Kitabı oku: «Kullmann und die Schatten der Vergangenheit», sayfa 3

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Kapitel 5

»Es gibt eine weitere Leiche«, lautete Eriks Begrüßung am frühen Morgen.

»Das hört sich nach Stress an«, stellte Anke fest.

»Ein Förster hat vor einer Stunde eine Frauenleiche auf dem Litermont – ein bewaldeter Berg bei Nalbach – gefunden. Sie lag so versteckt, dass er sie erst fand, als er ganz dicht an ihr vorbeiging.«

»Nalbach?«, hakte Anke nach. »Das liegt direkt angrenzend an Diefflen.«

»Keine Ahnung.« Erik zuckte die Schultern.

»Wer übernimmt den Fall?«

»Das wird uns Forseti sicherlich gleich sagen, denn wir sollen zu ihm ins Büro kommen.«

Im Gänsemarsch trotteten sie zu ihrem Chef, der sie bereits mit ungeduldiger Miene erwartete.

»Anke, Sie fahren zusammen mit Erik zum Leichenfundort. Der Gerichtsmediziner ist schon dort und erwartet Sie«, begann Forseti, die Aufgaben zu verteilen.

»Geht klar.«

»Wichtig ist es, herauszufinden, wer diese Frau ist, ihre Lebensumstände, Bekannte, Freunde, Feinde und so weiter.«

»Gibt es Hinweise auf ein Tötungsdelikt?«, fragte Anke.

»Laut Gerichtsmediziner gibt es viele Spuren von Hämatomen auf der Leiche. Die Stelle, an der sie gefunden wurde, liegt direkt unterhalb des Litermont-Kreuzes, das sich auf einer Aussichtsplattform hoch über den Bäumen befindet.« Anke erinnerte sich, aus dem Wohnzimmerfenster der Familie Jennewein einen leuchtend weißen Punkt inmitten von Bäumen auf dem Hügel erkannt zu haben. »Ein Sturz von dieser Stelle könnte die Spuren an der Leiche erklären.«

»Schon wieder Verdacht auf Selbstmord?«, fragte Erik staunend.

»Dem müssen Sie nachgehen«, bemerkte Forseti. »Am besten, indem Sie hinfahren!«

»Schon verstanden«, salutierte Erik, als sei er immer noch bei der Bundeswehr.

»Im Fall Jennewein ist die Familie für heute Morgen vorgeladen. Sie haben mit den Befragungen begonnen und werden sie auch fortsetzen«, wandte sich Forseti an die übrigen Kollegen.

Jürgen nickte. Bernhard saß still im Hintergrund. Als er keinerlei Reaktion auf die Anweisung seines Vorgesetzten zeigte, warf Forseti ihm mit hochgezogener Augenbraue einen Blick zu, worauf Bernhard meldete: »Befragungen fortsetzen. Alles klar. Habe verstanden.«

Anke und Erik verließen eilig das Büro. Auf die Spannungen zwischen Bernhard Diez und Forseti konnten sie verzichten.

Wieder fuhren sie über die Autobahn A 620, ließen Dillingen-Diefflen hinter sich und bogen vor dem kleinen Ort Düppenweiler in einen Waldweg ein, dessen Wegweiser auf einen »Grauen Stein« hinwies.

»Sind wir richtig?«, fragte Anke.

»Die Kollegen haben mir den Weg so beschrieben. Ich hoffe, die kennen sich hier besser aus als wir.«

Ein asphaltierter Weg schlängelte sich durch einen dichten Laubwald, der im jungen Grün des beginnenden Frühlings stand. Die Äste waren übersät mit einer weißen, auffälligen Blütenpracht.

»Die Natur ist im Frühling am schönsten«, schwärmte Anke, die den Anblick der blühenden Bäume genoss. »Man müsste sich besser auskennen und wissen, vor welchem Baum man gerade steht.«

»Ich bin der falsche Ansprechpartner. Da, wo ich herkomme, sprießen im Frühling die Baustellen, im Sommer die Verbrechen, weil die Hitze die Gemüter erregt, im Herbst die Verhaftungen, weil viele ein Obdach für die kalte Jahreszeit brauchen, und im Winter die Einbrüche und Hausbesetzungen.«

»Ich weiß: das Chicago Deutschlands«, bemerkte Anke.

»Das hast du dir gut gemerkt.«

»So etwas kann ich nicht vergessen. Ich glaube, da wäre ich auch geflohen.«

Auf einem Parkplatz am »Grauen Stein« sammelten sich viele Polizeifahrzeuge. Neben dem als »Steakhouse« ausgeschilderten Lokal stand ein orangefarbener Flachbau mit dem Hinweis »Margrets Bauernstube«. Hinter der Stube wies ein großes Schild auf das Wohngebiet Litermont hin, aber nichts war dort zu sehen, was den Hinweis bestätigt hätte. Vereinzelt befanden sich dort kleine Häuser, die so dicht aneinander gebaut waren, dass kein Platz mehr für einen Garten übrig blieb. Baufahrzeuge standen auf freien Flächen, die als Bauplatz vorgesehen waren.

Dort parkten sie ihr Auto und stiegen aus.

»Was ist das hier?«, fragte Anke und schaute sich um.

»Das sind die Überreste eines Campingplatzes«, sprach ein Gast der Bauernstube die beiden Polizeibeamten an. Er saß auf der Terrasse vor dem Lokal und trank ein Bier. Unter den großen Sonnenschirmen hatten Anke und Erik den Mann nicht bemerkt.

»Ein Campingplatz in einer Gegend wie dieser«, staunte Erik. »Wer macht denn hier freiwillig Urlaub?«

»Sie glauben nicht, was hier im Sommer los ist.«

Anke und Erik ließen sich den Weg zum Fundort der Leiche von einem Kollegen der Schutzpolizei zeigen. Ein steiler Anstieg führte zum Litermont-Kreuz. Auf dem Waldweg schloss das Team der Spurensicherung gerade seine Arbeit ab. Theo Barthels trat auf Anke und Erik zu, begrüßte die beiden und meinte erschöpft: »Wir sind fertig – mit den Nerven und mit der Spurensicherung. Leider kein Ergebnis.«

»Die Leiche selbst wird uns vielleicht mehr erzählen«, überlegte Erik.

Theo nickte: »So, wie die aussieht, bestimmt.«

Anke schluckte.

Sie setzten ihren Weg fort.

Das Waldgebiet war groß und durchzogen mit Trampelpfaden. Anke entdeckte Hufspuren. Das erinnerte sie an ihre eigenen Erlebnisse zu Pferde. Es waren schöne Erinnerungen. Verträumt schaute sie einen kleinen Weg entlang, der in die Tiefe des Waldes führte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass es ein Abenteuer war, hier zu reiten. Die Umgebung des Litermonts sah einladend aus.

»Kommst du mit oder willst du hier weiterträumen?« Mit dieser Frage riss Erik sie aus ihren Gedanken.

Ein zur Hälfte fertig gestellter Turm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Schild wies darauf hin, dass es sich um eine originalgetreue Nachbildung eines Telegraphen aus der Zeit Napoleons handelte. Gegenüber sahen sie rustikale Holzbänke und Tische unter dem Baldachin der Bäume, die in voller Blüte standen. Nach abgeschlossener Arbeit saßen dort die Kollegen der Spurensicherung zusammen mit dem Gerichtsmediziner, der auf den Entomologen wartete.

Es war ein schönes Fleckchen Erde. Von diesem Platz aus reichte die Sicht über Nalbach, Diefflen und Dillingen mit seinen qualmenden Schornsteinen der Dillinger Hütte bis zur Ensdorfer Grube mit ihrer schwarzen Bergehalde. Die malerische Kulisse zog Anke in ihren Bann.

Ein Geflecht aus Weiden zierte die andere Seite des Aussichtspunktes. Auf Ankes staunenden Blick erklärte Theo: »Ein Weidendom! Seine Attraktion begründet sich darin, das größte lebende Bauwerk im Saarland zu sein. Er besteht aus mehr als vierhundert Weiden und dreihundert Birkenstämmen.«

Dr. Wolbert erhob sich, um sie zur Fundstelle der Leiche zu führen. Doch Anke blieb bewundernd vor der Kuppelkonstruktion stehen. Sie maß einen Durchmesser von zehn Metern. Im Innern gab sie den Blick zum Himmel frei.

»Wunderschön«, schwärmte Anke.

»Das hat jetzt aber nichts mit unserem Fall zu tun«, drängte Dr. Wolbert.

Das wusste Anke auch. Aber die Vorstellung, ihren Blick auf eine von Maden angefressene Leiche zu richten, behagte ihr nicht. Die Ablenkung, die Theo Barthels ihr durch seine Baumkunde anbot, dafür umso mehr.

Ihr Blick fiel auf das Kreuz, das umgeben von einer Balustrade auf einer Aussichtsplattform stand. Es war ein schmiedeeisernes Kreuz auf einem weißen Betonsockel. Anke war sich sicher, dieses Monument vom Wohnzimmerfenster des Hauses der Familie Jennewein gesehen zu haben.

»Direkt hinter dem Kreuz steht eine Rotbuche.« Theo wies auf jeden Baum, den er benannte. »Die Buche ist der verbreitetste Baum in unserer Gegend. Der Nadelbaum zu deiner Rechten ist übrigens eine Zypresse – für Pferde hochgiftig.«

»Gut zu wissen.«

»Und dort«, Theo zeigte auf einen Baum, dessen Blätter sich wie grüne Sterne entfalteten, »ein Ahornbaum.«

»Du kennst dich gut aus. Ich könnte in Sachen Botanik besser informiert sein. Wie will ich später meiner Tochter beibringen, welche Bäume in unseren Wäldern stehen?«

»Frag mich, ich helfe dir und deiner Tochter immer gern«, bot Theo sich sofort an.

»Ein angenehmer Duft herrscht hier.« Anke zog die Luft tief ein.

»Das sind die Blüten der Ulmen. Ein Allergiker fände hier den sicheren Tod durch Ersticken«, erinnerte Dr. Wolbert an seine Anwesenheit.

Anke sah ein, dass ihre Ablenkung irgendwann zu Ende sein musste. Also folgte sie dem Gerichtsmediziner zum Leichenfundort. Der Weg führte steil bergab, war schlecht zu begehen. Anke musste aufpassen, nicht zu stolpern.

»Gibt es keinen anderen Weg?«, fragte Erik, der ebenfalls Mühe hatte, über die vielen Wurzeln und heimtückischen Dornenranken zu kraxeln, die sich über den Boden schlängelten.

»Doch! Aber der ist viel zu weit. Ich bevorzuge den direkten Weg«, erklärte Dr. Wolbert.

Vor einem Baum, dessen Stamm aus vielen kleineren Stämmen zusammengewachsen war, die sich fächerförmig ausbreiteten, sodass sie einen perfekten Sichtschutz bildeten, blieb Dr. Wolbert stehen.

»Unter dieser Buche liegt sie.«

Außer dem Baumstamm konnte Anke nichts sehen.

Es waren die summenden Fliegen, die an den eigentlichen Grund ihrer Anwesenheit in diesem unwegsamen Gelände erinnerten.

»Das ist eine Hainbuche«, präzisierte Theo.

»Von mir aus«, murrte Dr. Wolbert. »Ich bin nicht wegen der Vegetation hier.«

»Eine Hainbuche erkennt man am drehwüchsigen Stamm. Hier windet er sich wie ein schützendes Dach über die Fundstelle.«

Anke versuchte, ihre Aufmerksamkeit dem Baum zu widmen, nachdem sie Theos Hinweise gehört hatte. Aber die Vielzahl der Fliegen machte ihr jede Ablenkung unmöglich. Also schaute sie auf die tote Frau.

Rasch wandte sie sich ab, fixierte diesmal das Kreuz. Sie überlegte, ob es möglich war, bei einem Sturz von der Aussichtsplattform am Fundort zu landen. Der Felsen, auf dem sich das Kreuz befand, war hoch und steil und umgeben von Hecken und Sträuchern.

»Hier ist die Leiche«, erinnerte Dr. Wolbert.

»Ja«, murrte Anke. »Wie lange ist sie schon tot?«

»Das ist das Problem. Ich kann keinen genauen Todeszeitpunkt ermitteln. Sie liegt schon zu lange hier.«

»Wie kann eine Leiche lange unbemerkt an einem Ort liegen, wo viele Spaziergänger vorbeikommen?«

»Diese Stelle ist vom Kreuz aus nicht zu erkennen. Und vom Premium-Wanderweg aus auch nicht. Der Pfad führt hinter der verformten Buche entlang«, erklärte Theo. »Von dort aus kann man nicht auf die Fundstelle sehen, weil der Baumstamm Blicke von außen verwehrt.«

»Aber die Fliegen müssen doch auffallen.«

»Deshalb warten wir hier auf einen Kollegen der forensischen Entomologie«, mischte sich der Gerichtsmediziner ein. »Er kann uns sagen, wie lange die Frau schon tot ist und seit wann die Fliegen so stark um die Leiche herumschwirren. Die ersten Erkenntnisse kann ich euch schon vortragen.«

»Okay, schieß los.«

»Wir haben Papiere bei der Toten gefunden«, begann er und überreichte ihnen einen Personalausweis in einer Schutzfolie.

Anke las den Namen Roswitha Loew. Sie war zweiundvierzig Jahre alt und wohnhaft in Saarbrücken, Moltkestraße. Zwischen ihrem Wohnort und ihrem Fundort lag eine große Entfernung.

»Also nach dem Äußeren zu urteilen ist sie gestürzt. Dabei hat sie sich eine schwere Schädelverletzung zugezogen, was die Todesursache sein könnte. Genaueres erst nach der Autopsie. Die Hämatome an ihrem Körper können durchaus von dem Sturz kommen. Vermutlich ist sie auf mehrere Felsen aufgeschlagen, bevor sie hier unten zum Liegen kam.«

Erst jetzt schaute Anke genau auf die Tote. Der Anblick kostete sie viel Mühe. Lange, schwarze Haare hatten sich wie ein Kranz um ihren Kopf gelegt. Sie lag mit dem Gesicht nach oben. Es war übersät mit Kratzern, Hämatomen und Schmutz. Der Mund stand halb offen, die Augen waren geschlossen, als schliefe sie. Ihre Arme waren unnatürlich verdreht, ihre Beine leicht angewinkelt. Sie war vollständig bekleidet mit einer dicken, schwarzen Jacke, Jeanshose und Wanderschuhen. Die Kleidung wirkte unversehrt.

Mit Mühe betrachtete sie sich den Madenbefall der Leiche genauer und erkannte kleine Würmchen zwischen den Augenlidern, in den Ohrmuscheln, in der Nase und im Mund.

Einige Kollegen maßen die Bodentemperatur und die Außentemperatur und schrieben alles akribisch auf.

»Inzwischen haben wir in der näheren Umgebung der Leiche achtzehn Grad über Null«, berichtete Dr. Wolbert, als er einen Blick auf die Notizen warf.

»Inzwischen?«

»Ja. Beim Eintreffen herrschten hier Temperaturen von zehn Grad.«

»Das bedeutet?«

»Dass bei niedrigen Temperaturen die Entwicklung der Maden stagniert. Sie entwickeln sich nur bei einer bestimmten Mindesttemperatur weiter. Wie hoch diese Temperatur sein muss, weiß der Entomologe.«

Kaum hatte er ausgesprochen, stolperte ein großer, schlaksiger Mann den Hang herunter. Seine roten Haare leuchteten in der Sonne, seine grünen Augen blitzten neugierig. Er hatte eine auffallende Hakennase, auf der er eine Brille balancierte. Er trug einen Schutzanzug und schleppte technische Geräte. Ihm folgten einige Männer, die ebenfalls mit schwerem Gepäck ausgerüstet waren. Als er direkt vor Anke und Erik stand, stellte er sich als Dr. Ralf Wedick vor. Er erklärte, dass er nun mit der Asservierung der Insekten beginne, anschließend wolle er die Leiche in den Kühlraum der Gerichtsmedizin überführen. Dabei schob er mehrere Male seine Brille in die richtige Position zurück. Allerdings ohne Erfolg, denn sie rutschte jedes Mal wieder herunter.

Anke und Erik kletterten den Hang hinauf, weil es für sie nichts mehr am Fundort zu tun gab. Außerdem war Anke froh, diesen Ort verlassen zu können. Menschen tot aufzufinden, hinterließ in ihr immer gemischte Gefühle – obwohl ihre Arbeit erst anfing, wenn das Leben für jemanden vorbei war.

An der Aussichtsplattform am Litermont-Kreuz wartete ein Mann mit weißen, lockigen Haaren auf sie. Er war ganz in Grün gekleidet, was Anke sofort ahnen ließ, dass er der Förster war, der die Leiche gefunden hatte. Seine beiden Hände hatte er über seinem dicken Bauch gefaltet. Sein Gesicht war rundlich, wie seine ganze Statur, seine Gesichtsfarbe rot. Ein weiß gekräuselter Bart zierte seine pausbackigen Wangen, die ihm ein lustiges Aussehen verliehen.

Er lächelte die beiden Polizeibeamten an. Dabei strahlte er eine beneidenswerte Ruhe aus.

Auf Ankes fragenden Blick erklärte er: »Ich bin Georg Morgett. Ich habe die Leiche gefunden.«

»Wann haben Sie sie gefunden?«

»Um acht Uhr bin ich meine Runde gegangen. Da habe ich sie entdeckt.«, erklärte der Förster in aller Ruhe.

»In welchen Abständen kontrollieren Sie diese Gegend?«, fragte Anke weiter, in der Hoffnung, so einen Hinweis auf die ungefähre Liegezeit der Toten zu bekommen.

»Jeden zweiten Tag. Sie müssen wissen, dass sich auf dem Litermont ein Wilderer herumtreibt. Deshalb muss ich immer alles kontrollieren.«

»Das heißt, dass Sie vorgestern, also am ersten April, auch hier waren?«

Der Förster überlegte eine Weile, bis er den Kopf schüttelte: »Nein. Am Donnerstagmorgen war ich ausnahmsweise nicht hier.«

»Warum ausgerechnet nicht am Donnerstag?«

»Ich war beim Arzt. Ich muss mich regelmäßig untersuchen lassen, weil meine Harnsäurewerte erhöht sind«, erklärte er so ruhig, dass Anke keinen Zweifel an seinen Worten hatte. »Meine Gicht macht mir zu schaffen.«

Anke ließ sich den Namen des Arztes angeben und nahm außerdem die Personalien des Försters auf, bevor sie sich von ihm verabschiedete. Zu ihrem Erstaunen entfernte sich Georg Morgett nicht wie erwartet. Stattdessen blieb er stehen und beobachtete die Polizisten bei ihrer Arbeit.

»Sie können gehen«, erklärte Anke.

Morgett meinte grinsend: »Ich schaue gern zu. So etwas bekommt man nicht jeden Tag zu sehen.«

Erik ging auf das Kreuz zu. Anke folgte ihm. »Im Kreuz ist Heil« lasen sie unterhalb des Monuments. Anke ging um den Betonsockel herum und entdeckte auf der Seite eine weitere Inschrift: »Erinnerung an Margaretha von Lidermont«.

»Das ist ja interessant«, stellte sie fest. »Dieses Kreuz ist eine Gedenkstätte. Margaretha von Lidermont muss eine wichtige Frau gewesen sein.«

»Vielleicht ist sie die Namensgeberin dieser Gegend«, überlegte Erik.

Er stellte sich an die Brüstung und genoss die Aussicht. »Von einem derart schönen Ort möchte ich auch gern der Namensgeber sein.«

Sein Blick glitt über Felder, Wälder und Hügel.

Georg Morgett stellte sich neben ihn und erklärte, dass er dort über Nalbach und Diefflen blickte. Rechts beschrieb er die bewaldete Höhe des Saargaus. Deutlich zeichnete sich der Hügel von Rehlingen-Siersburg ab. Direkt daneben erstreckte sich der Limberg, eine Erhebung, die nachhaltig das Landschaftsbild prägte. Er schwenkte seinen Arm weiter und zeigte, wo die Völklinger Hütte lag. Weiter links zeichnete sich der Hoxberg ab, dahinter reichte die Sicht bis Riegelsberg.

Das Saarland erstreckte sich fächerförmig in sanften, grünen Hügeln und Tälern. Friedlich sah es von dort oben aus. Die Luft war warm und angereichert mit Blütenduft. Die Atmosphäre brachte Ruhe in ihn. In seiner Heimat hatte er sich nie die Zeit gegönnt, einmal ins Grüne zu fahren und auszuspannen. Wie gut ihm dieser Kontrast zu seiner Arbeit und zum hektischen Leben in der Stadt tat, spürte er jetzt.

»Margaretha von Lidermont ist in der Tat die Namensgeberin des Kreuzes. Sie war eine Gräfin«, erklärte Georg Morgett weiter. »Eine Legende um ihren Sohn Ritter Maldix beherrscht die Gegend des Litermonts. Man sagt, dass Ritter Maldix am Karfreitag unerlaubterweise auf die Jagd nach einem weißen Hirsch geritten sei. Dabei stürzte er mit seinem Ross an dieser Stelle in die Tiefe.«

Er zeigte auf den Abgrund direkt an der Aussichtsplattform. Steil und bedrohlich lagen die Felsen unterhalb des Kreuzes.

»Welche Ironie«, schüttelte Anke den Kopf. »Und heute ist wieder ein Mensch an dieser Stelle zu Tode gekommen.«

»Diese Gegend ist sagenumwoben. Im vierzehnten Jahrhundert stand hier einmal eine Burg, die durch kriegerische Auseinandersetzungen zwischen dem Herzog von Lothringen und dem Trierer Erzbischof zerstört worden war. Ein unterirdischer Gang führte angeblich vom Litermont unter der Saar hindurch zum Limberg, und von dort weiter zur Siersburg. Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte.«

»Das hört sich interessant an, aber in unserem Fall hilft es nicht weiter«, unterbrach Erik.

Anke stieß ihn unsanft an, aber Erik entgegnete: »Ich muss hier und jetzt ermitteln, nicht im vierzehnten Jahrhundert.«

Dem konnte Anke nicht widersprechen.

Gemeinsam traten sie auf das Ende der Plattform zu und überprüften, ob von diesem Standpunkt aus der Baum, unter dem die Leiche lag, zu erkennen war. Das war er nicht.

Anke stieg über das schützende Geländer auf den Felsen und blickte hinab. Erst jetzt hatte sie freie Sicht bis zu der Fundstelle. Direkt vor ihr klafften große, graue Felsen auseinander. Ein Sturz von dieser Stelle könnte durchaus in der Nähe der Buche, unter der die Leiche lag, enden. Es bestand allerdings auch die Gefahr, zwischen den Felsen stecken zu bleiben. Wer sich hier in die Tiefe stürzte, musste äußerst verzweifelt sein.

»Anke, tu es nicht!«, rief Erik, als er sah, wo sie sich befand. »Es hat hier schon genug Tote gegeben.«

»Keine Sorge, ich habe nur ermittelt. Aber du solltest nicht alles ins Lächerliche ziehen.«

Sie verließen die Plattform.

Förster Morgett war an den Platz zurückgekehrt, von dem aus er das Treiben der Polizisten weiter beobachtete.

Anke und Erik setzten sich zu den Kollegen der Spurensicherung auf die Holzbank. Der süße Duft der weißen Blüten stieg Anke in die Nase. Hier lässt es sich aushalten, dachte sie. Der Abstand zur Leiche war groß genug. Die Natur machte ihr die unangenehme Arbeit leichter. Von dort konnten sie die Arbeit des Entomologen genau überblicken. Es war aufwändig, in diesem unwegsamen Gelände alle Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, damit die Maden nicht zerstört wurden. Hektisch bewegte sich der knochendünne Mann. Mit Händen und Füßen wies er seine Mitarbeiter in ihre Arbeit ein. Ständig schüttelte er den Kopf, fasste sich mit einer Hand an die Stirn, als sei er keineswegs zufrieden. Hinzu kam noch seine Brille, die ihm ständig von der Nase rutschte.

Theo kam den Berg hinaufgeklettert. Entnervt schüttelte er den Kopf und meinte: »Mit dem Mann ist nicht zu arbeiten.«

»Warum?«

»Weil er keine Ruhe geben kann.«

»Das sieht man. Was ist mit ihm los?«, fragte Erik.

»Er ist hyperaktiv«, erklärte Theo. »Seine Mutter war auch schon hyperaktiv.«

»Und so etwas überträgt sich?« Erik schmunzelte, weil er Theos Worte nicht ernst nahm.

»So, wie ich das sehe, ja. Seine Mutter hatte den wichtigsten Termin ihres Lebens verpasst, als sie mit ihm schwanger war – ihren Hochzeitstermin. Sie war in Amerika auf einer Schulung und kam zu spät zurück. Ihr Bräutigam hat kurze Zeit später eine Frau geheiratet, die ihre Termine besser im Griff hatte.«

»Das ist jetzt ein Witz«, begann Erik zu zweifeln.

»Nein, das ist wirklich so geschehen. Wer weiß, vermutlich hat sich diese Erfahrung auf den Sohn übertragen. So, wie sich Ralf manchmal aufführt, bekomme ich den Eindruck, dass er in ständiger Angst lebt, einen wichtigen Termin zu verpassen.«

»Das heißt, dass Sie nicht nur den Entomologen, sondern auch seine Mutter kennen?«

»Genau das. Seine Mutter und meine Frau suchen denselben Frisörsalon auf.«

»Im Saarland kennt wirklich jeder jeden«, staunte Erik. »Ich habe diese Aussage bisher nicht ernst genommen, weil ich dachte, es sei die blanke Übertreibung. Aber jetzt werde ich eines Besseren belehrt.«

Sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Entomologen und sein Team. Deren Arbeit war beendet. Mit unbeholfenen Schritten stolperte Dr. Wedick den Hang hinauf und eilte den Leichenträgern entgegen, die für den Transport einen Trampelpfad benutzten, der leichter zu bewältigen war.

Nachdem sie den Tatort verlassen hatten, setzte sich auch Förster Morgett in Bewegung. Doch bevor er sich entfernte, trat er auf Anke zu und meinte augenzwinkernd: »Unterhalb des Kreuzes gibt es ein Lokal mit dem Namen ›Maldix‹. Das wäre ein geeigneter Ort, um eine Ruhepause einzulegen.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er davon.

Seine Vertraulichkeit brachte Anke zum Schmunzeln.

Erik murrte: »Was glaubt der, wer er ist? Wir haben auch nichts Besseres zu tun, als auszuruhen.«

»Hey! Was ist los mit dir?« Anke stieß ihn an die Schulter. »Sei froh, dass es auch noch freundliche Menschen gibt auf der Welt.«

»Klar. Und das im Saarland, wo jeder einen kennt, der einen kennt, der ihn kennt.«

»Wärst du nur im deutschen Chicago geblieben.«

*

Im Büro herrschte große Aufregung. Jürgen Schnur war bei der Durchsicht der Akten der Familie Jennewein auf ein tragisches Ereignis gestoßen, das schon Jahre zurücklag. Die Kollegen platzten vor Neugier, aber Jürgen beschloss, mit seiner Verkündung zu warten, bis sie vollzählig waren. Forseti empfing Erik und Anke ungeduldig, bat sie umgehend zu seiner Dienstbesprechung.

»In der Familie gibt es ein großes Geheimnis«, begann Jürgen, auf Wirkung bedacht.

»Mach es nicht so spannend.«, reagierten die Kollegen prompt.

»Es gibt eine alte Akte über Isolde Jennewein und ihre Tochter Nadine.«

»Warum erfahren wir erst jetzt von dieser Akte?«, fragte Forseti gereizt.

»Es war kein Tötungsdelikt, deshalb ist die Akte nicht bei uns. Trotzdem erinnere ich mich, dass unser ehemaliger Chef, Norbert Kullmann, in die Ermittlungen involviert war«, erklärte Jürgen.

»Komm zur Sache!«

»Ich habe hier einige Abschriften der Akte, die Kullmann selbst angelegt hatte. Darin las ich, dass am ersten April 1993 die Tochter von Isolde Jennewein, Nadine Kruchten, als vermisst gemeldet worden war«, las Jürgen vor.

»Vermisst?«, hakte Forseti nach.

»Zunächst. Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass es sich um eine Entführung handelte.«

Die Wirkung dieser Neuigkeit blieb nicht aus. Alle sprachen vor Aufregung gleichzeitig. Doch Forseti gelang es, den Geräuschpegel zu dämmen, indem er laut fragte: »Wie ging diese Entführung aus?«

Jürgen las vor, was in den wenigen Unterlagen stand, die er zur Verfügung hatte. Anschließend fügte er an: »Ich habe Vater und Tochter Jennewein dazu befragt, aber sie haben sich nur widerstrebend geäußert. Deshalb bittet unser Aktenführer Manfred Feuer – oder Fred Feuerstein, wie wir ihn kennen – die Kollegen des Kommissariats ›Entführung, Erpressung, Geiselnahme‹, die für den Fall zuständig waren, uns die vollständige Akte herauszusuchen. Dann wissen wir mehr.«

»Wo ist die Familie Jennewein jetzt?«, fragte Anke.

»Dr. Jennewein befindet sich immer noch im Vernehmungsraum«, erklärte Forseti. »Samantha ist nicht mitgekommen.«

»Und Nadine?«

»Nadine ist ebenfalls nicht zur Befragung mitgekommen. Wo sie ist, wissen wir nicht.«

Eine Weile fielen alle in Schweigen. Anke erinnerte sich an die düstere Ausstrahlung der jungen Nadine. Sie spiegelte ihr tragisches Leben wider.

In dieser Stille klopfte es an der Tür. Staatsanwalt Emil Foster trat ein.

»So, wie die Dinge liegen, werde ich mit Ihnen zusammenarbeiten«, erklärte er seinen Besuch. »Die Entführung von 1993 wirft neue Fragen auf.«

»Wir werden Nadine Kruchten als Entführungsopfer befragen müssen«, entschied Forseti. »Anke, das tun Sie.«

Anke fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, Nadines alte Wunden aufzureißen. Die Erinnerung an das Gespräch vom Vortag hatte sie mehr verwirrt, als sie zuzugeben bereit war. War sie wirklich in der Lage, Informationen von dieser verstörten jungen Frau zu bekommen? Fragend schaute sie zu Foster, den sie durch ihre Zusammenarbeit mit Kullmann bestens kannte. Foster nickte zustimmend. Also konnte sie sich der Anordnung ihres Vorgesetzten nicht entziehen.

»Ich schlage vor, Norbert Kullmann zu konsultieren. Er hat damals den Fall bearbeitet«, verkündete Foster. »Wie ich meinen ehemaligen Weggefährten kenne, wird er bereit sein, uns zu unterstützen.«

»Wie ist es möglich, dass Kullmann, der Leiter der Dienststelle für Kapital- und Sexualdelikte, an einem Entführungsfall mitgearbeitet hat?«, fragte Forseti.

»Zur damaligen Zeit oblagen sämtliche Dienststellen, die heute auf die Landespolizeidirektion und das Landeskriminalamt verteilt sind, ausschließlich dem Landeskriminalamt. Im Jahr 1992 gab es eine Polizeireform, um Arbeitsplätze einzusparen. Damals wurden mehrere Polizeidienststellen zusammengelegt, was chronische Unterbesetzung zur Folge hatte. In großen Ermittlungsverfahren mussten Beamte aus anderen Ressorts hinzugezogen werden. Deshalb haben die entsprechenden Mitarbeiter Kullmann um Unterstützung gebeten«, erklärte Foster.

»Das hört sich nach einem Aufschwung für Verbrechen an«, stellte Forseti fest.

»Leider hatte es genau das zur Folge. Deshalb gab es nach dem Regierungswechsel im Herbst 1999 eine neue Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums über Organisation und Aufgabenverteilung der Polizei.«

»Wir müssen die Kollegen zu den Ermittlungen hinzuziehen, die damals an dem Fall gearbeitet haben – sofern noch alle Kollegen im Dienst sind«, ordnete Forseti an.

»Ich kümmere mich darum«, erklärte sich Esther bereit.

»Sie hatten von mir den Auftrag bekommen, den Aufenthaltsort von Isolde Jenneweins Mutter herauszufinden«, erinnerte Forseti.

Esther erklärte zerknirscht: »Es tut mir leid, aber eine Maria Kauz ist nirgends registriert.«

»Haben Sie bei Interpol nachgefragt, ob sie womöglich im Ausland straffällig geworden ist?«

»Auch das habe ich getan – nichts.«

Forseti zuckte mit den Schultern. »Wenn sie nicht hier ist und auch nicht in greifbarer Nähe, ist sie für unsere Ermittlungen nicht von Bedeutung.«

Esther atmete erleichtert durch.

»Die bisher einzigen Verdächtigen in unserem Fall sind Dr. Jennewein und seine beiden Töchter.« Forseti schaute zum Staatsanwalt, bevor er weitersprach: »Ich beantrage eine Hausdurchsuchung.«

Staatsanwalt Foster nickte: »Gut. In diesem Fall ist das Amtsgericht in Saarlouis zuständig. Ich werde dort den Antrag stellen.«

Forseti nickte.

»Die Familienmitglieder müssen einzeln vernommen werden«, sprach Foster weiter.

»Wir sind dabei. Dr. Jennewein hat sich bereiterklärt, mit uns zu kooperieren«, erklärte Jürgen.

»Bernhard Diez, Sie werden mit Samantha sprechen«, ordnete Forseti an. »Egal wo, ob hier oder bei ihr zu Hause. Esther, Sie sehen im Internet nach, ob Arthur Jennewein und seine Tochter Samantha aktenkundig sind.«

Bernhard und Esther nickten.

»Nun kommen wir zu unserem nächsten Fall.«

Erik las die wenigen Fakten, die sie bisher über den Fall Roswitha Loew am Litermont-Kreuz zusammengetragen hatten, laut vor.

»Das ist nicht viel«, stellte Forseti fest.

»Wie auch«, murrte Erik. »Der Mörder hat keine Visitenkarte zurückgelassen.«

»Im Fall Roswitha Loew müssen wir ebenfalls herausfinden, ob sie aktenkundig ist«, überging Forseti Eriks Einwand.

»Esther Weis, wenn Sie gerade dabei sind, die Familie Jennewein zu überprüfen, dann bitte ich Sie, das Gleiche bei Roswitha Loew zu tun.«, präzisierte Staatsanwalt Foster die Anordnung.

»Förster Morgett, der die Tote am Litermont-Kreuz gefunden hat, muss unter die Lupe genommen werden«, übernahm Forseti wieder das Wort. An Erik gewandt fügte er an: »Das übernehmen Sie. Notfalls befragen Sie ihn noch mal.«

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