Kitabı oku: «Kullmann auf der Jagd», sayfa 3
Kapitel 4
Die Temperaturen stiegen an, der Nebel lichtete sich, wich der Novembersonne, die sich in diesem Herbst von ihrer schönsten Seite zeigte. Beste Arbeitsbedingungen – wäre da nicht der beunruhigende Gedanke an den zweiten Schuss. Bevor Steiner zu seiner Routine überging, musste er sich an der Kapelle umsehen.
Er schulterte sein Gewehr und trat hinaus. Die Haustür fiel hinter ihm leise ins Schloss. Ganz tief atmete er die kühle Luft ein, sortierte in Gedanken die Gerüche der Bäume, des nassen Laubs und der Herbstblumen, die immer noch den Brunnen zierten und etwas, das den Gesamteindruck von Harmonie jäh unterbrach. Von einer Vorahnung geplagt richtete er seinen Blick auf den Boden direkt neben der Haustür.
Dort lag ein angefahrener Fuchs.
Sein Deckhaar schimmerte unter dem dunklen, verkrusteten Blut rötlichbraun. Weit aufgerissene Augen starrten ihn an, seine Flanken zitterten, seine Nasenflügel bebten. Mit letzter Kraft fletschte er seine Zähne.
Wieder ein Opfer der rachsüchtigen Wildvernichter?
Er nahm seine Repetierbüchse von der Schulter. Auch wenn die Waffe dafür ungeeignet war, so wollte er doch keine Zeit vergeuden, sondern das Tier so schnell wie möglich erlösen.
Wo war Micky?
Vermutlich hatte ihm sein Vater nach der verhängnisvollen Begegnung am Morgen untersagt, das Haus zu verlassen. Jetzt erst erkannte er, welche Dienste ihm der Junge bot. Steiners schlechtes Gewissen meldete sich sofort, denn was jetzt kam war eine unangenehme Schinderei.
Nachdem der Kadaver vergraben war, trat die Haushälterin vor die Tür, stemmte beide Hände in die Hüften und sprach mit Steiner wie mit einem ungehorsamen Kind: »Das wurde auch Zeit. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann. Meine Vorräte liegen im Keller, in den ich nur gelange, indem ich durch den Hof gehe. Wenn dort ein halbtotes Tier liegt, kann ich das nicht. Ich ekle mich davor.«
»Das tut mir wirklich leid«, mehr konnte Steiner nicht dazu sagen. Er ahnte, dass die Attacken so schnell nicht aufhörten – im Gegenteil: Der Leichenfund am Morgen würde die Leute im Dorf noch mehr gegen ihn aufbringen.
Er nahm seinen Feldstecher, pfiff nach Moritz und marschierte den Berg hinauf.
An der Kapelle war alles still, kein Spaziergänger, keine Fahrradfahrer, nichts. Er gab Moritz die lange Leine, damit der Hund den Boden absuchen konnte. An einigen Stellen zeigte der Hund große Aufregung, aber eine Spur fand er nicht. Mehrere Male suchte er den Platz ab, wobei er seinen Radius vergrößerte, nichts. Er umrundete das ehemalige Kloster, das für die Treibjagd im Dezember hergerichtet werden musste. Die Bauarbeiter waren bestellt, aber bisher war noch niemand eingetroffen. Verlassen lag die Ruine da.
An der Seite klaffte ein Mauerdurchbruch. Steine waren aus dem alten Gemäuer herausgeschlagen worden. Verstreut lagen sie im Gestrüpp. Verärgert sammelte er sie auf und verbarrikadierte damit notdürftig den Durchgang.
Sein Hund verhielt sich weiterhin ruhig. Also konnte er seine Suche nach einem angeschossenen Tier einstellen.
Für Steiner galt, sich um den Kirrplatz für das Schwarzwild zu kümmern, den er rechtzeitig herrichten musste. Auf dem Limberg konnte der Winter hartnäckig werden, weil die Höhenlage und der dichte Baumbestand dafür sorgten, dass der Schnee nicht so schnell schmolz. Diese Bedingungen machten die Versorgung des Wildes unumgänglich.
Er gelangte auf die Lichtung Sonnenkupp. Dort stand sein Hochsitz. Er hatte ihn selbst aufgestellt, direkt neben dem Gedenkstein, der für den Revierförster Eduard Zimmer errichtet worden war. Genau an dieser Stelle hatte sich sein Vorgänger erschossen. Durch das ungewöhnliche Monument geriet er niemals in Vergessenheit.
Moritz bellte und wedelte voller Vorfreude mit dem Schwanz, weil er auf den Hochsitz wollte. Mit einem Ruck nahm Steiner den Hund Huckepack und kletterte mit seiner Last die Leiter hinauf. Der Anblick, der sich von oben bot, war sogar für einen Jäger wie Steiner, der schon seit fünfzehn Jahren in diesem Revier arbeitete, eine Augenweide. Rechts von ihm gähnte eine Schlucht fast zweihundert Meter tief. Der Grund war nicht zu erkennen, der Nebel versperrte die Sicht. Auf der anderen Seite des Abgrunds lag Laubwald, dessen Blätter wie Farbtupfer zwischen den immergrünen Nadelbäumen abstachen. Kiefern ragten majestätisch in die Höhe, Bäume im Alter von über dreihundert Jahren. Stufenweise abgesetzte Berghänge auf der Südseite erinnerten an den Weinanbau aus vergangenen Zeiten. Beschädigte Steinkreuze und Heiligenfiguren des alten Kreuzwegs des Bildhauers Corail aus dem siebzehnten Jahrhundert, bildeten die kläglichen Überreste einer Ölbergszene. Von den acht Skulpturen konnten lediglich die Fußsockel und wenige Figuren ohne Köpfe den französischen Revolutionsstürmen trotzen.
Links von ihm lag eine Wiese zwischen vereinzelten Kiefern, auf die sich die Sonnenstrahlen hin verirrten. Durch den plötzlichen Wärmeeinfall stiegen weiße Nebelschwaden wie Dampf auf. Besser konnte der Zeitpunkt nicht gewählt sein, um den Wildbestand zu beobachten. Schon nach kurzer Zeit kamen die ersten Schmalrehe, dann die Ricken und zum Schluss ein Bock aus ihrem sicheren Schutz, um zu äsen. Ein Anblick, der Steiner in innere Ruhe versetzte.
Die Stille wurde durch Schritte unterbrochen.
Vorbei war der Augenblick der Muße.
Moritz horchte auf, zog seine Zunge ein und richtete seine langen Schlappohren auf. Steiner schaute in dieselbe Richtung wie sein Hund. Da sah er ihn auch schon. Der Störenfried war ein Jogger. Der kleine Sprung von Ricken und Schmalrehen mit Bock war blitzschnell im Dickicht verschwunden. Vorbei das trügerische Bild von Vollkommenheit.
Der Jogger kam näher, bis Steiner ihn erkennen konnte. Es war Helmut Brack, der Dorfpolizist. Er war der einzige der Trinkbrüder im Gasthof Donze, der stets gepflegt und sportlich wirkte. Hier sah Steiner, dass er mehr für seine Gesundheit tat, als er dem trinkfreudigen Gesellen zugetraut hätte.
Ohne seinen Rhythmus zu unterbrechen, trabte Helmut Brack an der Kanzel vorbei. Steiner und Moritz verhielten sich still; er bemerkte sie nicht. In der nächsten Kurve verschwand er aus ihrem Sichtfeld, die Ruhe kehrte zurück. Aber das Rehwild blieb im sicheren Versteck.
Es war schon später Nachmittag, als Steiner aufbrach und den Heimweg antrat. Die Temperaturen sanken, der Nebel stieg an. Der plötzliche Kälteeinbruch nötigte ihn zum Aufbruch. Wie schnell die Zeit vergangen war; er hatte es nicht bemerkt.
Das Geräusch seiner gleichmäßigen Schritte, das vertraute Hecheln seines Hundes neben ihm, gaben ihm das gute Gefühl von Beständigkeit und Ruhe. Doch diese Ausgeglichenheit sollte nicht von langer Dauer sein. Kaum trat er auf Hoflimberg zu, sah er im Nebel eine Gestalt verschwinden.
»Halt! Bleiben Sie stehen!«, rief er.
Moritz bellte ganz aufgeregt und zog ruckartig an der Leine. Steiner ließ den Hund laufen, in der Hoffnung, dass er den Unbekannten stellte. Es konnte nur einer seiner üblichen Feinde aus dem Dorf sein. Und die waren alle nicht gut zu Fuß. Also wäre es für Moritz keine große Herausforderung.
Plötzlich hörte er seinen Hund jaulen.
Er hatte Helmut Brack vergessen. Der war gut zu Fuß. Alarmiert rannte er auf die Stelle zu, wo er das Geräusch gehört hatte.
Nichts!
Er rief den Namen seines Hundes. Nichts!
Nervös durchkämmte er das umliegende Waldstück, marschierte alle Wege ab, kraxelte über die steilen Hänge durch das Dickicht, für den Fall, dass Moritz von einem Keiler verletzt worden war und irgendwo im Wundbett lag. Aber von seinem Hund keine Spur. Auf sein ständiges Rufen kam keine Antwort. Die Dunkelheit brach so schnell herein, dass er bald von undurchdringlicher Schwärze umgeben war. Seine Taschenlampe spendete nur einen begrenzten Lichtkegel. Damit gelang es ihm gerade mal, auf den Hauptweg zurückzuleuchten. Aber den Hund würde er so niemals finden.
Enttäuscht kehrte er um.
Allein betrat er das große Haus.
Die Angst trieb ihn um. Was war passiert? Freiwillig blieb sein Hund niemals fern. Wer war so sadistisch, dass er Steiners Hund dafür benutzte, Steiner zu quälen? Der Gedanke peitschte ihn auf. Erst nach Stunden gelang es ihm, sich im Sessel vor dem Kamin niederzulassen – bei weit geöffnetem Fenster. Für ihn galt jedes Geräusch wahrzunehmen, falls Moritz sich meldete.
Aber nichts dergleichen geschah.
Am frühen Morgen wurde er durch das Eintreten der Haushälterin geweckt. Erschrocken fuhr Steiner hoch. Es war schon sieben Uhr. Er lag immer noch im Wohnzimmer. Der Schlaf hatte ihn wohl doch noch übermannt.
Verärgert über sich selbst eilte er in die Jägerstube, nahm seine Repetierbüchse, prüfte, ob im Lauf eine Patrone steckte, packte zusätzlich Munition ein und machte sich wortlos auf den Weg. Das Einzige, was ihn an diesem Morgen begleitete, war das Schimpfen der Haushälterin über sein unhöfliches Benehmen.
Er schlug den Weg in Richtung Sonnenkupp ein, wo sein Hochsitz stand. Der Nebel begann sich zu lichten, das Tageslicht drang langsam durch. Aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er fühlte sich erschöpft, übernächtigt, kraftlos und gleichzeitig nervös und überreizt. Seine Augenlider fühlten sich schwer an; er musste sich zusammenreißen, um alles wahrzunehmen. Angst kroch in ihm hoch, er könnte übersehen, wie sein Hund verletzt im Graben lag. Mit dieser inneren Zerrissenheit eilte er über die Waldwege.
Keine Spur von Moritz.
Er erreichte die Lichtung. Der Nebel lichtete sich. Ein grauer, trister Morgen brach herein. Die kahlen Äste der Bäume beugten sich hinab. Kalter Wind pfiff. Der Hochsitz ragte in die finsteren Wolken. Daneben lag die kleine Wiese – bedrohlich schwarz glänzend.
Spielten seine Sinne verrückt? Seit wann glänzten Wiesen schwarz? Mit Beklemmung näherte er sich.
Plötzlich erhob sich die schwarze Decke wie von Geisterhand. Vor Schreck zuckte er zusammen, wich zurück, entsicherte seine Waffe, bevor er erkannte, dass es eine ganze Schar von Raben war, die in die Luft stoben – begleitet von ihrem beunruhigenden Krähen. Dieser Schreck hatte den letzten Funken Müdigkeit aus seinem Körper vertrieben. Er schaute den schwarzen Vögeln nach, wie sie sich in der Luft in alle Richtungen verteilten.
Zurück blieben Stille, Kälte und die Sorge um seinen Hund.
Kapitel 5
Micky war traurig. Warum schimpfte Papa ihn immer aus? Er wollte den Kopf auf den Friedhof tragen, um ihn zu begraben. Das war doch richtig. Steiner sagte ihm immer, dass er etwas Gutes tat, wenn er die Toten zur letzten Ruhe bettete. Ob das nun Tiere waren oder Menschen. Was machte das für einen Unterschied? Aber Papa war jetzt böse auf ihn. Er verbot ihm sogar, zu Steiner zu gehen. Mit Tränen in den Augen stellte er sich an das kleine Fenster und schaute auf den Hinterhof. Dort stand alles voll mit alten und kaputten Sachen. Das sah hässlich aus. Im Wald war es viel schöner. Er überlegte, einfach aus dem Fenster zu klettern und wegzulaufen. Bei Steiner wollte er bleiben, weil er dort alles machen durfte, was ihm Spaß machte. Steiner war sein Freund, er war gut zu ihm. Papa war immer so streng.
Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, öffnete das Fenster und schaute zum Boden hinunter. Er konnte gut klettern. Aber der Boden war aus Beton. Er könnte sich wehtun.
Wieder hörte er die Stimme von Papa. Hastig verschloss er das Fenster, weil Papa nicht sehen durfte, dass er weglaufen wollte. Dann würde er noch lauter schimpfen.
Papas Stimme klang gar nicht böse. Er lachte sogar.
Da waren noch mehr Stimmen zu hören.
Neugierig presste Micky sein Ohr an die Tür. Sie war leider verschlossen. Aber unten redeten alle so laut, dass er jedes Wort auch so verstand. Sein Bruder Olli war dabei und eine helle Stimme, die nicht von seiner Mutter kam. Die musste arbeiten – wie immer – weil Papa zuhause war.
Da hörte er den Namen Moritz fallen. Alle lachten und sprachen davon, dass Steiner selbst zusehen müsste, wie er seinen Hund fände.
Mickys Herz begann wild zu schlagen. Was war mit Moritz passiert?
»Wir haben den Hund an einem Baum festgebunden. Dort findet Steiner den so schnell nicht«, hörte er Olivers Stimme. Er klang so fremdartig. Zu Micky war er immer nett. Aber jetzt hörte er sich richtig gemein an.
»Gell, mein Schatz! Steiner wird die Anspielung verstehen.«
»Ich will nicht, dass du mich Schatz nennst«, nörgelte die Frauenstimme. »Ich heiße Anne.«
Darauf folgte ein undeutliches Brummen von Oliver, das Micky nicht verstand.
»Von welcher Anspielung redest du?« Micky erkannte an der Stimme seines Papas, dass er ungeduldig wurde.
»Dass er verschwinden soll.«
Oliver lachte siegessicher.
»Wo ist der Hund?«
»An einem Baum, wo ihm nichts passiert.«
»Die ganze Nacht?« Nun schrie Papa richtig. »Wie kannst du behaupten, es passiert ihm nichts?«
Mickys Herz überschlug sich vor Schreck. Warum tat Oliver so etwas Niederträchtiges?
»Du bist so dämlich, wie du aussiehst«, brummte Papa böse. »Wo ist der Baum?«
Schweigen.
»Ich rede mit dir, du Holzkopf!«
»Es ist die alte Eiche an den Schwedenschanzen am Kreuzweg. «
Dieser Satz genügte Micky, um zu wissen, wo Moritz steckte. Schon hing er an der Regenrinne, ließ sich hinabgleiten und lief so schnell er konnte zum Wald.
Steiner überlegte gerade, den Rückweg einzuschlagen, als er etwas auf der Wiese wahrnahm, was sich auf ihn zu bewegte.
Von Neugier getrieben beschleunigte er seine Schritte, bis er erkannte, dass Micky seinen Hund Moritz an einem Seil führte. Als Steiner den Namen seines Hundes rief, ließ Micky ihn los. Mit fliegenden Ohren und großen Sprüngen kam der Hund auf Steiner zugelaufen, sprang an ihm hoch und schleckte sein Herrchen vor Freude im ganzen Gesicht ab. Steiner war so euphorisch, seinen Hund lebendig und gesund wiederzuhaben, dass er ihn gewähren ließ.
Micky eilte außer Atem hinterher. Als sich ihre Blicke trafen, lachte Micky ihn mit einer Herzlichkeit an, die Steiner unverhofft dazu verleitete, den Jungen einfach in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken. Er war so glücklich, dass er sich zu einer Handlung hinreißen ließ, die er sonst niemals getan hätte. Micky stellte die Reaktion nicht in Frage – im Gegenteil, er freute sich und zeigte es auch ungeniert, indem er die Umarmung erwiderte.
Als Steiner von ihm ließ, staunte er über sich selbst. Er beneidete den Jungen für seine Gabe, alles so zu akzeptieren, wie es war. Er selbst grübelte ständig – eine Eigenschaft, die ihm nichts nützte, dafür das Leben komplizierter machte.
Erst jetzt bemerkte er Mickys zerrissene Hose. Die Haut an seinen Schienbeinen zeigte Schürfwunden. Auch die Hände waren blutverschmiert.
»Meine Güte! Was ist passiert?«
»Ich bin aus dem Fenster geklettert, weil Papa mich eingesperrt hat.«
»Warum machst du so gefährliche Sachen?«
»Ich habe gehört, dass sie Moritz an einen Baum angebunden haben. Da musste ich doch helfen.«
»Micky, wie kann ich das jemals wieder gutmachen?«
Micky lachte ihn einfach nur glücklich an, was Steiners Herz schwer werden ließ. Diese Gutmütigkeit brachte ihn aus dem Konzept.
»Danke, Micky! Ohne dich hätte ich meinen Hund niemals gefunden«, sprach er salbungsvoll. »Ab sofort befördere ich dich zu meinem Adjutanten!«
Verständnislos schaute Micky seinen großen Freund an. Steiner erklärte ihm: »Das ist eine Auszeichnung. Du bist jetzt meine rechte Hand. Das heißt, wir arbeiten zusammen.«
Damit gelang es ihm, Micky von der Wichtigkeit seiner neuen Funktion zu überzeugen. Mit einer stürmischen Umarmung reagierte der Junge darauf.
Wie eine kleine Familie marschierten sie den Berg hinunter zum Hoflimberg. Nach der gewissenhaften Versorgung von Mickys Wunden, deckten sie gemeinsam den Tisch für das Frühstück. Dabei arbeiteten sie ohne Worte in einer Harmonie, die in Steiner längst vergessene Vatergefühle hervorrief.
Wie lange war es her, dass er sich als glücklicher Vater einer Tochter fühlte? Oft fragte er sich, wie sie heute wohl aussah, was aus ihr geworden war, was für ein Leben sie führte. Seine Frau hatte ihm nach dem gescheiterten Einsatz vor fünfzehn Jahren das gemeinsame Kind weggenommen. Er hatte kein Besuchsrecht bekommen und die Entscheidung einfach akzeptiert. Er hatte geglaubt, kein guter Vater sein zu können.
Heute sah er die Dinge anders.
Da saß er Micky gegenüber, einem zwanzigjährigen Jungen mit Down-Syndrom und spürte Stolz, weil sich Micky ausgerechnet ihn zum Freund gewählt hatte. Für Steiner war das nicht nur Freundschaft, sondern auch eine Verantwortung. Micky war nicht seine erste Erfahrung dieser Art. Steiner wusste genau, dass Menschen mit Down-Syndrom durch ihre Arglosigkeit schutzbedürftig waren.
Steiner wollte Micky Schutz bieten.
Nach dem Frühstück bestand Micky darauf, zu Fuß nach Hause zu gehen. Steiner stellte sich ans Fenster und schaute ihm nach, wie er mit schaukelnden Armen, schwingendem Gang und wippendem Kopf das Grundstück verließ und den Weg einschlug, der hinab in das Dorf Wallerfangen führte. Hinter dem gusseisernen Tor verschwand er aus Steiners Blickfeld.
Er hörte die vertrauten Geräusche der Haushälterin, die das Mittagessen zubereitete, spürte den vertrauten Körper seines Hundes an seinem Bein und die Zunge, die seine Hand ableckte. Ein Blick in die großen, braunen Augen dieses schönen Tieres veranlasste Steiner dazu, Moritz nach Verletzungen abzusuchen. Vermutlich war der Hund nicht freiwillig mitgegangen.
Aber er fand nichts. Sein Fell war makellos. Wie war das möglich?
Kopfschüttelnd schnallte er die Leine an und brach auf. Es wurde Zeit, wieder in den gewohnten Rhythmus zurückzufinden.
Arbeit gab es genug.
Jürgen Schnurs Bemerkung »Du lebst und arbeitest in diesem Dorf, ohne auch nur das Geringste mitzubekommen« veranlasste Steiner dazu, an diesem Abend Hoflimberg zu verlassen. Die Neugier trieb ihn nach Wallerfangen, zumal der Mordfall Zündstoff für die geschwätzigen Dorfbewohner sein musste.
Bedächtig steuerte er seinen Wagen über den unbefestigten Weg. Plötzlich fand er sich im Scheinwerferlicht eines anderen Autos. Er verlangsamte sein Tempo, rollte auf den Wagen zu. Die Beifahrertür stand offen. Steiner parkte vor dem verbeulten Opel Astra, stieg aus und ging zur Fahrerseite. Dort saß Siegmund Gerstner, der Oberlehrer, wie sie ihn im Dorf nannten. Er war besoffen, hatte eine Blessur am rechten Auge und grinste dämlich.
»Was ist hier los?«
Ohne mit dem Grinsen aufzuhören antwortete Siegmund Gerstner: »Nichts!«
»Warum steht die Beifahrertür offen?«
»Ich wollte frische Luft schnappen.«
Steiner hörte Schritte, die sich entfernten. Sie kamen aus einer Richtung, die außerhalb des Lichtkegels seiner Scheinwerfer lag.
»Wer ist hier ausgestiegen?«
»Niemand!«
»Du stellst jetzt dein Auto auf die Seite und kommst mit mir zur Polizei. Das kostet dich den Führerschein. So wie du stinkst, hast du die ganze Kneipe leer gesoffen.«
Zu Steiners Überraschung fuhr Siegmund Gerstner gehorsam das Auto zur Seite und stieg ohne Protest bei Steiner ein.
Der Polizeiposten von Wallerfangen befand sich im Rathaus direkt am zentralen Fabrikplatz, der seinen Namen der ehemaligen Steingutfabrik verdankte, die später nach Mettlach umgesiedelt war. Im Büro traf Steiner auf den nächsten Bekannten, den Dorfpolizisten Helmut Brack. Im Dorf nannten sie ihn auch den gefallenen Helmut. Vor vielen Jahren hatte er zusammen mit Steiner die Polizeischule besucht.
»Immer noch Wachtmeister?«, lautete seine Begrüßung.
»Inzwischen bin ich Kommissar«, kam es unfreundlich zurück.
»Du willst mir nicht sagen, dass du es mit deinen glanzvollen Leistungen bis zum gehobenen Dienst geschafft hast?«
»Lass mich in Ruhe! Ich kritisiere auch nicht deine Degradierung vom Polizeibeamten zum Förster.«
»Das war freiwillig. Du hast dir dein berufliches Versagen dagegen verdient.«
»Was willst du hier?«
»Ich will dich an deine Pflichten als Kommissar erinnern!«
»Seit der neuen Regelung der zweigeteilten Laufbahn im Polizeidienst bin ich unweigerlich vom Polizeihauptmeister zum Kommissar ernannt worden. Das ändert weder etwas am Gehalt noch an meinen Aufgaben.«
»Stimmt! Bisher hast du es vermieden, deinen Aufgaben gerecht zu werden. Jetzt gebe ich dir Gelegenheit, das zu ändern.«
Helmut Brack wirkte trotz seiner grauen Haare jugendlich und athletisch. Steiner wusste, dass er sein Aussehen nicht dem Zufall überließ. Was hielt einen Mann wie Helmut Brack in einem Dorf fest, wo seine Arbeit aus dem Ausfüllen von Formularen bestand?
»Du wirst diesen Trunkenbold jetzt einem Alkoholtest unterziehen, in die Ausnüchterungszelle stecken und dafür sorgen, dass sein Führerschein eingezogen wird.«
»Was soll das?«, wollte Helmut Brack aufbegehren, doch Steiner ließ ihn nicht zu Wort kommen: »Siegmund Gerstner ist eine Gefahr für sich und andere. Ich hoffe, wir verstehen uns!«
»Seit wann hat mir ein Jäger zu sagen, was ich tun soll?«
»Weil der Jäger sonst eine Dienstaufsichtsbeschwerde in Saarbrücken einreicht. Das könnte endlich deinen bequemen Stuhl zum Wackeln bringen.«
Helmut Brack schaute Harald Steiner mit funkelnden Augen an. Aber es kam kein Protest, sondern ein Grummeln: »Kein Wunder, dass dich hier keiner haben will. Du bist der Meister im Diskreditieren. Hast das als Bulle wohl schon genauso gemacht.«
»Das kann dir egal sein.«
»Ist es auch. Aber wundere dich nicht, wenn deine Beliebtheit mit ungestümen Gefühlsentladungen honoriert wird.«
»Der Trunkenbold wird jetzt einer Alkoholkontrolle unterzogen!« Steiner blieb beharrlich.
Helmut Brack deute ein Nicken nur an.
»Das kannst du mit mir nicht machen«, hörte Steiner den Protest von Siegmund Gerstner, bevor die Tür hinter Steiner zufiel.