Kitabı oku: «Kullmann auf der Jagd», sayfa 5
Kapitel 8
Sie fuhren im Schritttempo durch die schmale Kirchhofstraße, wo die Häuser dicht an den Bürgersteig angrenzten. Jürgen Schnur saß am Steuer, Esther auf dem Beifahrersitz. Seit sie in Saarbrücken losgefahren waren, hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Sie war in den Bericht über das Projektil vertieft, das sie auf dem Limberg gefunden hatten. Schnurs Aufmerksamkeit galt der Suche nach seinem Elternhaus. Es war Schnurs Entscheidung, ein provisorisches Büro in Wallerfangen einzurichten, um vor Ort ermitteln zu können. Einen Computer hatte ihm die Verwaltung der Landespolizeidirektion zur Verfügung gestellt, damit er mit der Dienststelle vernetzt werden konnte, um alle Informationen sofort weiterzuleiten. Dafür wollte er Esther dabei haben, weil seine eigenen Computerkenntnisse über das Bedienen des Textverarbeitungsprogramms nicht hinausgingen.
»Hier ist es«, sprach er mit Erleichterung in seiner Stimme.
»Hast du schon befürchtet, dein Elternhaus nicht mehr zu finden?«
»Ehrlich gesagt, ja! Ich bin schon mal daran vorbeigefahren.«
Kaum hatte er den Wagen abgestellt, trat eine ältere Dame vor die Haustür und schaute den beiden entgegen. Schnur ließ sich von ihr umarmen. Die Frau schwärmte: »Schön, dass du wieder heimkommst, mein Junge.«
»Es ist nur für die Ermittlungen«, wollte Schnur seine Mutter aufklären, aber die Alte war so glückselig, dass sie seine Worte gar nicht hörte.
Ein alter, hagerer Mann trat hinter die beiden. Sein Gesicht wirkte grimmig, seine Bewegungen hölzern. Als er sprach, klang seine Stimme gebieterisch: »Henriette, hörst du nicht, was der Junge sagt?«
Er gab seinem Sohn die Hand zum Gruß.
Endlich fiel die Aufmerksamkeit auf die junge Frau. Der Blick der Mutter wurde schlagartig unfreundlich.
»Wo ist deine Frau?« Mit dieser Frage machte sie ihren Standpunkt klar.
Schnur lachte und antwortete: »Sie ist in Völklingen und geht ihrer Arbeit nach. Das ist Esther Weis, meine Mitarbeiterin. Sie wird hier bei uns bleiben, bis der Fall aufgeklärt ist.«
»Ich beherberge doch keine fremden Frauen!«
»Mutter! Das ist meine Arbeitskollegin. Sie bearbeitet mit mir zusammen den Fall.«
Schnurs Vater gelang es, die Mutter zu überzeugen: »Stell dich nicht so an! Die Frau ist nur zum Arbeiten hier.«
Mürrisch lenkte die alte Dame ein. Wie eine verstockte Prozession traten sie hintereinander in das enge Haus.
Esther fühlte sich nicht willkommen. Die Begrüßung hatte ihr gereicht. Es war ihr ohnehin unangenehm, zusammen mit ihrem Chef in dessen Privatbereich abkommandiert zu werden.
Das Haus war alt, die Einrichtung ebenso. Eine Couchgarnitur stopfte das Wohnzimmer voll, wirkte abgenutzt, wenn auch sehr gepflegt. Die Schränke waren viel zu groß und zu hoch, die Fenster zu klein. Die Sicht fiel direkt auf einen bewaldeten Berg; kein Licht drang von draußen herein. Zum Glück hielten sie sich nicht lange dort auf, sondern stiegen unverzüglich eine schmale, steile Holztreppe nach oben.
Schnur ging voran, öffnete eine Tür auf der rechten Seite und betrat ein Zimmer, das nur mit einem alten, kleinen Schreibtisch und zwei Stühlen bestückt war.
»Das war früher mein Kinderzimmer«, erklärte er seiner Kollegin. »Hier werden wir unser Büro einrichten.«
Die Sicht aus dem Fenster war die gleiche wie im Wohnzimmer – nur Berg und Wald.
Esther bemühte sich, gleichmütig zu wirken, aber Schnur hatte ihre Verfassung schon erkannt.
»Du sollst dich hier nicht heimisch fühlen, sondern die Arbeit am Computer übernehmen und mir bei den Befragungen vor Ort helfen.«
»Ich sage ja gar nichts.«
Schnurs Eltern verzogen sich, als die beiden begannen, den Computer und das Arbeitsmaterial einzurichten. Esther übernahm die Aufgabe, alle Geräte anzuschließen, was ihr problemlos gelang. Schnur sortierte die Akten und Papiere, die er inzwischen über den Fall hatte zusammentragen lassen. Dabei stellte er fest, dass das Material sehr dürftig war.
»Seit unsere Akten in das Informationssystem übertragen werden, kommen wir nur noch mit Mühe und Not an sie heran«, murrte er.
»Du kennst dich mit der modernen Technologie einfach nicht aus. Das ist alles.« Mit dieser Bemerkung hielt sie Schnur den Bericht über das Projektil entgegen und fügte an: »Hier ist der ballistische Bericht. Darin steht, dass das Projektil, das Erik auf dem Limberg gefunden hat, vom Kaliber 6,5 x 57 stammt.«
»Das ist aber nicht alles, was das steht?«
»Nein. Unter Steiners Waffen ist eine Repetierbüchse Sauer 90 Stutzen mit Kaliber 6,5 x 57.«
»Und weiter?«
»Entgegen Steiners Aussage wurde genau mit dieser Sauer 90 erst vor kurzem geschossen.«
»Also kommt Steiner für den Schuss auf dem Berg in Frage.«
»Wir müssen noch den Abgleich abwarten. Den Bericht will uns Theo Barthels per E-Mail zuschicken. Am besten ist es, ich schließe erst einmal den Computer an und fahre ihn hoch.«
Es dauerte nicht lange, da hatte sie den Kabelsalat entwirrt, jeden Stecker an seinen Platz und den Computer zum Laufen gebracht. Sie aktivierte die Netzverbindung mit der Dienststelle in Saarbrücken und schaute sich alle neuen Informationen an.
»Hier ist der noch ausstehende Bericht der Ballistik.«
»Druck ihn mir bitte aus«, rief Schnur aus dem Nebenzimmer, wo er gerade damit beschäftigt war, sein Schlaflager einzurichten.
Sein Blick fiel auf den Spiegel.
Den hätte er sich besser erspart, dachte er, als er seine hohe, breite Stirn sah. Sein krauses Haar wurde an den Schläfen grau. Schon in jungen Jahren waren seine Haare licht geworden. Inzwischen waren seine Geheimratsecken so groß, dass er befürchtete, seine Stirn würde bis zum Hinterkopf freigelegt. Die Glatze kam unweigerlich auf ihn zu. Nur warum quälte er sich damit? Steiner hatte schon seit Jahren eine Vollglatze und strotzte vor Selbstsicherheit. Dafür wurde Schnurs Bartwuchs stärker. Umso ärgerlicher, weil dadurch das Rot deutlicher leuchtete. Er rieb sich über das stoppelige Kinn, ließ sich auf dem Stuhl vor der Kommode nieder, ohne sein Spiegelbild aus den Augen zu lassen.
»Der alte Barbarossa, der Kaiser Friederich.
Im unterirdischen Schlosse hält er verzaubert sich.
Sein Bart ist nicht von Flachse, er ist von Feuersglut.
Ist durch den Tisch gewachsen, worauf sein Kinn ausruht.«, hörte er plötzlich Esthers Stimme hinter sich.
Er drehte sich um und reagierte gereizt: »Spionierst du mir nach?«
»Nein! Ich sollte dir den Bericht der Ballistik bringen. Hier ist er.«
Nach kurzem Zögern fragte Esther endlich, was sie schon länger beschäftigte. »Was ist mit dir los? Seit du zum Chef befördert worden bist, benimmst du dich wie ein unnahbarer Klotz.«
Sofort legte Schnur seine Feindseligkeit ab.
»Entschuldige. Ich bin einfach nur mit dem falschen Fuß aufgestanden.«
»Hat das vielleicht mit deiner Begegnung mit Steiner zu tun? Du lässt kein gutes Haar an ihm.«
»Er hat überhaupt kein Haar«, konterte Schnur.
Aber Esther Weis zerschmetterte diesen Triumph sofort, indem sie antwortete: »Das steht ihm aber verdammt gut. Es gibt Männer, die sehen mit Glatze besser aus als Männer mit Haaren. Kojak, zum Beispiel.«
»Kojak ist seit 1994 tot. Wie kommst du gerade auf ihn?«
»Du kennst dich ja gut mit Kojak aus.« Esther staunte.
»Meine Frau war vermutlich sein größter Fan«, sprach Schnur mit verstellter Stimme. »Jahrelang bin ich mit Hut auf dem Kopf und Lolly im Mund herumgelaufen, damit sie mich überhaupt wahrnimmt.«
Sie zweifelte: »Ob das was genützt hat?«
Verdutzt schaute Schnur seiner Kollegin nach, wie sie im Arbeitszimmer verschwand. Er zögerte nicht lange, sondern folgte ihr mit den Worten: »Du wirst hier keinen Schritt ohne mich machen.«
»Wovor hast du Angst?«
»Warum wurden früher die Töchter von ihren Müttern in den Häusern eingesperrt, wenn es hieß, Casanova kommt in die Stadt?«, reagierte Schnur mit einer Gegenfrage.
»Du hast Angst, Harald Steiner könnte mich verführen.« Esther lachte.
»Ich habe Augen im Kopf.«
»Du bist seit über zwanzig Jahren glücklich verheiratet. Warum interessiert dich das Liebesleben eines Mannes, dessen Leben weniger beneidenswert verlaufen ist?«, fragte sie staunend.
»Mich interessiert nicht das Liebesleben von Steiner, sondern deins.«
»Wie bitte?«
»Ich arbeite seit sieben Jahren mit dir zusammen und habe oft deinen Liebeskummer miterlebt«, gab Schnur nun in einem sanfteren Ton zurück. »Es ist mir nicht egal, wenn du leidest.«
Esther Weis schluckte.
»Ich weiß, dass du dich mit Andreas Hübner, Erik Tenes und Bernhard Diez dreimal hintereinander ins Unglück gestürzt hast.«
»Erik hat mich nicht ins Unglück stürzen können, weil er von Anfang an kein Interesse an mir zeigte. Er läuft hinter Anke her, seit er auf unserer Dienststelle ist«, unterbrach Esther.
»Lenk nicht vom Thema ab«, maßregelte Schnur in einem Tonfall, der Esther aufhorchen ließ. Sie spürte, dass ihr diese Unterhaltung zu nahe ging. Aber Schnur ließ sich nicht mehr aufhalten: »Daran erkenne ich, dass du mit deiner Wahl der Partner kein glückliches Händchen hast. Ich will vermeiden, dass Steiner der nächste auf deiner Liste der Enttäuschungen wird.«
Obwohl für Schnur das Thema damit beendet war, fing es für seine Kollegin erst an. Sie schaute ihren Vorgesetzen an, erkannte in seiner Miene weder Geringschätzung noch Ironie. Seine Anteilnahme an ihren Gefühlen wirkte echt.
Schnur erwiderte den Blick. »Habe ich mir zu viel herausgenommen?
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne das nicht, dass sich jemand dafür interessiert, wie es mir geht. In meinem Leben hat sich bisher keiner Gedanken darum gemacht. Meine Mutter interessiert sich mehr für den Inhalt ihrer Schnapsflasche, mein Vater hat uns verlassen, als ich noch sehr klein war.«
Jetzt erst merkte Schnur, wie wenig er über seine Mitarbeiterin wusste. Es war wohl ein Fehler gewesen, sich von den Kollegen abzuschotten und nur die berufliche Seite zu zeigen. In Esther Weis hatte er immer die blonde, schöne Frau gesehen, die unüberlegt neue Beziehungen zu Männern anfing. Heute konnte er das erste Mal einen Blick hinter diese Fassade werfen und sah eine einsame, traurige Frau, die mit ihrem Leben keineswegs so einverstanden war, wie es nach außen schien.
»Ich will deinem Glück nicht im Wege stehen«, bemerkte er mit brüchiger Stimme. »Nur befürchte ich, dass Steiner deine Erwartungen nicht erfüllt.«
»Ich werde aufpassen.«
»Das hört sich vernünftig an.«
Mit diesen Worten beendete er das Thema und widmete sich dem Bericht, den er immer noch in den Händen hielt.
Schnur las in erstauntem Tonfall vor: »Da steht, dass kein hundertprozentiger Abgleich zu Steiners Waffe durchgeführt werden konnte, weil das Projektil deformiert ist.«
»Heißt das, die Ballistik ist mit ihrem Latein am Ende?«
»Weiterhin steht da, dass die Kugel mit einem fünfzehn Jahre alten Projektil aus der Waffe von Eduard Zimmer verglichen wurde.«
»Wer ist Eduard Zimmer?«
»Harald Steiners Vorgänger. Er nahm sich mit seiner eigenen Waffe das Leben«, antwortete Schnur, ohne seinen Blick von dem Bericht abzuwenden.
»Warum wurde dieser Vergleich angestellt?«, fragte Esther.
»Weil diese Waffe in unseren Akten immer noch als verschwunden gilt«, antwortete Jürgen Schnur. »Ich als ehemaliger Aktenhengst habe mich sofort daran erinnert. Die Nähe des neuen Tatortes zu dem Ort des Verschwindens der Waffe von damals hat mich auf die Idee zu diesem Vergleich gebracht.«
»Das finde ich gut.« Esther grinste. »Da sieht man mal wieder, dass du selbst nicht an Steiners Schuld glaubst.«
»Nicht so hastig, liebe Esther«, bremste Jürgen Schnur Esthers Eifer. »Es gibt zwar eine markante Kratzspur auf beiden Geschossen, weshalb nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kugel aus Zimmers Waffe stammt.«
»Also ist Steiner aus dem Rennen?«
»Nicht ganz. Es gibt weitere Riefen. Aber das Projektil war so verformt, dass es nicht exakt mit dem Projektil, das in der Ballistik abgefeuert wurde, verglichen werden konnte. Eine mikroskopische Untersuchung kann nur Ähnlichkeiten feststellen. Das zählt nicht als Beweis.«
»Enttäuscht?«
»Nur entsetzt! Zimmers Waffe ist vor fünfzehn Jahren spurlos verschwunden. Sollte sie jetzt wieder auftauchen, wirft das eine Menge neuer Fragen auf.«
»Die Tatsache, dass Bernd Schumacher im Besitz dieser Waffe war, zwingt uns die Frage auf, wie er daran gekommen ist«, überlegte Esther laut.
»Das Verschwinden von Zimmers Waffe war damals schon eine undurchsichtige Angelegenheit.«
»Das Verschwinden einer Waffe ist immer undurchsichtig«, bemerkte Esther. Aber Schnur ließ sich nicht ablenken, sondern sprach weiter: »Es handelt sich um eine Blaser R 93 Royal, mit einer handgefertigten Gravur. Zudem war der Schaft aus geschnitztem Nussbaumholz mit einer besonderen Maserung, was den Wert der Waffe erheblich steigert. Der Preis betrug damals schon vierzigtausend Mark.«
»Wer gibt so viel Geld für einen Repetierer aus?«
»Idealisten«, antwortete Schnur. »Wenn ich mich richtig erinnere, hat Kullmann damals den Fall Eduard Zimmer bearbeitet. Ich komme nicht umhin, mit ihm darüber zu sprechen.« Schon griff er nach dem Telefon. Während er Kullmanns Nummer wählte, fügte er an: »Bis der Aktenführer die Akte herausgesucht hat, hat Kullmann mir alles erzählt.«
»Heißt das, wir fahren zurück nach Saarbrücken?«
Bevor Schnur seiner Mitarbeiterin antworteten konnte, sprach er in den Hörer.
»Nein, Kullmann kommt hierher« sagte er, nachdem er das Gespräch beendet hatte.
»Warum nimmt er den weiten Weg auf sich?« Sie klang enttäuscht.
»Er lässt es sich nicht nehmen, nach all den Jahren den Limberg wieder zu sehen«, antwortete Schnur. »Aber mach dir keine Sorgen, wir fahren noch oft genug nach Saarbrücken. Forseti will über alles informiert werden. Er besteht darauf, dass ich persönlich antrete. Seinen Unmut über meine Einsatzzentrale vor Ort lässt er mich jetzt schon spüren.«
Kapitel 9
»Willkommen in Oberlimberg.« Wenn das mal keine freundliche Einladung war. In behäbigem Tempo steuerte Kullmann seinen Wagen über die schmale Straße.
»Hier hat sich einiges verändert«, murmelte er.
»Überrascht dich das?«, fragte Martha. »Das ist ein schöner Ort. Ein guter Grund, hier zu bauen.«
»Oskar Lafontaine hat das auch erkannt. Er wohnt hier.« Kullmann zeigte auf ein großes Anwesen zu seiner Rechten. Ein geöffnetes Eisentor mit spitzen Stahlstreben gewährte gute Sicht auf ein gelbes Haus, das mit flachem Walmdach über Erkern und Giebeln ganz typisch im Baustil der Toskana gehalten war. Hohe Fenster und eine Glasgalerie im Dachgeschoss ließen auf angenehmen Komfort schließen. Kullmann interessierte sich jedoch mehr für die halbhohe Mauer aus Naturstein mit ihrem gusseisernen Aufsatz. »Jetzt sehe ich endlich einmal diesen umstrittenen Gartenzaun.«
»Die Tatsache, dass dieser Gartenzaun ein öffentlicher Streitgegenstand ist, macht ihn erst interessant«, erkannte sie. »Sonst würde wohl keinem auffallen, wie schön er ist.«
Wenige Meter weiter beeindruckte eine Villa in Terrakotta mit weißen Balkonen. Häuser ganz aus Holz zogen ebenfalls ihre Aufmerksamkeit auf sich.
An der Kreuzung bogen sie rechts ab. Dort trafen sie auf die Hostellerie Waldesruh.
Die rustikale Einrichtung gefiel Kullmann sofort. Die Tür zum Jagdzimmer stand offen. Die Wände waren übersät mit Geweihen von Böcken, die wie heimische Trophäen anmuteten. Die Gedecke waren alle in Jägergrün.
Jürgen Schnur und Esther Weis warteten im Restaurant nebenan. Sie saßen direkt am ersten Tisch vor einem Schrank mit aufwendigen Schnitzereien. Dort zierten neben antiken Bauernmöbeln Hirschgeweihe die Wände. Eine große Theke in der Mitte beherrschte das Speiselokal.
»Schön, dass ihr noch auf meine Hilfe zählt. Das neue Informationssystem wird mich bald überflüssig machen.« Mit diesen Worten trat Kullmann auf den Tisch zu. Schnur erhob sich, um seinen ehemaligen Chef zu begrüßen.
»Du wirst niemals überflüssig«, meinte er. »Ein Computer kann keine Erfahrungen sammeln.«
Kullmann lachte.
Sie ließen sich die Speisekarte reichen.
»Ihr wollt Informationen über Eduard Zimmer haben«, kam der Alte auf den Grund des Treffens zu sprechen. Als Vorspeise wählte er Wildrahmsuppe mit frischen Pfifferlingen.
Schnur nickte.
»Ich kann mich noch gut an den Fall erinnern. Eduard Zimmer hatte sich mit seiner wertvollen Repetierbüchse erschossen – eine unübliche Methode, weil es sich dabei um eine Langwaffe handelt. Also mussten wir rekonstruieren und haben feststellt, dass Zimmer groß und seine Arme lang genug waren, um sich selbst aus diesem Winkel einen Schuss zu setzen.«
»Aber es wurde keine Waffe gefunden.«
»Stimmt. Otto Siebert fand Eduard Zimmer – aber keine Waffe.«
»Otto Siebert?«, stutzte Schnur. »Das ist doch der Vater des entführten Kindes?«
»Richtig.«
»Er ist zufällig auch der Besitzer des Nachbarwaldes vom Limberg.«
»Die Hessmühle«, bemerkte Schnur.
»Nach der Entführung trat er freiwillig von seinem Amt als Staatssekretär zurück. Angeblich brauchte er Zeit, um sich von dem Schrecken zu erholen. Das tat er, indem er sich in die Abgeschiedenheit zurückzog. Dabei stieß er auf den Toten.«
»Darauf stoßen ist ein bisschen übertrieben. Die Leiche lag zweihundert Meter tiefer«, korrigierte Schnur. »Ich staune, wie er sie überhaupt sehen konnte.«
»Willst du die Aussage dieses Mannes anzweifeln?«
»Ich sehe nur Ungereimtheiten.«
»Du siehst Gespenster! Eduard Zimmer starb durch ein Projektil aus seiner eigenen Waffe. Es steckte in seinem Körper, weshalb wir es genau überprüfen konnten.«
»Heißt das nicht, dass er aus großer Entfernung erschossen wurde?«
»Nein. Der Schuss war aufgesetzt. Die Kugel blieb im Körper, weil sie auf einen Knochen prallte.«
Die Vorspeisen wurden serviert.
Schnur begutachtete den Inhalt seines Tellers, während er fragte: »Was hat Otto Siebert in einem Revier zu suchen, das ihm nicht gehört?«
»Ein Mensch wird doch wohl noch im Wald spazieren dürfen. Er hatte ein schreckliches Erlebnis zu verarbeiten und wollte abschalten.«
In einem sachlichen Ton fügte Schnur an: »Ich habe erfahren, dass es zwischen Zimmer und Siebert Rivalitäten gegeben hat. Deshalb wundere ich mich, dass er in seiner schwersten Zeit seine Entspannung ausgerechnet dort suchte, wo er genau das Gegenteil zu erwarten hatte.«
»Du bist wirklich gut. Alles hinterfragen, nichts dem Zufall überlassen. Dich auf den Posten zu setzen war die richtige Entscheidung. Dir entgeht nichts.«
»Deine Überzeugung ehrt mich. Würdest du diese Worte bitte vor Kriminalrat Forseti wiederholen?«
Kullmann lachte.
»Wie wurde der Tote geborgen?«, fragte Esther.
»Mit einem Lichtmastkraftwagen mit Flutlicht«, antwortete Kullmann, rieb sich mit einer Serviette über das Kinn und schob die leere Suppenschale beiseite. Das Geschirr wurde abgeräumt. Erst als sich die Wirtin vom Tisch entfernte, fügte er sinnierend an: »War das ein Aufwand, ihn nach oben zu befördern.«
»Das verstärkt meine Zweifel an Ottos Sieberts Darstellung der Ereignisse«, bekannte Schnur. »Zimmer hatte über Jahre hinweg das Wild von Sieberts Hessmühle auf das eigene Stück – auf den Limberg- getrieben und dort geschossen. Das gehört nicht zum waidgerechten Verhalten eines Jägers. Und dann findet Otto Siebert seinen Widersacher zufällig in einer Schlucht, die sonst nur mit einem Lichtmastkraftwagen zu erreichen ist.«
»Deshalb bringt der damalige Staatssekretär des Innenministeriums und Leiter der Abteilung für Polizeiangelegenheiten einen Menschen um?«, hielt Kullmann dagegen. »Das ist nicht waidgerecht – und noch strafbar dazu. Otto Siebert ist Jurist. Er weiß, was Gerechtigkeit ist. Sollte ein Unbefugter auf sein Wild schießen, wird er schlauere Methoden anwenden, um es dem Kontrahenten beizubringen.«
Schnur trank sein Bierglas in einem Zug leer. Kullmann hatte ihn zurechtgewiesen. Obwohl er inzwischen pensioniert war, er war immer noch ein schlauer Fuchs.
»Du hast recht. Ich bin über das Ziel hinausgeschossen.«
Kullmann schüttelte den Kopf und meinte: »Du gehst unvoreingenommen an den Fall heran. Das ist gut so. Wenn ich immer vor der Obrigkeit den Bückling gemacht hätte, wäre so mancher Fall nicht aufgeklärt worden. Also brauchst du dich nicht zu entschuldigen – im Gegenteil: Mach weiter so!«
Die Hauptgerichte wurden serviert. Kullmanns Aufmerksamkeit galt seinem Rumpsteak in Pfeffersoße, Schnur probierte von seinen Schweinefiletspitzen in Rahmsoße. Eine Weile war nur das Klappern des Bestecks zu hören.
»Ich beabsichtige ein Gespräch mit Otto Siebert. Er kann mich aufklären, wie er bei seinem verträumten Spaziergang zufällig die Leiche entdecken, dabei aber dessen Waffe übersehen konnte, deren Wert heute über zwanzigtausend Euro geschätzt wird.«
»Otto Siebert hat keinen Grund, etwas zu stehlen. Er ist steinreich, wie ihr sehen werdet, wenn ihr ihm einen Besuch abstattet.«
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