Kitabı oku: «Kullmann und die Schatten der Vergangenheit», sayfa 2

Yazı tipi:

»Dein Opa lebt in Nalbach?«, fragte sie.

»Das ist nicht Nadines Opa, sondern meiner«, hörte Anke schon wieder Samanthas Stimme.

Sie beherrschte sich, als sie weiterfragte: »Hast du ein gutes Verhältnis zu Opa Jakob?«

Nadine nickte.

Diese Antwort gefiel Anke. Sie ahnte, dass Nadine dort im Fall der Fälle eine Zuflucht finden könnte.

Sie stellte sich an das große Panoramafenster und ließ ihren Blick über die herrliche Aussicht schweifen. Natur über Natur erstreckte sich dort vor ihren Augen. Eigentlich müsste es schön sein, hier zu leben. Hinter den großen Feldern und vereinzelten Häusern erhob sich ein bewaldeter Berg, auf dessen Spitze etwas Weißes leuchtete. Ankes Augen hafteten an dem rätselhaften Punkt. Fast hätte sie die Abfahrt ihrer Kollegen verpasst.

Bevor sie in den Dienstwagen einstieg, berichtete sie Erik von dem Porschefahrer.

»Hast du dir denn die Nummer gemerkt?«

»Klar! Für wie dumm hältst du mich eigentlich?«

Dazu sagte Erik nichts.

Die Hauptstraße in Diefflen wirkte belebt zur morgendlichen Stunde. Die Sonne lockte frohgelaunte Menschen auf den kleinen Marktplatz. Die Frauen trugen Einkaufskörbe; die Männer eilten in die Kneipen.

»Ein lustiges Treiben herrscht in diesem Dorf«, stellte Erik fest, der auf dem Beifahrersitz saß und alles in Ruhe beobachten konnte. »Es sieht so aus, als würde hier jeder jeden kennen.«

»Das sieht nicht nur so aus«, nickte Anke, die im Fond des Wagens saß. »In Dörfern ist das so.«

»Hat doch Vorteile«, überlegte Erik. »Wenn man Hilfe braucht, weiß man immer, wen man darum bitten kann.«

»Das ist nicht so sicher«, schaltete Bernhard sich ein. »Die Freundschaft beschränkt sich vielmehr auf die Freuden des Lebens. Wenn es um Arbeit geht, trennt sich die Spreu vom Weizen.«

»Du kennst dich ja gut aus«, staunte Erik.

»Klar! Ich bin in einem Dorf aufgewachsen. Für Kinder ist das schön. Aber als Erwachsener lernt man auch die andere Seite kennen. Man ist nie allein, was bedeutet, du kommst nie zur Ruhe, bist ständig unter Beobachtung. Bei allem, was du tust, mischen sich andere ein. Ich weiß nicht, ob das wirklich erstrebenswert ist.«

»Und deshalb bist du nach Saarbrücken gezogen?«, fragte Erik.

»Ja. Manche behaupten, Saarbrücken wäre auch ein Dorf. Aber wenn man von einem richtigen Kuhdorf kommt wie ich, erkennt man den Unterschied. Saarbrücken hat Großstadtcharakter.«

»Und das gefällt dir?«

»Ja. Ich wollte aus dem Provinzmief heraus.«

»Zu den Junkies und Prostituierten?«

»Was willst du mir damit sagen?«

»Ganz einfach: Der Provinzmief ist in meinen Augen menschenfreundlicher als das, was man in Großstädten sieht und miterlebt. Ich komme aus Köln – jahrelang galt Köln als das Chicago Deutschlands. Für jeden Verbrecher, den man dort verhaftet, erscheinen am nächsten Tag drei neue auf der Bildfläche.«

»Auch ein Grund, Köln zu verlassen«, stellte Anke fest.

Kapitel 3

»Isolde Jenneweins Todeszeitpunkt liegt zwischen Mitternacht und zwei Uhr. Ihre Hämatome sind kurz vor ihrem Tod entstanden, ein Detail, auf das Dr. Wolbert besonders nachdrücklich hinweist.«

Neben dem Bericht des Gerichtsmediziners verteilte Forseti Fotos des Opfers. Darauf waren die Blutergüsse auf Oberkörper, Hals und Unterarmen besonders kontrastreich abgebildet. Es sah nach einem Todeskampf aus.

Im Büro des Dienststellenleiters herrschte lautes Stimmengewirr, das Forseti mit seiner Frage »Wie ist es möglich, dass kein Familienmitglied im Haus etwas gehört hat?« beendete.

Anke berichtete von den Eindrücken, die die Familie der Toten hinterlassen hatte.

»Das klingt so, als gäbe es dort Geheimnisse«, merkte Forseti an. »Jürgen, was haben Sie herausgefunden?«

Der Angesprochene schaute auf die Papiere, die vor ihm lagen, und antwortete: »Wir können beim Thema Geheimnisse bleiben: Die Tote hat eine aktenkundige Vergangenheit. Sie ist eine geborene Remmark. Ihre Mutter hat geheiratet, als sie sechs Jahre alt war. Einen gewissen Hugo Kauz.«

»Wo ist die Mutter jetzt?«

»Wir suchen sie«, gab Jürgen zu. »Nach dem Tod ihres Mannes hat sie Deutschland verlassen. Seitdem gibt es keine Spur mehr von ihr.«

»Ich sehe Parallelen zu dem Leben der Tochter Nadine«, schaltete Anke sich ein. »Isolde Jennewein hat Dr. Arthur Jennewein geheiratet, als Nadine sechs Jahre alt war.«

»Die Parallelen gehen noch weiter: Isolde Jennewein, früher Remmark, bekam einen Stiefbruder, Oskar Kauz. Er war zehn Jahre älter«, erzählte Jürgen. »Hugo Kauz hatte Isolde nicht adoptiert.«

»Isolde Jenneweins Leben besteht nur aus Déjà-vus«, bemerkte Anke.

»Hugo Kauz starb unter nicht ganz geklärten Umständen«, sprach Jürgen weiter.

»Was heißt das?«, hakte Forseti nach.

»Offiziell lautete die Todesursache Zuckerkoma. Es wurde in dem Fall ermittelt, konnte aber nichts festgestellt werden, was eine Beschleunigung seines Todes bestätigt hätte.«

»Warum ist ein Zuckerkoma ein nicht ganz geklärter Umstand?«, fragte Bernhard zweifelnd. »War Hugo Kauz kein Diabetiker?«

Jürgen schaute in seine Akte, bevor er antwortete: »Doch! Ich gebe nur das wieder, was in der Akte steht.«

Forseti schaltete sich ein: »Nun wollen wir hier keine Haare spalten, wo es uns nicht im Geringsten weiterhilft. Lesen Sie weiter vor, was dort steht!«

»In den folgenden Jahren wurde Isolde Remmark aktenkundig wegen Prostitution.« Gemurmel entstand. »Später hat sie Walter Kruchten geheiratet. Ein Freier.«

»Ist das der leibliche Vater von Nadine?«, fragte Anke.

»Nein. Sie war bereits schwanger. Da wir gerade von Geheimnissen sprechen: Isolde Jennewein hat im Jahr 1989 Walter Kruchten erschlagen.«

»Nun wird es richtig interessant.«

»Sie wurde vom Gericht freigesprochen mit der Begründung Notwehr. Walter Kruchten habe seine Frau und das Kind misshandelt.«

»Das klingt zwar aufregend, aber nicht geheimnisvoll«, schimpfte Bernhard.

»Für mich schon: Isolde Jennewein hinterlässt zwei Todesfälle, die Fragen zurücklassen. Vom Stiefvater wurde sie als Tochter abgelehnt, kurze Zeit später starb er. Vom Ehemann wurde sie misshandelt, kurze Zeit später starb er«, stellte Jürgen dagegen. »Sie war nicht zimperlich.«

»Von den beiden kann sich aber niemand an ihr gerächt haben«, beharrte Bernhard.

»Wie geht das Leben dieser aufregenden Frau weiter?« Mit seiner Frage unterbrach Forseti Bernhards Einwände.

»Den Rest wissen wir: 1993 heiratete sie Dr. Jennewein und lebte mit ihm glücklich bis an ihr jähes Ende.«

»Wie kommt eine Prostituierte, die wegen Totschlags angeklagt war, an einen gut situierten Arzt?«, fragte Esther. »Das klingt ja wie das Märchen vom Traumprinzen.«

»Nachdem sie Walter Kruchten geheiratet hatte, kehrte sie dem kunterbunten Leben den Rücken und begann in Dr. Jenneweins Praxis als Arzthelferin zu arbeiten. So haben sie sich kennengelernt«, antwortete Jürgen.

»Das würde bedeuten, dass sie ihren zweiten Ehemann bereits kannte, als sie noch mit Walter Kruchten verheiratet war«, grinste Esther. »Natürlich ist es purer Zufall, dass sie Walter Kruchten erschlägt und danach Arthur Jennewein heiratet.«

»Nach alldem, was Isolde Jennewein durchgemacht hat, kann ich mir Selbstmord immer weniger vorstellen«, sprach Jürgen seine Bedenken aus.

»Nein. Sie wirkt vielmehr wie eine Überlebenskämpferin«, stimmte Esther zu.

»Das können wir erst ausschließen, wenn wir sicher sind, dass es keinen Abschiedsbrief gibt«, verdeutlichte Bernhard. »Hat die Spurensicherung etwas in dieser Art gefunden?«

»Bis jetzt wurde kein solcher Brief erwähnt«, antwortete Jürgen.

»Ein Motiv für die Tat ist bis jetzt auch nicht ersichtlich«, übernahm Forseti wieder das Wort. »Walter Kruchten starb vor zwölf, Hugo Kauz vor einundzwanzig Jahren. Diese beiden Fälle sind zu kalt, um noch interessant für uns zu sein.«

»Was müssen wir tun?« Bernhard rieb sich tatenfreudig die Hände.

»Wir müssen herausfinden, wo Isolde Jenneweins Mutter jetzt ist, damit sie über den Tod ihrer Tochter informiert werden kann«, bestimmte Forseti. »Diese Aufgabe übernimmt unsere Kollegin Esther Weis.«

Die Angesprochene nickte, dabei war ihr der Ärger über diese Anweisung deutlich anzusehen.

»Da wir von einem Todeskampf ausgehen, hat der Täter mit großer Wahrscheinlichkeit Spuren an Isolde Jennewein zurückgelassen. Also sorgen wir dafür, dass die Kleidung der Familie zur Untersuchung ins Labor kommt«, fuhr Forseti fort. »Das übernehmen Sie, Kollege Diez!«

Bernhard nickte.

»Sie fahren zu Dr. Wolbert in die Gerichtsmedizin. Ich will den abschließenden Bericht morgen früh auf meinem Schreibtisch haben«, wandte er sich an Anke und Erik.

Damit beendete er die Dienstbesprechung.

*

Dr. Wolbert begrüßte Anke und Erik in seiner Arbeitsmontur – grüner Kittel, grüne Haube und Mundschutz. Anke und Erik zogen sich ebenfalls die grüne Tracht über und folgten ihm in den Sektionsraum.

»Bisher kann ich Ihnen sagen, dass der Todeszeitpunkt, den ich am Tatort genannt habe, bestätigt wurde. Sie starb zwischen null und ein Uhr in den Morgenstunden. Ihre gesundheitliche Verfassung vor dem Tod war bestens, also wäre dort kein Motiv für Selbstmord zu finden.«

»Es sei denn, sie wollte nicht ewig leben«, bemerkte Erik.

»So habe ich das noch gar nicht gesehen. Das könnte man als Motiv betrachten«, stimmte der Gerichtsmediziner amüsiert zu. »Aber nun wieder ernsthaft: Sie hat Hämatome am Hals, die auf einen Würgegriff schließen lassen. Außerdem hat sie Blutergüsse an beiden Unterarmen, als habe sie jemand gegen ihren Willen festgehalten. Und der Oberkörper ist voller Prellungen, als habe sie jemand geschlagen. Diese Frau hatte einen heftigen Kampf vor ihrem Tod.«

Dabei zeigte er auf die angesprochenen Merkmale an der Leiche.

»Die Kleidung der Toten liegt schon im Labor. Dort wird alles nach Fremdfasern abgesucht. So, wie sie aussieht, müssen Fremdfasern zu finden sein.«

»Forseti will morgen früh den detaillierten Bericht«, verkündete Anke.

»Oje, oje! Der Perfektionist«, murrte Dr. Wolbert. »Ich arbeite schnell, wie immer. Ich habe nämlich keine Lust, eine Leiche länger als nötig auf dem Tisch liegen zu lassen. Das müsste Forseti inzwischen eigentlich wissen.«

»Wir wiederholen nur, was er gesagt hat.«

»Klar. Aber es war schon immer so, dass der Überbringer schlechter Nachrichten die Prügel bezieht.« Der Gerichtsmediziner grinste schelmisch.

Anke empfand dieses Grinsen so ansteckend, dass sie mitlachte. Es bereitete ihr Vergnügen, Dr. Wolbert zu sehen – auch wenn die Umstände nicht gerade einladend waren.

»Gibt es Anzeichen, dass Isolde Jennewein schon Selbstmordversuche unternommen hat?« Mit dieser Frage beendete Erik das Geplänkel zwischen den beiden.

»Nein, nichts dergleichen.«

»Geben die Blutergüsse einen Aufschluss, mit welchem Gegenstand sie geschlagen wurde?«

»Nein. Das können durchaus Fäuste gewesen sein.«

Anke hörte den beiden zu, während sie die Männer genau beobachtete. Erik war größer als Dr. Wolbert, seine Statur kräftiger, seine Gesichtszüge grober. Dr. Wolbert wirkte geschmeidig, elegant und jugendlich – schon fast jungenhaft, wären diese grauen Strähnen nicht.

»Können wir also sagen, der Täter ist männlich?«, hörte sie wieder Eriks dunkle Stimme.

»Dazu kann ich mich nicht äußern.«

»War Isolde Jennewein schon tot, als sie mit der Schlinge hochgezogen wurde?«

Anke horchte auf.

Dr. Wolbert schüttelte den Kopf und antwortete: »Nein. Sie starb an Genickbruch, was durch die Schlinge und den tiefen Fall verursacht worden sein kann.«

»Die Zweifel an der Selbstmordtheorie begründen sich nur darin, dass sie sich die Hämatome zu Lebzeiten zugezogen hat?«

»Richtig!«

»Also muss das Opfer schon leblos gewesen sein, als es für das Selbstmordszenario vorbereitet wurde. Sonst hätte es sich gewehrt.«

»Das müssen Sie herausfinden«, gab Dr. Wolbert zurück.

»Das bringt mich wieder auf meine Frage, ob der Täter männlich war«, ließ Erik nicht locker. »Oder hat eine Frau so viel Kraft, einen unbeweglichen Körper auf einen Deckenbalken hochzuziehen?«

»Mit Flaschenzug geht alles«, hielt Dr. Wolbert dagegen. »Der Strick war lang. Das restliche Stück, das neben der Leiche herabhing, haben die Kollegen der Spurensicherung mitgenommen, um es auf Hautreste zu untersuchen. Aber eines kann ich schon bestätigen: Der Fundort ist der Tatort, denn die Staubpartikel aus dem Speicher befinden sich auch in Mund, Nase, Ohren und Augen der Toten. Sie hat noch gelebt, als sie auf den Speicher gelangte.«

Mit diesen Informationen traten sie ihren Rückweg an.

*

Ankes Weg in den Feierabend führte über die Mainzerstraße immer geradeaus, bis die stark befahrene Straße in die Kaiserstraße überging. Sie parkte ihren Wagen wie jeden Abend vor ihrer Wohnung im Grumbachtalweg und spazierte über den Trampelpfad zurück zu Kullmanns Haus, wo sie ihre Tochter abholte. Als Lisa ihre Mutter sah, streckte sie ihr beide Arme entgegen und ließ einen scheinbar endlosen, unverständlichen Redeschwall los. Nur ein Wort war deutlich herauszuhören: »Mama!« Sie wollte schon so viel erzählen. Anke erkannte, wie glücklich das Mädchen war – das Einzige, was zählte. Lisas blonde kurze Haare standen lustig von ihrem Kopf ab. Ihre Pausbacken waren gerötet und ihre blauen Augen funkelten. Mit ihren Beinchen strampelte sie in dem Kinderwagen vor lauter Ungeduld, bis Anke sie endlich hochhob.

Mit Lisa auf dem Arm schlenderte sie über die Terrasse. Martha folgte ihr. Alles war still, die letzten Sonnenstrahlen fielen in den Garten, den Martha mit viel Sorgfalt angelegt hatte.

»Norbert hat etwas ganz Aufregendes für Lisa entdeckt«, berichtete Martha mit einem belustigten Grinsen. »Er ist losgefahren, um es sofort zu kaufen. Wenn er einen Einfall hat, duldet das keinen Aufschub.«

»Was ist es denn?«

»Eine Schaukel, die für alle Altersklassen geeignet ist.« Martha strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

»Aber Lisa kann noch nicht einmal alleine sitzen. Wie soll sie schaukeln?« Anke wurde sofort ängstlich und drückte ihre Tochter noch fester an ihren Körper.

»Lass dich überraschen. Er tut nichts, was deinem Kind schaden könnte.«

Kapitel 4

»Ich bitte Sie, mich zum Haus der Familie Jennewein zu begleiten.«

So sollte ein Arbeitstag nicht beginnen. Anke warf Forseti einen erstaunten Blick zu.

»Wir haben das Ergebnis der Spurensicherung. Die Kollegen haben keinen Abschiedsbrief gefunden. Also gehen wir von Mord aus. Nach allem, was bisher an Spuren ausgewertet wurde, muss der Mörder im Kreis der Familie sein. Deshalb will ich mich selbst vor Ort umsehen und mit den Familienmitgliedern sprechen«, fügte er erklärend an.

Es war das erste Mal, dass Anke allein mit ihrem neuen Vorgesetzten zu einem Außentermin fuhr. Als Norbert Kullmann noch im Dienst war, gehörten solche Unternehmungen zur Routine. Kullmann hatte Anke auf fast all seine Ermittlungswege mitgenommen. Auf diese Weise hatte sie alles lernen können, was für ihre Arbeit wichtig war. Gern dachte sie an diese Zeit zurück.

Heute verband sie mit Kullmann nicht mehr ihre Arbeit, sondern ihr Privatleben. Schmunzelnd dachte sie darüber nach, wie sich ihr Leben verändert hatte. Seit Kullmann in Pension war und seinen Lebensabend zusammen mit seiner Frau Martha genoss, übernahm er für Anke die Rolle des Ersatzopas, der ihre Tochter betreute, während sie zur Arbeit ging. Ohne Kullmann und seine Frau wäre es für Anke nicht so einfach gewesen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Lisa brauchte viel Aufmerksamkeit, die sie an den Wochentagen von Kullmann und Martha bekam.

»Ich möchte, dass Sie mit Nadine Kruchten sprechen. Sie macht gerade viel durch. Ich traue Ihnen genügend Feingefühl zu, mit dieser Situation umzugehen.« Forsetis Anweisung, angereichert mit einem Lob, ließ Anke fast übersehen, dass sie bereits vor Jenneweins Haus standen. Ohne eine Reaktion zu zeigen, stieg sie aus.

Bevor sie dazu kamen zu klingeln, wurde die Tür schon geöffnet. Ein großer, junger Mann verließ das Haus, stürmte an den beiden Polizeibeamten vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Anke eilte zur Tür, damit sie nicht ins Schloss fiel. Niemand war dem Flüchtenden gefolgt. Forseti und Anke traten ein. Aus dem Wohnzimmer drangen laute Stimmen, die sich nach Streit anhörten.

»Du lässt gefälligst die Finger von Tobias, ist das klar?«, hörten sie ganz deutlich.

Anke erkannte die Stimme: Es war Samantha. Nach dem, was sie gerade brüllte, war die Angeschrieene Nadine.

Gefolgt von Forseti näherte sie sich dem Treiben. Als sie ins Wohnzimmer schaute, erblickte sie Nadine auf der hohen Kante des Ledersessels und Samantha, die wie eine Furie vor ihr stand und schimpfte.

Samantha bemerkte die Polizeibeamten sofort.

»Was ist denn hier los?«, empörte sie sich. »Gehört jetzt Einbrechen zu Ihren Arbeitsmethoden?«

»Warum schließen Sie nicht Ihre Haustür?«, konterte Anke bissig, womit sie Samantha am Überlegen hinderte. Ihr Plan ging auf, denn statt sich zu beschweren, fragte Samantha: »Was wollen Sie hier? Isolde die Schlampe hat sich erhängt. Warum halten Sie sich daran so lange auf? Jetzt nervt diese Person sogar noch nach ihrem Tod.«

»Es besteht die Möglichkeit, dass Isolde Jennewein sich nicht freiwillig erhängt hat. Nun wollen wir wissen, wer nachgeholfen haben könnte.« Ankes Beherrschung hing an einem seidenen Faden.

Forseti ging an die kurze Seite des Wohnzimmers und schaute sich die Fotos an, die einen großen Teil der Wand schmückten.

»Und wer ist dieser Schnüffler?«, murrte Samantha weiter.

»Das ist Kriminalhauptkommissar Forseti«, stellte Anke ihren Vorgesetzten vor. »Ich würde den Begriff Schnüffler an Ihrer Stelle vermeiden.«

»Was ist es dann, was er hier tut?«

Forseti drehte sich um. Samanthas Hochnäsigkeit geriet ins Wanken, als ihre Blicke sich trafen. Auf keinen Fall konnten dieses Gesicht und dieser Anzug Philanthropie oder irgendeine andere Sorte guter Bekanntschaft bedeuten. Die Erkenntnis ließ sie verstummen.

Anke staunte über die Reaktion. Bisher war es keinem gelungen, Samantha in den Griff zu bekommen. Am kläglichsten war der eigene Vater gescheitert.

»Sie treiben Sport«, bemerkte Forseti mit einem Hinweis auf die Fotos an der Wand. »Ich sehe Sie hier bei Auszeichnungen im Reitsport.«

»Ja! Ich war gut.«

»War?«

»Ich reite schon lange nicht mehr. Warum?«

»Welchen Sport machen Sie heute?«

»Ich mache gelegentlich Kampfsport. Aber nur sporadisch – habe nicht immer die große Lust.«

»Was machen Sie beruflich?«, fragte Forseti weiter.

»Ich studiere an der Uni in Saarbrücken.«

»Welches Fach?«

»Sprachen.«

»Genauer bitte!«

»Englisch und Französisch.«

»Wie lange sind Sie dort schon immatrikuliert?«

»Ein Jahr.«

»Dann haben Sie sich aber spät zum Studium entschlossen«, stellte Forseti fest.

»Ja und! Ich bin nicht zu alt, um noch etwas zu begreifen.«

»Das sei dahingestellt«, bemerkte Forseti frostig.

Samantha schwieg.

»Wo waren Sie in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag zwischen null und zwei Uhr?«, stellte er die Frage, auf die Anke schon gewartet hatte.

»Das habe ich Ihren Mainzelmännchen schon gesagt.«

»Beamtenbeleidigung«, bemerkte Forseti. An Anke gerichtet fügte er an: »Das nehmen wir mit ins Protokoll auf.«

»Scheiße, Mann!«

»Das natürlich auch.«

»So war das nicht gemeint.« Samantha wurde kleinlaut.

»Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie es anders meinten, als Sie es gesagt haben. Ich stelle hier klare Fragen, darauf kann man klare Antworten erwarten.« Forseti blieb beharrlich.

»Gut. Also wiederhole ich meine Antwort: Ich war mit Berthold Bracke zusammen.«

»Das haben wir überprüft.«

»Warum fragen Sie dann noch?«

»Weil Herr Bracke ausgesagt hat, dass Sie ihn um elf Uhr am Mittwochabend verlassen haben.«

Plötzlich herrschte Stille.

Samantha spürte deutlich, was die Aussage ihres männlichen Begleiters zu bedeuten hatte.

»Ich warte«, warf Forseti in die Stille ein.

»Ich bin anschließend nach Hause gefahren«, antwortete Samantha.

»Dann müssten Sie zur Tatzeit zu Hause gewesen sein.«

»Nein, war ich nicht.«

»Das müssen Sie mir genauer erklären.«

»Was soll ich da erklären?« Samantha wurde nervös.

»Wie es möglich ist, dass Sie um elf Uhr Ihren Bekannten verlassen haben und um zwölf Uhr immer noch nicht zu Hause angekommen sind. Wir wissen, wo der Herr wohnt, den Sie besucht haben.«

»Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.«

»Das ist keine Antwort.«

»Okay! Ich glaube, es war zwischen ein und zwei Uhr.«

»Was haben Sie in der Zwischenzeit gemacht?« Forsetis Tonfall wurde ungeduldig.

»Ich war noch in einer Kneipe. Als ich dort keine Bekannten antraf, habe ich den Laden wieder verlassen.«

»Dann wird sich ja dort jemand an Sie erinnern. Sagen Sie uns den Namen des Lokals!«

»Ich weiß nicht, ob sich jemand an mich erinnern kann. Dort ist es immer voll.«

»Das werden wir überprüfen. Wenn sich niemand an Sie erinnert, sieht es schlecht für Sie aus.«

»Scheiße! Das kapier ich auch. Aber ich habe der Schlampe nichts angetan«, wurde Samantha immer nervöser. »Warum auch?«

»Die Schlampe will ich nicht hören, dafür den Namen der Kneipe.« Forseti ließ nicht locker.

»Irish Pub.«

»Na also! Geht doch.« Forseti deutete ein Nicken an. »Wie standen Sie zu Ihrer Stiefmutter?«

»Das war nicht meine Stiefmutter, das war die Frau meines Vaters«, stellte Samantha trotzig klar.

»Da haben wir schon das erste Motiv«, konterte Forseti.

Samantha starrte ihn mit offenem Mund an.

Schritte ertönten aus dem Flur. Einen Moment später betrat Dr. Jennewein das Wohnzimmer. Er begrüßte die Polizeibeamten ohne das geringste Anzeichen von Verwunderung oder Groll.

»Haben Sie schon etwas herausgefunden?«, fragte er.

»Nein, wir ermitteln noch«, antwortete Forseti.

Für eine Weile blieben alle ganz still in dem großen Zimmer. Durch das Eintreten des Familienvaters war die Unterhaltung abgebrochen. Anke beobachtete, dass sich die Mitglieder dieser Familie nicht anschauen konnten. Jeder bemühte sich, dem Blick des anderen auszuweichen. Unter diesen Bedingungen mit Nadine zu sprechen, kam Anke sinnlos vor.

Also richtete sie sich mit einem Vorschlag an das Mädchen: »Ich möchte mich gern mit dir unterhalten. Können wir so lange in dein Zimmer gehen?«

Nadine schaute Anke überrascht an, reagierte aber sofort. Sie ging Anke voraus in das obere Stockwerk. Das Zimmer, in das sie die Polizeibeamtin führte, war groß und zeigte in die gleiche Richtung wie das Wohnzimmer – zum Garten.

Anke trat ein und schloss die Tür hinter sich.

Was nun kam, überraschte sie.

Nadine rannte auf die geschlossene Tür zu, riss sie hastig auf und schnappte gierig nach Luft, als hätte sie ihr jemand abgeschnürt.

»Was ist los?«, fragte Anke erschrocken.

Nadine brauchte eine Weile, bis sie wieder normal atmen konnte. Erst dann sagte sie: »Keine Türen schließen. Bitte!«

»Ja sicher. Hast du Platzangst?«

Nadine zuckte nur mit den Schultern.

Anke wartete, bis Nadine sich beruhigt hatte, bevor sie mit ihren Fragen begann: »Wir wissen, dass deine Mutter zweimal verheiratet war. Der erste Ehemann hieß Walter Kruchten. Wie war er zu dir?«

Nadine überlegte eine Weile, bis sie meinte: »Er war okay.«

Anke staunte über diese Antwort.

»Gab es niemals Streit?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Hat er dich geschlagen?«

»Nein! Wie kommen Sie darauf?« Nadine schaute Anke entsetzt an.

Diese Antwort deckte sich nicht mit den Aussagen von Nadines Mutter, als sie wegen Totschlags vor Gericht gestanden hatte.

»Wie ist Dr. Jennewein zu dir?«

Nun musste Nadine sogar lächeln: »Er ist ein ganz lieber Mensch. Immer versucht er, es uns allen recht zu machen.«

»Aber es gelingt ihm nicht, oder?«

»Nein.«

»Warum?«, hakte Anke nach. »Hat es mit Samantha zu tun?«

»Natürlich! Mit wem sonst?«

»Ich wüsste es gern genauer. Wie ist dein Verhältnis zu Samantha?«

Nadine antwortete prompt: »Da ist keins.«

»Ihr seid doch Stiefschwestern.«

»Wir sind Feindinnen. Samantha ist schlecht, durch und durch schlecht«, kam es im Brustton der Überzeugung. »Sie tut alles, um uns zu vernichten. Alles!«

»Hat sie denn schon einmal etwas Schlimmes getan?«

»Sie tut immer nur schlimme Dinge.«

Anke stutzte. Nadines Verhalten brachte sie aus dem Konzept. Die Fragen, die sie vorbereitet hatte, wollten nicht mehr über ihre Lippen kommen. Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, dass Nadine sich nicht wie eine Siebzehnjährige benahm. Alles an ihr wirkte kindlich, unreif. Sie beobachtete Nadine eine Weile, wie sie an ihren dünnen Haaren spielte, sich imaginäre Stäubchen von ihrer dunklen Bluse zupfte, sich damit beschäftigte, das Kleidungsstück glatt zu streichen, indem sie es fest herunterzog und wieder losließ.

Nach einer Weile unterbrach Anke die Stille: »Gestern hast du mir erzählt, dass du dich nicht mehr so genau daran erinnerst, wie das war, als deine Mutter und Arthur geheiratet haben. Kann es sein, dass du nicht mit mir darüber reden wolltest, weil Samantha in unserer Nähe war?«

Nadine schaute Anke an, antwortete aber nicht. Stattdessen wirkte ihr Blick verklärt, als befände sie sich nicht in diesem Zimmer. Sie drehte sich langsam auf das Fenster zu. Anke beobachtete Nadine, die eine Weile hinaus schaute, bevor sie sich wieder an Ankes Anwesenheit erinnerte: »Da ist ein schwarzes Loch.«

»Was heißt das?«

»Ich erinnere mich an nichts.«

Anke spürte, dass Nadine sie mehr verwirrte als Klarheit in den Fall brachte.

»Bin ich jetzt verrückt?«, fragte Nadine verunsichert. »Ich kann nichts sagen, nichts hören, nichts sehen.«

»Gar nichts?«

»Dunkelheit.«

Anke fröstelte bei diesen Worten. Was war nur mit der jungen Frau geschehen? Diese Antworten bedeuteten mehr, als sie selbst heraushören konnte. Aber um sie zu analysieren, brauchte Anke kompetente Hilfe.

»Du sagtest gestern, dass du in der Nacht, als deine Mutter starb, von einem lauten Geräusch geweckt wurdest«, wechselte sie das Thema, weil sie befürchtete, von Nadines dunkler Aura mitgerissen zu werden. »Um welche Uhrzeit war das ungefähr?«

»Ich habe auf die Uhr gesehen«, sprach sie mehr zu sich selbst als zu Anke. Sie setzte sich auf das Bett, schlang die Arme um die Knie und schaukelte wie in Trance. »Es war Mitternacht. Wahrscheinlich habe ich den verzweifelten Kampf meiner Mutter um Leben und Tod gehört, hätte helfen können, habe es aber nicht getan.«

»Du weißt nicht, ob du wirklich hättest helfen können. Wer weiß, gegen wen sie kämpfen musste. Isolde Jennewein hat den Kampf verloren, also hatte sie einen starken Gegner.«

»Warum habe ich nicht reagiert?«, fragte Nadine weiter, als hätte sie Ankes Worte nicht gehört.

Anke kehrte zu Forseti zurück, der im Wohnzimmer mit Dr. Jennewein sprach. Er beendete das Gespräch, verabschiedete sich und verließ mit Anke das Haus.

»Was ist bei Ihnen herausgekommen?«, fragte er, als sie im Auto saßen.

»Nur, dass die Tragödie dieser Familie nicht erst mit dem Tod von Isolde Jennewein begonnen hat«, bemerkte Anke, immer noch ergriffen von der Unterhaltung mit Nadine.

»Wie soll ich das verstehen?«

»Nadine benimmt sich äußerst merkwürdig. Sie strahlt etwas Unheimliches aus. Sie weicht meinen Fragen aus, redet von einem schwarzen Loch ihrer Erinnerungen. Nur eines macht sie unmissverständlich klar: Sie hat Angst vor Samantha.«

»Das ist nachvollziehbar. Sogar der Vater hat Angst vor seiner Tochter«, bestätigte Forseti. »Wir werden die junge Frau im Auge behalten.«

Er fuhr in einem zügigen Tempo über die Autobahn, während er weitersprach: »In dieser Familie gibt es etwas, das alle verheimlichen. Etwas, das auszusprechen sich entweder niemand wagt oder jeder bewusst verschweigt, weil es zu belastend ist.«

»Das habe ich auch erkannt«, bemerkte Anke. »Sie wagen nicht einmal, sich in die Augen zu schauen.«

»Ich habe die Familie für morgen früh vorgeladen. Dann werden wir jeden einzeln vernehmen. Wir müssen die Wahrheit aus diesen Menschen herausbekommen. Ich spüre deutlich, dass es in der Familie etwas gibt, das der Auslöser für Isolde Jenneweins Tod sein könnte.«

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
324 s. 8 illüstrasyon
ISBN:
9783750237223
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip