusperte sich. „Hmmn“, brummte er. „Dazu kann ich dir was erzählen, das die Sache für dich verständlicher macht. Worum es dem Mann geht, ist nämlich für mich kein Geheimnis. Da ist zum einen ein Handelsweg… der verbindet Bremen mit Friesland und verläuft genau durch Berne. Die Bernebrücke ist der Knotenpunkt, an dem sich leicht ein ergiebiger Zoll erheben lässt. Begreifst du, Ulrike?“
Sie hob die Brauen. „Na und ob.“
Dirk lächelte, und er ahnte, wie heftig ihr das Herz schlug. „Zum anderen“, fuhr er fort, „besteht über die Olle eine Verbindung mit der Weser, und ein Herrenhaus, oder besser, eine Burg aus massivem Stein, wie es Graf Moritz vorschwebt, dient einem Zweck. Steht die, kontrolliert sie die Weser und wird von jeder Kogge, die nach Bremen will, Zoll verlangen. Der Witz ist, ein Teil davon fließt in die Kasse des Erzstifts, und er nimmt es den Bremer Kaufleuten ab.“
Ulrike stutzte. „Sagt ihr das jetzt, weil ihr das tätet?“
„Nein“, entgegnete er entschieden. „Ich musste mir nur anhören, er möchte zu Weihnachten seinen neuen Sitz in Berne beziehen… und Unmengen Geld aus diesem Land herausholen. Mir ist das zuwider. Jeder, der Zoll erhebt, treibt die Preise in die Höhe. Das trifft immer die Ärmsten.“
Ulrike fragte sich, ob er ernsthaft so denken könnte. Bolke von Bardenfleth wollte eigentlich Birte zum Tanz auffordern und ließ sich neugierig an ihrem Tisch nieder. „Und das erzählt Ihr hier ganz unverhohlen, Herr Ritter?“
Dirk hob lächelnd das Kinn. „Ich weiß nicht, wie Euch das geht, werter Herr. Ich rede über das, was mich empört, und es tut wenig zur Sache, ob ich ein Edelmann bin.“ Seine Gelassenheit sagte Bolke von Bardenfleth zu. „Ich auch“, raunte der. „Und doch werdet ihr nie und nimmer verstehen, was ein armer Bauer fühlt, wird der Nachbar über Nacht von seinem Hof vertrieben.“
Dirk nickte, ohne es als Angriff zu werten. „Und doch bin ich auf eurer Seite“, erwiderte er leise. „Ob Ihr mir das nun glauben wollt oder nicht.“
„Habt Ihr eine Burg, Herr Ritter?“
„Ja, warum sollte ich das bestreiten. Aber bei uns in Zwischenahn und Elmendorf leben nicht annähernd so viele Menschen wie hier. Das Ammerland besteht aus Moor, Erlenbruch und Birkenwald. Große Weiden und Höfe wie hier gibt’s da nicht. Aber mein Vater handhabt das mit den Steuern äußerst ungezwungen. Der Graf von Oldenburg lebt in dem Glauben, wir hätten 54 Untertanen und 37 Hunde.“
Dirk grinste. Er strich sich andächtig über das Kinn und fühlte sich als Hahn im Korb, da ihm inzwischen alle am Tisch atemlos zuhörten. „Wird es euch hier allzu ungemütlich, wandert doch aus. Wir haben einen Aufruf in Groningen und Utrecht aushängen, dass wir Siedler suchen. Auf ein paar mehr kommt es nicht an. Zehn Jahre totale Steuerfreiheit und dann… na ja, jeder das, was er erübrigen kann. Ist ein Unwetter Schuld an der Misere, geht es auch mal ohne Abgabe. Der gute Wille zählt mit… Mein Vater zeigte sich nie versessen auf Geld. Ich werde es so beibehalten… versprochen. So kriegt der Graf von Oldenburg wohl nicht ganz, was ihm zustünde, aber fragt unsere Leute, die sind zufrieden.“
Plötzlich erhob sich Dirk. „Komm“, sagte er sanft zu Ulrike, „es ist angenehm lau. Lass uns über den Rummel gehen, mal sehen, was die Buden so anbieten.“
Sie blickte misstrauisch hoch, und es war ihr nach Lachen zumute. In seinen Augen lauerte ein Glanz, der ihr galt; und sie hob die Nase - der Abendwind trug Düfte von den Garküchen am Palisadenzaun herüber.
Er versuchte, sie an der Hand mitzuziehen, und Ulrike musste sich beherrschen, nicht zuzugreifen. Doch sah es besser aus, ohne seine Hand zu halten, an den Ständen entlang zu bummeln, die sich am Palisadenzaun der Warft reihten. Über einen Tisch bot ein orientalisch gekleideter Händler mit verwittertem Gesicht und blankem Hinterkopf Öllampen feil, und bei einem hellblauen Zelt in Form eines Hausdaches handelte es sich um eine Garküche. Es gab gebrannte Mandeln und kandierte Früchte vom Rost. Dirk kaufte für zwei Kupferpfennige zwei Bratwürste. Ulrike machte einen Knicks, als er ihr eine abgab und biss im Weitergehen vorsichtig ab, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie heiß der Bissen im Mund brannte. Sie hatte den Eindruck, er wollte ihr etwas kaufen, da er bei einem Händler aus Flandern auf ein blütenweißes Leinenkleid mit fantasievoller blauer Stickerei auf den Borten aufmerksam machte. Nie hätte sie sich dazu überreden lassen, aber die Bratwurst aß sie mit sichtlichem Appetit und schlang, ausgerechnet, als er sie ansah, das letzte Stück herunter. Dadurch verschluckte sie sich. Dirk klopfte ihr sachte die Schulter, führte sie zu einem sechseckigen Zelt, das wirkte wie ein Pavillon aus weißem Leinen, wo ein Paar junger Leute Lederarbeiten ausstellte: Taschen, Schnürmanschetten, Lederbeutel, Gürtel in hellem Rindleder oder auch in dunkel eingefärbtem, und dazu Eisenschnallen. Ulrike fragte sich, um was es ihm hier ging, und er eröffnete ihr: „Ich werde morgen früh auf Burg Keyhusen erwartet – zu einer Saujagd. Und es ist ein Mordsritt zur Burg. Ich muss mich dringend auf den Weg machen.“
Sie schmeckte die Rostbratwurst noch auf der Zunge und glaubte, aus allen Wolken zu fallen. „Oh“, rutschte ihr betrübt heraus.
„Ich möchte dich wiedersehen“, beruhigte er sie galant. „In einem Monat ungefähr könnte ich wieder nach Berne. Ich klopfe einfach an und bringe dann ein wenig mehr Zeit mit.“
„In der Schmiede würdest niemanden mehr antreffen. Wir sind umgezogen zum Aumundhof. Der rückt in Sicht, sobald man die große Huntebrücke überquert.“
„Führst du mich hin, zeigst mir das Haus der Aumunds? Ich weiß nicht, ob ich es andernfalls finde, verstehst du?“
Ulrike fühlte sich in ein wahr gewordenes Märchen versetzt. Es war dunkel geworden. Hinter dem letzten der Stände am Palisadenzaun brannte ein heftig räucherndes Lagerfeuer. Zahllose Fackeln und Talglichter erleuchteten die von Blumengirlanden überhangene Festtafel, während die beiden sich über die Holzbrücke entfernten in Richtung Deich. Dort wollte er sie in den Arm nehmen, und sie entwand sich ihm. So ziemlich jeder Edelmann wäre eingeschnappt gewesen, nicht so Dirk von Keyhusen. „Ich stamme aus dem Ammerland“, ging Dirk im Plauderton darüber hinweg. „Bei uns gibt es einen See, der ist einfach riesig, deshalb nennen wir ihn das Zwischenahner Meer. Sehe ich im Sommer zum Abendrot aus dem Kaminzimmer, schaue ich auf eine Bucht, die ist blau, zugewuchert von blauen Lilien. Du wärest entzückt. Aber was rede ich. Nächstmal nehme ich dich einfach mit, du wirst schon sehen, was ich meine.“
„Du willst mich mitnehmen nach Rastede?“
„Nach Burg Keyhusen“, berichtigte er sie. „Ja, das nächste Mal möchte ich dich meinen Freunden Godeke und Ekhard vorstellen und dir die Burg zeigen… eine Burg aus Stein, mit einem Bergfried, zwischen zwei Auen. Das Dorf Zwischenahn vor unserer Haustür hieß früher einmal Zwischenauen.“
Lange verweilten sie auf der Huntebrücke, hörten den Fluss unter sich rauschen. Über allem blinkten die Sterne, und bei den Feuchtwiesen des anderen Ufers wurde es merklich finsterer. Ulrike konnte kaum noch die eigene Hand erkennen und wies ihm das im blauen Mondlicht liegende Gehöft der Aumunds.
Er hielt Wort und brachte sie zum Festplatz am Rathaus zurück. Wenn er nun seinen Rappen bestiegen hätte, wäre ihm einiges an Ärger erspart geblieben. Doch beschlich ihn das Gefühl, sie damit im Stich zu lassen. „Ulrike“, sagte er leise und wartete geduldig, bis sie den Mut aufbrachte, ihm noch einmal in das Gesicht zu schauen. „Gerne lasse ich dich nicht allein, ohne zu wissen, wie es mit deinem Vater weitergeht. Unser Heiland hat einmal gesagt, wer Zeuge wird bei einem Unrecht und einfach wegsieht, ist ebenso verantwortlich wie die, die es begehen. Wer das begreift, hat nie mehr das Recht, einfach wegzusehen. Und das behaupte ich nicht, um zu gefallen. Ich habe durchaus meine Fehler und Schwächen, aber, wenn ich meinen Schutz anbiete, stehe ich dazu, egal welche Kreise das zieht. Ich muss zwar jetzt zur Burg, aber wir sehen uns wieder - bin ein Edelmann mit Grundsätzen, das halte ich mir zugute.“
Er zog sich einen Goldring mit einer filigran umrankten Blüte aus Granatsplittern vom Finger. „Gib mal deine Hand“, forderte er.
Ulrike schüttelte abwehrend den Kopf, immerhin warf sie ein Auge darauf. „Bitte, kein Geschenk“, sagte sie mit Nachdruck.
„Kein Geschenk?“, wiederholte er enttäuscht. „Gut, bewahre ihn für mich auf. Und sende ihn mir, falls du einmal Hilfe brauchst.“
Sie rang mit sich, lächelte ihn darauf an. „Also gut, aber ich stecke ihn erst auf den Ringfinger, wenn wir uns wiedersehen“, stellte sie zur Bedingung. Keine Frage, dieser Junker meinte es gut mit Ulrike, und er machte sie traurig, weil er es plötzlich eilig hatte. Wenigstens versprach er: „Ich werde in etwa einem Monat auf dem Hof der Aumunds erscheinen. Versprochen. Leb‘ wohl.“ Zum Abschied gab er ihr aus dem Sattel einen Handkuss und sprengte über die Bernebrücke davon, denn das Ross des Freundes, mit dem er in Berne weilte, fehlte mittlerweile und ihn trieb ein ungutes Gefühl nach Burg Keyhusen. Ulrike schluckte trocken, als sie ihn nicht mehr sah. Dann fuhr sie sich verwirrt über die Stirn und fragte sich, ob sie die Stunden mit ihm geträumt hatte.
Der volle Mond war unterdessen ein gutes Stück gewandert, leuchtete in seinem unheimlichen Glanz zwischen dem Kirchturm und dem Rathaus. Ulrike fühlte sich auf einmal allein wie ewig nicht. Sie musste sich eingestehen, sie hatte ihre Schwestern, den Vater und die neue Freundin über diesen jungen Mann vergessen - an den zu denken ihren Puls schneller schlagen ließ. Timke wenigstens nach dem Ausgang des Sackhüpfens zu fragen, wäre das Mindeste gewesen. Niemals zuvor geriet ihre Fürsorge für die jüngeren Geschwister so gründlich in Vergessenheit, und sie beschleunigte beschämt ihren Schritt. So kam sie mit beunruhigt umherstreifenden Blicken am Lagerfeuer vor dem Palisadentor vorbei, wo die Holzbrücke über den kleinen Wasserlauf führte, der hieß wie die Ortschaft Berne. Hier, wo viel junges Volk ihres Alters in die Flammen stierte und Männlein und Weiblein zu fortgeschrittener Stunde noch miteinander scherzten und lachten, traf sie Birte wieder. Die saß bei Eike von Bardenfleth in einer bunten Runde, aus der Ulrike sonst niemand kannte, und freute sich, die Freundin in den Feuerschein treten zu sehen. „Dein Vater ist mit Wibke und Timke zu unserem Hof aufgebrochen“, beruhigte Birte sie, und für den Rest des Festes blieb Ulrike bei Eike und der Freundin. Ein hochbetagter Knecht, der einmal ein Auge verlor, weil eine Kuh gedeckt werden sollte und der Bulle wild wurde, brachte unversehens Neuigkeiten vom Nachbarhof. „Gestern besuchten Renke van Hartjen Waffenknechte. Sie haben ihn vom Gut gescheucht wie einen Bettler und drohten dem Gesinde, jeden in den Turm der Lechterburg zu sperren, den es zurückzieht.“
Eike ballte eine Faust, so erschütterte es ihn. „Renke van Hartjen verlor vor zwei Monaten seine Frau. Und jetzt das… Das hat er nicht verdient“, raunte er. „Ach, was rede ich… Insgesamt 17 Bauern brachte es um Haus und Hof, was unser Graf da in Stedingen veranstaltet hat. Das ist eine Sauerei.“
Ulrike bekreuzigte sich bei der Vorstellung, wie rasch man alles verlieren konnte. Sie widerstand nicht lange, der Freundin von ihrem ritterlichen Verehrer und einer fernen Burg bei Rastede zu berichten und flüsterte nicht leise genug. Offenbar hatte Eike sie beobachtet. Er biss sich auf die Lippe und sprang unvermittelt auf. Ein Blick aus anklagenden Augen, dann hob er hochmütig das Kinn, als habe er Besseres vor. In ihrem inneren Konflikt schaute Ulrike ihm nach und begegnete den heiteren Augen einer zierlichen Frau, ihr gegenüber am hochschlagenden Feuer, die sie für gleichaltrig einschätzte. Sie verbarg sich unter einer Decke aus Katzenfellen, die sie fröstelnd über Kopf und Schulter zog. Ein Gesicht mit Lachgrübchen, herzförmigen Lippen und hellen, forschenden Augen schaute unter der Felldecke vor, während das Mädchen knackend von einer Möhre abbiss und gedankenvoll kaute. Birte stellte sie vor. „Das ist Geldis, meine Freundin im Kreis unserer Mägde.“
Ein Gefühl wie Eifersucht schlug bei Ulrike an, doch machte es Birte eher liebenswürdiger, pflegte sie eine freundschaftliche Beziehung zum Gesinde. Allerdings ergab sich keinerlei Unterhaltung mit Geldis, als ob für die andere Dinge zählten. Wie sie waren die meisten Menschen und wendeten scheu das Gesicht ab, begegnete man ihnen in Augenhöhe, oder sie brachen blinzelnd den Blick ab. Birte hingegen lachte die Welt an. In der Kirche hatte sie die Freundin beim Beten beobachtet. Die nahm das wichtig wie sie, und genau wie sie vergaß sie niemals ihr Gebet vor dem Einschlafen, als wären ihre Seelen aus einem Holz. Auch Birte überlegte nie lange, ehe sie antwortete, war offen, so wie Lüder, so wie sie. Kein Wunder, wenn sie sich zu ihr hingezogen fühlte. Sie erwog, Birte anzuvertrauen, wie schäbig sie sich wegen Eike fühlte, aber sie wusste genau, was die ihr dazu sagen würde. So wirkte Ulrike auf alle, als wäre sie einfach nicht zu einer Nacht am Feuer aufgelegt. Ihr ging Dirk nicht aus dem Kopf. Sie hätte sich nicht träumen lassen, ihn wiederzusehen... Während des Tanzes schlug ihr das Herz bis in den Hals, sie verspürte eine eigenartige Erregung in seinen Armen, die ihr noch fremd war. Wie er sehnsüchtig auf den Ausschnitt ihres Kleides äugte, ging ihr durch und durch. Nie fühlte sie sich einem Mann körperlich näher. Es weckte beunruhigende Fantasien. Und sie fragte sich, ob sie ihn bloß mochte oder sich verliebt hatte. Sie seufzte schwermütig, die Einsicht folgte, wie wenig das ihrem stolzen Vater gefiele. Dirk war ein Blaublütiger, und ihr Vater hasste alle Edelleute, Grafen und Ritter. Der hatte sich ja längst darauf versteift, Eike von Bardenfleth solle sein Schwiegersohn werden.
3. Kapitel
Jeden Sonntag läutete die Kirchenglocke, ob sie zur Predigt in Elsfleth rief oder zu Pfarrer Wilke Holms – es war immer so. Wer zu Haus blieb, bekam es daheim mit dem Gefühl zu tun, etwas unaufschiebbar Wichtiges zu versäumen. Fehlte tatsächlich jemand beim Gottesdienst, so gewöhnlich eine Frau, um auf den sonntäglichen Kohltopf aufzupassen.
Die meisten Menschen strömten zu Fuß zum Gottesdienst. Die Familien der großen Höfe brachen am Sonntagmorgen nach dem Erntedankfest mit dem Fuhrwerk auf. So auch die Aumunds, und vorn auf den Kutschbock setzte sich breitbeinig Schorse, der Großknecht. Klaas, der zehnjährige Sohn des Hauses, trieb mit der Peitsche die beiden vorgespannten Ackergäule an. Wie ihre Schwestern und Geldis gab sich auch Ulrike mit einem Platz auf dem hinteren Leiterwagen zufrieden, denn zu laufen wäre mühsamer. Schließlich war sich auch Birte nicht zu gut dafür.
Als die Huntebrücke eben hinter ihnen blieb, kaute Geldis in Gedanken versunken an einer Mohrrübe, da brach das Gefährt seitwärts aus und rammte mit dem Radlager eine einsame Birke. Ulrike wurde mit dem Schwung der jäh unterbrochenen Fahrt zu Birte und Geldis nach vorn geschleudert, und den alten Schorse überraschte der Unfall total. Er wurde vom Sitz katapultiert, überschlug sich in der Luft, und stürzte halsüberkopf auf die Deichsel. Dann erst krachte die Achse einseitig zu Boden und der Wagen kippte, während das Vorderrad in ein Eichgebüsch am Feldweg rollte.
Birte, Geldis und Wibke hatten instinktiv Halt am Leiterrahmen gefunden und Wibke mit der freien Hand nach der kleinen Schwester gefasst, sonst wäre die in hohem Bogen auf die Binsenwiese am Fluss geworfen worden. Soweit kamen die Mädchen mit einem Schreck davon, aber Klaas, nach dem Tod des Knechts der einzige Mann in der Schar, sprang behände vom Sitz, da wurde er den verrenkt von der Deichsel hängenden Knecht gewahr. Die abgestürzte Achse hatte ein Stück weit die Grassoden umgepflügt, und sein langes Haar berührte soeben das Erdreich. Mit einem Schreckenslaut schauderte der Junge vor dem Verunglückten zurück, wurde blass und senkte erschüttert die Stirn. Ulrike vermied es, dem Mann ins Gesicht zu sehen und begutachtete mit Herzklopfen den Schaden.
„Heute wird Wilke Holms auf uns vergeblich warten“, bemerkte sie halbwegs gefasst, als sie die Tragweite des Unfalls überschaute.
Birte, die im ersten Schreck die Hand in den Ausschnitt des Kleides krallte, wirkte wie gelähmt und brachte so schnell kein Wort über die Lippen. Lediglich Ulrike bewahrte einen kühlen Kopf. „Niemand stiehlt eine Kutsche, der das Vorderrad fehlt, und für Schorse kommt eh jede Hilfe zu spät. Wir sollten langsam zu Fuß aufbrechen nach Berne. Irgendwer hilft uns schon weiter“, schlug sie vor.
„Ja“, raunte Birte tonlos. Also schirrten sie die Gäule ab und machten sich mit denen im Geleit zu Fuß auf den Weg zur Kirche, in der Hoffnung, im Ort einen hilfreichen Mann zu treffen.
Gewöhnlich verfügte Birte über ein lebhaftes Wesen, das Ulrike guttat, und es lag eine Leichtigkeit in ihren Schritten, als würde sie auf Wolken wandeln. Nach dem Unfall zog sie eine grantige Miene. „Tut mir leid, das hat Schorse verbockt“, rechtfertigte sie sich kleinlaut und bedachte den kaum noch zurechnungsfähigen kleinen Bruder mit einem stechenden Blick. Ulrike wunderte sich, verzichtete jedoch darauf, ihr auf die Nase zu binden, für wie überflüssig sie Schuldzuweisungen hielt, ist ohnehin nichts mehr zu retten.
Durchhaltevermögen war der Freundin nicht in die Wiege gelegt, und sie ließ sich das ungehemmt anmerken, aber Ulrike sah es ihr nach, wenn sie der Umstand launisch machte. Birte gehörte zu denen, die ihre Gefühle auskosteten bis zur Neige, nicht nur die guten. Ein geringer Rückschlag genügte, sie in ein Stimmungstief zu stürzen, schnell und überraschend wie zuweilen das Wetter umschlägt. Ulrike mochte sie dennoch, ihres flatterhaften, lebensfrohen Gemüts wegen, das dem der blauen Schmetterlinge glich, die in Wolken aufstiegen, sobald man in den reifen Roggen eindrang und in die Hände klatschte, wo rot der Klatschmohn unter den Halmen blühte. An diesem Sonntag zeugte von dem wogenden Kornfeld, das vor einer Woche noch von der Anhöhe am Brookdeicher Holz überschaubar war, bloß noch ein abgeräumtes Stoppelfeld, und die Stämme der Birken schimmerten weiß im grellen Licht der Vormittagssonne. Als sich die fünf jungen Mädchen und ein zehnjähriger Knabe über den zerfurchten Feldweg näherten, marschierte Ulrike mit Birte voran und hielt plötzlich inne wie vom Donner gerührt. „Hört ihr das Getrappel?“ hielt sie die anderen mit erhobener Hand an. „Aus dem Wald kommen Pferde.“
Birte hob das Kinn, die Hand hinter das Ohr gelegt. „Na du hast gute Ohren.“
„So klingt es, nahen Reiter“, bekräftigte Ulrike beunruhigt.
Auch Birte begann heftig das Herz zu klopfen. Der Gedanke an die hohen Herren, die zur Lechterburg gehörten, blitzte in ihr auf und weckte Ängste. Seit langem war davon die Rede, es sei von Seiten der Burgbesatzungen zu Übergriffen auf Frauen gekommen, und sie blickte ratlos in die Runde. Ulrike nickte alarmiert. „Los wir verschwinden ins Gehölz.“
„So weit kommt es noch“, widersprach Birte, weil es dafür eigentlich zu spät war. „Ich bin die Tochter von Sibo Aumund. Das wollen wir mal sehen.“
Ernüchtert fasste sich Ulrike an den Kopf. „Wie alt bist du, Birte?“ Sie erschrak selbst über den ungeduldigen Ton, den sie gegenüber der Freundin anschlug.
Der Wortwechsel dauerte zu lange. Im gleichen Augenblick sprengten acht Reiter aus der Weglaube. Ein Ritter führte sie an, über seinen Knieplatten glänzten goldene Spangen, und sein Ross trug eine scharlachrote Schabracke mit dem rotgelben Burgwappen von Oldenburg. Er riss am Zügel und wäre fast abgeworfen worden, so steil stieg das Tier auf die Hinterbeine. Der gelbrote Helmbusch auf seinem Silberhelm wippte mit, und kaum berührten die Vorderhufe wieder den Feldweg und das Pferd schüttelte wiehernd die Mähne, betrachtete der Ritter des Zuges prüfend die Mädchenschar und den Jungen.
Der neuere Schreck saß tief – auch bei Ulrike. Plötzlich umringten sie acht Gewappnete und zwei Ritter. Konrad von der Lechterburg fasste Birte in die Augen und fragte mit kehliger Stimme: „Na Täubchen, wollt ihr zur Kirche?“
Der andere Ritter hob sich durch einen blau und gelb schimmernden Seidenrock farblich von den übrigen ab, der schwarze Löwe auf gelbem Grund wies ihn als flämischen Edelmann aus, und Häme lachte in seinem Narbengesicht. „Ich hätte einen Gegenvorschlag“, fügte er in einem unheilvollen Unterton hinzu. „Wie wäre es mit einem Abstecher nach Burg Lechtenberg?“
Ulrike merkte, auf was es die Reiter anlegten und stemmte aufbegehrend die Fäuste in die Hüften. Durch das Leinenkleid, das sie Birte verdankte, wirkte sie vornehmer als sie war; das steigerte ihr Selbstbewusstsein vor den Männern, und sie versuchte, sich entsprechend zu verkaufen. „Werte Herren“, drückte sie sich aus. „Könntet ihr uns behilflich sein? Wir erlitten einen Achsenbruch und verloren ein Rad… unweit von hier, nahe der Hunte.“
„Von so etwas verstehe ich nichts“, erwiderte der Ritter mit dem flämischen Löwen auf der Brust und kraulte sich verunsichert den blonden Kinnbart.
„Meinst du, ich?“, erwiderte Konrad lachend, ritt kurzentschlossen zu Ulrike hin und hob sie mit einem Griff unter ihre Achseln zu sich auf das Ross, mochte sie auch quietschen und nach ihm schlagen. Er setzte sie vor sich, langte ihr um den Bauch und wickelte sich geschickt den Lederzügel ums Handgelenk, während die Hand Ulrike eisern festhielt. Der flämische Ritter folgte seinem Beispiel und setzte Birte vor sich auf den Sattel. Zwei der Reisigen übernahmen Wibke und Geldis. An Timke und Klaas zeigten sie so wenig Interesse wie an den Ackergäulen, ließen sie einfach zurück, wo sie die Mädchen aufgegabelt hatten und ritten mit den Jungfrauen zu dem neuen Deich, der an Dreisielen und Bettingbühren vorbeiführte, um über eine Holzbrücke die Olle zu überqueren, die Ulrike noch nie überschritten hatte.
In einer Schleife der Hunte, die nach dem Bau des neuen Deiches eins wurde mit dem Flussbett der Olle, erhob sich die Zwingburg der Lechterseite: Burg Lechtenberg. Ein fünf Schritt breiter Brettersteg umgab kreisrund wie ein Kragen die Fachwerkfestung mit dem eckigen Aussichtsturm in der Mitte, von dem aus sie das Land beherrschte. Eine scharlachrote Flagge mit dem Oldenburger Wappen flatterte über den Zinnen, die den höchsten Punkt des Gebäudekomplexes krönten.
Eine Seite vom geräumigen Innenhof der Festung nahm ein Pferdestall ein, zum gepflasterten Platz hin bis auf vier Stützen offen, der in der Ecke an einen mächtigen Fachwerkbau mit Schieferdach und Regenrinne stieß. Das war der Palas, in dem die Vornehmen wohnten, gegenüber erhob sich der kleinere Bau mit dem Schlafsaal der Reisigen und Knechte. Hier ließ man die verschleppten Mädchen vom Ross gleiten. Ulrike fühlte sich gefangen inmitten der sie umschließenden Mauern und hohen Gebäude und drehte sich beängstigt im Kreis. Bis vor einer Stunde leitete sie der Glaube, ein gerechter Gott sei heimlich mit ihr, aber es sah eher nach einer Prüfung aus, und sie sagte sich, der liebe Gott würde das Ungeheuerliche nicht zulassen, falls sie das ihre tat. Sie fasste unwillkürlich nach der Hand ihrer Schwester. Auch Geldis und Birte versuchten auf die Weise einander Halt zu geben, während Knechte die Pferde zum Stall führten und die Tiere mit Stroh trockenrieben. Die um sie versammelten Männer tuschelten und lachten über ihre unschuldigen Gesichter. Birte glaubte, ihr müsse das Herz zerspringen. Mit vor Angst flatternden Wangen richteten sich die Hoffnungen auf den einzigen Ritter im Burghof. „Was habt ihr mit uns vor?“
„Na, was meinst du?“, antwortete für den einer der Gewappneten. Konrad, der Herr der Burg, griente sie an, ohne einen Versuch zu unternehmen, sie zu beruhigen. Ein Gewappneter zeigte auf die Tür zum Haupthaus, und als Wibke und Geldis nicht reagierten, sondern stattdessen die Arme verschränkten, knuffte und schubste man sie unsanft nach dort. Ulrike als Mutigste hob tapfer ein wenig den Saum ihres Kleides und stieg voran, die Treppe ins Obergeschoss hinauf, in den Rittersaal der Burg, der über einen in die Ecke eingemauerten, schwarzgeräucherten Kamin verfügte. An einem eisernen Dreifuß hingen ein schwarzer Schürhaken, eine Feuerzange und ein Blasebalg, und ein Korb voll mit kleingehacktem Brennholz fehlte auch nicht.
Den oberen Bereich füllte so ziemlich ein langer, eckiger Eichentisch aus, darunter geschoben zwölf Stühle mit gedrechselten Beinen. Ein Gemälde in verlockenden Farben, schmückte die Wand, zum Teil vergoldet: Vor einem Kruzifix kniende Ritter. Unterhalb des Bildes hob sich eine Truhe mit kunstvoll geschnitztem Deckel von der Wand ab, und das breite Bett in der tiefer gelegenen Hälfte des kleinen Saals gab Ulrike Rätsel auf. Es handelte sich um eine Augenweide von Baldachin, mit einem hellblauen Himmel und Kissen in einem tieferen Blau hinter den zarten Schleiern. Punktum stellte diese Räumlichkeit offensichtlich den Rittersaal der Burg dar, und das Himmelbett passte irgendwie nicht hinein.
Sie fand es beunruhigend, und auch Birte und Geldis nestelten sich ahnungsvoll mit den Fingern am Kleid, während sie sich ihre Gedanken machte zu dem herrschaftlichen Tisch mit an sich blanker Eichenplatte, die strotzte von den Spuren auftrumpfender Becher. Eine Zinnkanne und darum gruppierte Zinkpokale zeugten von einem geselligen Umtrunk vor nicht allzu langer Zeit, mit ein paar Tropfen Wein auf dem Grund. Ulrike zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor, um sich zu setzen, da verlangte der blondbärtige Fläme: „Wenn ihr sitzen wollt, setzt euch beim Kamin auf den Teppich. Der Tisch ist nicht für euch da.“
Man schien sie nicht als Gäste zu betrachten. Geldis, Birte und ihre Schwester nahmen gehorsam mit dem Teppich vorlieb, und Ulrike atmete tief durch, bevor sie sich fügte. Schon flog die Tür auf, und Konrad, der Vogt des Grafen erschien, mit ihm die meisten der Burgmannschaft. Diese rekrutierte sich größtenteils aus Habenichtsen, zu faul, auf dem Gehöft des ältesten Bruders als Knechte ihr Leben zu fristen. Andere, wie der beleibte Bruno, hatten sich in der Gemeinde als Schlitzohren entpuppt. Zu den Schlimmsten dieser Sorte zählte Knut, den sie Knolle nannten, und das aus gutem Grund: Eine Faust hinterließ ein zertrümmertes Nasenbein, und das sah scheußlich aus. Windige Charaktere waren sie einer wie der andere, aber unter den kalten Augen des Flämen überkam sie ein inneres Frieren, denn eine wulstige Narbe verunstaltete seine Züge, und seine harsche Stimme jagte Ulrike jedesmal Angst ein.
Konrad warf gleich ein Auge auf Birte, nebenbei ließ er klackernd zwei Würfel über die Eichenplatte kullern. Mit einem Zwinkern auf seine Männer kündete er vollmundig an: „Erstmal um die Blonde, die ist heute die Sahne.“
Alle außer den Mädchen mussten wohl eingeweiht sein, in das Spiel, das damit begann. Der Vogt setzte sich an den Kopf der Tafel, die Waffenbrüder folgten seinem Beispiel und nahmen ihre Plätze ein. Einer nach dem anderen machte hohle Hände und warf, die zwei Würfel wanderten durch die Tafelrunde. „Sie gehört dir, Wendel“, entschied der Burgherr.
Ein pickeliger Bursche im Oldenburger Rock zog mit einem unverschämten Lächeln durch die Nase hoch und reichte Birte die Hand. „Kommst du?“
Birte hob kess das Kinn und schüttelte störrisch den Kopf, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Und er packte sie grob am Handgelenk, riss sie hoch und zerrte sie zum Himmelbett. „So. Nun heb‘ mal das Kleid“, befahl Wendel. „Aber schön hoch.“
Natürlich dachte Birte nicht daran. „Oh nein“, erwiderte sie, in einem Ton, als würde sie bei der ersten Annäherung beißen und kratzen. Ein Blick an die an der Tafel sitzenden Gefährten genügte, der dicke Bruno rückte wie gerufen mit dem Stuhl vom Tisch ab, um ihm zu helfen. Birte ahnte nicht, wie abgebrüht solche Kerle mit Frauen umsprangen. Bruno bückte sich zuvorkommend nach ihrem eben die Knöchel streifenden Kleid und riss es hoch über ihre Brust und höher. Es schien, er wollte sie an die Decke hängen, und die Zuschauer am langen Eichentisch johlten bei diesem Anblick. Wendel hatte einen Strick zur Hand und band Birte das Kleid mitsamt ihrer hochgefegten Arme über dem Kopf zusammen. Ihre schon reifen Brüste kamen zum Vorschein, darunter das enge Mieder aus Ziegenleder. Es wirkte routiniert, wie der Mann einen zierlichen Dolch zückte und die kalte Klinge flach zwischen Rücken und Schnürung schob. Sie schrie spitz auf, ein Ruck, und das Mieder fiel Birte vor die Füße. Womit sie bis an die Brüste splitternackt war und gefangen im eigenen Kleid, als hätte man ihr einen Leinenbeutel übergestülpt.
Eine quakende Stimme, die nicht zu einem der jüngeren Knechte gehörte, bemerkte kaltschnäuzig, „bleich wie ein Mondkalb. Entblättert sehen die sich ähnlich wie ein Ei dem anderen. Aber sie hat schöne gerade Schultern für eine Eva aus Berne, die ist gut gewachsen.“
Der, den sie Knolle neckten, raunte: „Jo. Reizende Hüften und pralles Sitzfleisch, keine von den mageren Dorfkühen.“