Kitabı oku: «Kullmann und die Schatten der Vergangenheit», sayfa 4

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Anke bekam den Eindruck, als wollte sich Forseti mit Foster messen. Es passte ihm nicht, dass sich der Staatsanwalt persönlich an der Dienstbesprechung beteiligte, weil die Position Fosters unzweifelhaft die bessere war. Bekanntlich war die Staatsanwaltschaft die Mutter des Verfahrens. Daran konnte selbst Forseti vom BKA nichts ändern.

Während sie die beiden Männer beobachtete, überlegte Anke wieder, welchen Grund Forseti gehabt haben könnte, vom Bundeskriminalamt zur Kriminalpolizeiinspektion nach Saarbrücken zu wechseln. Bedeutete diese Versetzung keine Verschlechterung seiner weiteren Laufbahn? Leider war Forseti nicht so mitteilungsbedürftig wie Kullmann. So blieb ihr nur zu vermuten, was seine Beweggründe waren.

»Ich werde jetzt mit Dr. Jennewein sprechen«, verkündete Forseti, während er die Papiere auf seinem Schreibtisch zusammenpackte.

Damit gab er zu verstehen, dass die Besprechung beendet war.

Jürgen machte sich auf den Weg zum Aktenführer Fred Feuerstein. Der alte Kollege konnte viel aus seinem reichen Erfahrungsschatz langer Dienstjahre erzählen. So wurde das staubige Aktensuchen erstaunlicherweise zu einem erfreulichen Erlebnis. Aber dieses Vergnügen würde nicht mehr lange Bestandteil ihrer Arbeit bleiben. Es war unvermeidlich, dass im Zeitalter der Computer und der ständigen Weiterentwicklung der Technologie alte Arbeitsmethoden wie die Aktenablage abgeschafft wurden. Für Fred Feuerstein war es eine glückliche Fügung, dass seine Dienstzeit genau zu dieser Zeit zu Ende ging. Mit seinem Weggang würde ein Repräsentant der guten alten Zeit, eine Seele von Mensch, ein Mitarbeiter, der eine staubige und langweilige Arbeit in eine schwungvolle und interessante verwandelte, der jedem die Arbeit zum Vergnügen machen konnte, die Dienststelle verlassen. Zwar verbesserte sich die Effektivität ihrer Arbeit durch die Computersysteme, aber der menschliche Faktor blieb dahinter zurück.

Anke beneidete Jürgen um seinen Auftrag, im alten Archiv zu wühlen. Seit ihrem Gespräch mit Nadine war sie sich nicht sicher, ob es ihr gelingen würde, bis zu dieser Entführungsgeschichte vorzudringen. Vielmehr ahnte sie, dass Nadine alles verdrängt hatte. Ihre Andeutung ›Da ist ein schwarzes Loch‹ gab Anke einen deutlichen Hinweis darauf. Zunächst musste sie jedoch herausfinden, wo sie sich aufhielt. Dazu fielen ihr nur Großvater Jakob und der von Nadine erwähnte Stall ein, in dem ihr Pony untergebracht war. Dort wollte sie zuerst suchen.

Kapitel 6

Samantha stand im Flur und telefonierte. Nadine lauerte am oberen Ende der Treppe darauf, dass sie endlich verschwinden würde. Sie wollte ihr nicht begegnen, weil sie ahnte, dass Samantha Schuld am Tod ihrer Mutter hatte. Samantha jagte ihr schon lange Zeit Angst ein. Von Anfang an hatte sie deutlich gezeigt, dass sie Nadine und ihre Mutter in dem Haus nicht duldete. Sie hatte auch schon viele arglistige Versuche unternommen, sie zu vertreiben. Aber es war ihr nicht gelungen – bis jetzt! Mit Isoldes Tod war Samantha eine von ihnen für immer losgeworden. Was hatte sie sich für Nadine ausgedacht? Sie ebenfalls zu töten? Zuzutrauen wäre es ihr.

Zu Nadines Leidwesen telefonierte Samantha lang. Das Warten gab Nadine die Gelegenheit, über ihre unangenehme Situation nachzudenken. Wenn sie sich dem Kampf gegen Samantha stellen wollte, musste sie über ihr eigenes Leben besser informiert sein. Leider war da dieses schwarze Loch in ihrer Vergangenheit. Egal wie sehr sie sich anstrengte, diese große Lücke in ihrem Leben zu schließen, es gelang ihr nicht. Sie sah nichts. Heute glaubte sie, den Grund dafür zu wissen. Es hatte mit Samantha zu tun. Sie war so böse, dass sich Nadine vor der Erinnerung fürchtete. Der Tod ihrer Mutter gab Nadine die Bestätigung dafür, dass Samantha zu allem fähig war.

»Ich war perfekt. Es hat alles bestens funktioniert … Na klar. Du auch.«

Nadine zuckte zusammen, als sie diese Worte hörte. Das war die Bestätigung – jetzt konnte sich Nadine ganz sicher sein, wer hinter dem Tod ihrer Mutter steckte. Grimmig wartete sie darauf, dass Samantha in den Hörer flötete, wie sie als Nächstes Nadine aus ihrem Leben schaffen wollte. Sie fröstelte bei dem Gedanken, mit dieser gefährlichen Person unter einem Dach leben zu müssen.

Endlich war Samantha fertig und legte auf. Sie zog ihre Stöckelschuhe an und stolzierte aus dem Haus.

Nadine wartete, bis die Tür zuschlug, bevor sie die Treppe hinunterging. Sie warf einen Blick durch das Fenster nach draußen. Die Sonne schien, ein kleiner Trost. Schnell zog sie sich ihre Wanderschuhe an und machte sich auf den Weg. Wie so oft spazierte sie über Felder und Wiesen zum Litermont. Die Waldwege führten steil bergauf. Nadines Kondition war gut, weil sie die Strecke schon oft zurückgelegt hatte. Trauer erfüllte sie bei dem Gedanken, dass sie früher mit ihrer Mutter gemeinsam den Anstieg erklommen hatte. Gerne hatten sie sich an der Aussichtsplattform des Litermont-Kreuzes niedergelassen, um dort abzuschalten, ungestörte Momente miteinander zu verbringen – die einzigen, die sie ohne die ständigen Einmischungen Samanthas erlebten.

Heute wollte Nadine an dieser Stelle ihren quälenden Traum vergessen. Sie wollte sich auf den höchsten Punkt des Berges stellen, die frische Luft einatmen und versuchen, die schrecklichen Bilder, die sie seit dieser verhängnisvollen Nacht verfolgten, zu verscheuchen.

In ihrem Traum hatte sie ein Baby gehört, das entsetzlich weinte. Es schrie endlos lang und laut. Nadine wurde von dem Geschrei magisch angezogen, folgte ihm, bis sie im Speicher angekommen war. Dort sah sie eine Frau, die ihr Baby am Querbalken aufhängte. Sie musste den Kopf des schreienden Bündels nur noch durch die todbringende Schlinge ziehen. Erschrocken stieß Nadine einen Laut aus. Da erst bemerkte die Frau ihre Anwesenheit. Als sie aufschaute, erkannte Nadine ihre Stiefschwester Samantha. Mit wütenden Schritten stampfte sie auf Nadine zu und drohte: »Du bist die Nächste! Du bist die Nächste!«

Schweißgebadet war Nadine aufgewacht.

Nun hatte sie nur noch das Ziel, sich von ihrer inneren Anspannung zu befreien. Und welcher Ort kam dafür besser in Frage als das Litermont-Kreuz.

An diesem Tag wurde sie enttäuscht. Als sie sich der Plattform näherte, sah sie ein grünweißes Absperrband der Polizei und einen Polizisten dort stehen, der sofort auf sie zukam und in unfreundlichem Ton zu verstehen gab: »Du darfst hier nicht hin.«

»Warum?«

»Hier wurde eine tote Frau gefunden.«

»Oh!« Nadine erschrak. Gleich zwei Tote in einem kleinen Ort wie Nalbach – in dieser kurzen Zeit?

Sie schaute sich um, sah die Felsen, sah das Kreuz und erschauerte bei dem Gedanken, dass dieser Ort, der für sie eine Zuflucht bedeutete, zum Verhängnis für einen anderen Menschen geworden war. Aber lag es nicht gerade an dem Geheimnis – der alten Legende –, das diesen Ort nicht nur mystisch, sondern besonders anziehend für Nadine machte?

»Was ist?«, unterbrach der Polizist Nadines Gedanken. »Willst du hier Wurzeln schlagen?«

»Wer wurde hier gefunden?«, fragte Nadine statt einer Antwort.

»Ganz schön neugierig, was?« Der Polizist räusperte sich. »Das darf ich nicht sagen.«

Nadine kehrte um – enttäuscht und aufgerüttelt zugleich. Nun blieb ihr nur noch ein Ort, an dem sie sich von ihren inneren Anspannungen befreien konnte: der Stall ihres Großvaters. Zwischen den Gänsen, Ziegen und ihrem Pony Falada. Auf der Wiese, die geschützt hinter einem Buchenwäldchen lag, war sie immer allein, weil sich niemand die Mühe machte, sie in der Abgeschiedenheit aufzusuchen.

Für den Rückweg wählte sie nicht den gleichen Weg, den sie zum Gipfelkreuz eingeschlagen hatte. Gut genug kannte sie sich hier aus, um genau zu wissen, dass gerade die verbotenen – und wegen der Touristen mit Holzplanken verbarrikadierten – Wege die abenteuerlichsten waren. Sie kraxelte durch dichte Hecken; schon stand sie vor einem steilen Abhang. Dort kletterte sie über die Absperrung. Sie musste vorsichtig ihre Füße auf den sandigen, schrägen Boden setzen, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Sie fühlte sich mutig und toll, wie sie so nah am Abgrund balancierte.

Plötzlich – wie aus dem Nichts – stand ein Mann vor ihr.

Nadine erschrak, stieß einen Schrei aus. Der Mann wirkte ungepflegt, bleckte gelbe Zähne, während er sagte: »Nur mit der Ruhe, Mädchen. Ich tu dir nichts.«

»Wer sind Sie?«

In seiner fleckigen, grünen Jacke und seiner Kopfbedeckung mit einem abgeschabten Gamsbart hätte Nadine ihn fast für einen Jäger gehalten, würde er sich nicht so unter ihren Blicken winden.

»Ich bin ein Naturliebhaber.« Er grinste boshaft. »Und ein großer Tierfreund. Mehr soll dich nicht interessieren.« Als er sich zur Seite drehte, um an ihr vorbeizukommen, ohne in die Tiefe zu stürzen, sah sie eine Waffe auf seinem Rücken. Also fragte sie lieber nicht weiter.

Erleichtert atmete sie auf, als er aus ihrem Blickfeld verschwunden war. So viel Abenteuer hatte sie nicht erwartet. Umso besser fühlte sie sich, als sie an Opas Stall ankam und Faladas Wiehern hörte. Zufrieden öffnete Nadine den Holzschuppen und ließ alle Tiere hinaus in die Sonne laufen. Das Pony beschnupperte sie zuerst und verlangte seine Streicheleinheiten, bevor es den anderen Tieren folgte.

Am Rand der Koppel stand ein Baumstumpf. Nadine stellte darauf und blinzelte in die Sonne. Die Stille, die Wärme, die frühlingshaften Düfte ließen sie den Schrecken über ihre seltsame Begegnung auf dem Litermont vergessen.

Dafür rückten die beängstigenden Eindrücke ihres Albtraums stärker in ihr Bewusstsein. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, waren es nicht nur die Bilder, die sie beunruhigten, sondern auch die Botschaft, die hinter dem Traum steckte. Instinktiv wusste Nadine, welche Pläne Samantha schmiedete. Würde ihr jemand von der Polizei glauben, wenn sie ihnen berichtete, was sie wusste? Nach genauer Überlegung musste sie sich eingestehen, dass sie eigentlich nichts wusste, sie ahnte es nur. Entmutigt ließ sie sich auf dem Baumstumpf nieder und ließ die sommerliche Wärme auf sich einwirken.

Kapitel 7

Anke fuhr nach Nalbach, in die Etzelbachstraße, in der Nadines Großvater lebte. Am Hubertusplatz hielt sie an, um die Hinweisschilder zu studieren. Zum Glück musste sie nicht lange suchen. Die Überschaubarkeit dieses Dorfes gefiel ihr. Während sie gemächlich durch die ruhigen Straßen rollte, überlegte sie, ob es für sie und ihre Tochter nicht angenehmer wäre, in einem Dorf wie Nalbach zu leben. Vermutlich gab es dort viele Kinder in Lisas Alter. In der Stadt lebten die Kinder viel zu weit auseinander; immer musste jemand mit einem Auto zur Stelle sein, damit sie sich gegenseitig besuchen konnten. Im Dorf war es bestimmt leichter. Einige Kinder rannten über die Straße, die sie gerade entlangfuhr. Sie hatte ihr Tempo herunter gedrosselt, damit keine Gefahr für die Kleinen bestand. Andere spielten laut schreiend auf einem großen Spielplatz, ein Treiben, das Ankes Herz höher schlagen ließ. Hier kam es ihr so vor, als sei die Welt noch in Ordnung. Die Sonne schien von einem makellos blauen Himmel, die Temperaturen waren angenehm, die Natur erwachte zu neuem Leben. Zwei Reiterinnen ritten über einen Schotterweg, der parallel zur Straße verlief. Dabei unterhielten sie sich. Wie gerne wäre Anke eine von ihnen.

Sie erreichte das Haus, in dem Nadines Großvater Jakob Jennewein lebte. Es war ein großes, gepflegtes Zweifamilienhaus. Auf der unteren Klingel stand der Name, den Anke suchte. Dort drückte sie drauf. Schon nach kurzer Zeit öffnete ihr ein alter, kleiner Mann. Er schaute Anke erstaunt an, ließ seinen Blick an ihr herunter- und wieder hinaufwandern, dass es Anke mulmig zumute wurde. Erst anschließend fragte er: »Was will eine schöne junge Frau wie Sie bei einem alten Mann wie mir?«

Unwillkürlich musste Anke lachen. Sie stellte sich vor und erklärte ihr Anliegen. Damit beendete sie das Grinsen im Gesicht des alten Mannes. Plötzlich wirkte er traurig. Es kam Anke so vor, als sei er über dieser Nachricht sogar geschrumpft, obwohl er schon klein genug war.

»Nadine ist bei ihrem Pony. Ich zeige Ihnen, wo der Stall ist.«

Er ging am Haus vorbei in ein kleines Wäldchen. Inmitten dieser Bäume stand ein Stall. Er war aus Holz gebaut und bestand aus einem großen Verschlag, der komplett mit Stroh ausgelegt war. Futterkrippen hingen in verschiedenen Höhen an der hinteren Wand. Ein großer Wasserbehälter stand in der Ecke. Eine einfache, aber effiziente Versorgung verschiedenartiger Tiere.

Ziegen liefen durch das Dickicht, das vor dem Stall wucherte. Dahinter rauschte ein Bach. Gänse wackelten am Wasser auf und ab. Als Anke sich ihnen näherte, wurden sie sofort angriffslustig. Mit weit aufgerissenen Schnäbeln und drohendem Zischen gingen sie auf Anke los. Erschrocken stellte sie sich hinter den kleinen Mann. Der reagierte sofort, brüllte die Gänse an, woraufhin sie sich abwandten und davon watschelten.

»Sie dürfen vor den Gänsen keine Angst zeigen«, erklärte der Alte listig. »Sonst können sie gefährlich werden.«

»Sehr witzig«, stöhnte Anke. »Wie soll das gehen, wenn ich Angst habe?«

»Leute aus der Stadt«, lachte Opa Jakob. »Mit der Natur kennen die sich nicht aus.«

Anke widersprach ihm nicht. Er hatte recht, aber zugeben wollte sie das nicht.

Sie überquerten den Bach an einer Stelle, an der Holzbohlen als Brücke dienten, gingen ein kleines Stück weiter, bis sie eine Wiese erreichten. Dort saß Nadine auf einem Baumstamm. Vor ihr stand ein Schimmelpony. In einiger Entfernung grasten Schafe und Ziegen.

»Jetzt haben Sie meinen gesamten Viehbestand gesehen«, erklärte der Alte. »Sie können sich mit meiner Enkelin unterhalten. So, wie sie dasitzt, würde ich sagen, sie hat Zeit.«

Mit diesen Worten verabschiedete er sich.

Ankes Blick fiel auf die junge Frau. Sie saß im Sonnenschein, hielt ihre Augen auf das Pony gerichtet, wobei sie den Eindruck vermittelte, sie habe Ankes Ankunft nicht bemerkt. Langsam ging Anke auf Nadine zu. Auf ihren Gruß kam keine Erwiderung. Anke setzte sich neben sie auf den breiten Baumstumpf und schaute dem Pony zu. Es war strahlend weiß, so als hätte Nadine es noch vor kurzem gründlich geputzt. Die Wiese leuchtete grün und saftig. Das Pony war so ins Grasen vertieft, dass es nicht bemerkte, was um es herum geschah.

»Falada ist ein schönes Pony«, versuchte Anke, ihr Gespräch einzuleiten. »Wie alt ist es?«

»Fünfzehn.«

»Kennst du das Märchen von der Gänsemagd?«

»Ja. Jeder meint, er müsste mir diese Geschichte erzählen.«

»Gehst du noch zur Schule?«, fragte Anke nach ihrem ersten gescheiterten Konversationsversuch.

»Ja. Ich gehe in die Erweiterte Realschule. Früher hieß sie Sekundarschule – zu der Zeit, als Samantha dort die Lehrer ärgerte.«

Anke musste nicht erst nachrechnen, in welche Klasse Nadine inzwischen gehen müsste, da kam die Antwort schon von selbst: »In der Grundschule habe ich eine Ehrenrunde einlegen müssen. Aber jetzt läuft es ganz gut, ich werde den Abschluss schaffen.«

Eine Weile saßen sie nebeneinander auf dem Baumstamm, schwiegen, beobachteten das grasende Pony, das außer gelegentlichem Schweifschlagen keinerlei Bewegungen machte.

»Wenn Sie mir sagen wollen, meine Mutter hätte sich selbst umgebracht, können Sie gleich wieder gehen«, begann Nadine von allein zu sprechen.

»Nein, das will ich nicht sagen. Es besteht Mordverdacht.«

»Ach? Sie glauben mir also?«

»Wir glauben unseren Fakten«, stellte Anke klar. »Nur leider sagen die uns nicht, wer deine Mutter umgebracht hat. Das müssen wir selbst herausfinden.«

»Da brauchen Sie nicht lange zu suchen. Ich weiß nämlich, wer sie loswerden wollte.«

»Wer denn?«

»Samantha.«

»Das ist eine harte Anschuldigung, Nadine! Was macht dich so sicher?«, stutzte Anke.

»Ich weiß es einfach. Mit Sicherheit hat sie meiner Mutter aufgelauert, als sie im Dunkeln nach Hause kam. Die Gelegenheit war ja so günstig wie noch nie. Dann hat sie sie auf den Speicher gelockt und erhängt«, spekulierte Nadine wild drauflos. »Sie dreht durch; ich habe richtig Angst vor ihr. Sie tut alles, damit wir verschwinden – und das schon, seit wir in diesem Haus wohnen. Sie ist völlig verrückt. Sie schafft es sogar, andere für ihre gemeinen Pläne einzuspannen. Die Männer, die sie verführt, sind ihr verfallen. Die tun alles für sie.«

»Du sagst, dass deine Mutter im Dunkeln nach Hause kam«, knüpfte Anke an diesen Satz an, weil sie befürchtete, dass Nadine Hirngespinste preisgab. »Wo war sie in der Nacht?«

Nadine überlegte eine Weile, bevor sie antwortete: »Meine Mutter hatte am Tag, bevor sie starb, ein Telefongespräch. Das hat sie fürchterlich aufgeregt. Ich habe heimlich gelauscht – das darf aber niemand wissen.«

»Ich verrate es nicht«, versprach Anke.

»Meine Mutter schrie immer wieder: ›Du lügst. Woher willst du das alles wissen? Du warst doch gar nicht dabei!‹ Aber wer auch immer am anderen Ende der Leitung war, er ließ sich nicht abwimmeln.«

»Und weiter?«

»Dann sagte sie: ›Okay, wir treffen uns heute Abend.‹ Die Uhrzeit habe ich nicht verstanden.«

»Und wo wollte sie sich mit dem Gesprächspartner treffen?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Nadine.

»Das ist interessant.«

Nadine schaute Anke eindringlich an, bevor sie meinte: »Ich hoffe, dass Sie Samantha festnehmen. Dann könnten zumindest Arthur und ich eine normale Familie sein.«

Anke spürte, dass das Gespräch einen Verlauf nahm, auf den sie keinen Einfluss hatte. Sie wollte über etwas ganz anderes mit Nadine sprechen. Also machte sie einfach den Versuch und nutzte die kurze Stille, die eingetreten war, um sie direkt anzusprechen: »Wir wissen, dass du vor elf Jahren entführt worden bist.«

Plötzlich stand Nadine von ihrem Platz auf und ging mit hastigen Schritten hin und her. Sie schaute immer wieder von ihrem Pony zu Anke, bis sie innehielt und fragte: »Was soll das nun wieder?«

»Wir ermitteln in alle Richtungen.«

»Wie Ermittlungen sieht das aber nicht aus. Ich habe Ihnen gesagt, wer der Mörder ist – oder besser gesagt die Mörderin. Also tun Sie was und erzählen Sie hier nicht irgendwelche Geschichten.«

»Das ist nicht irgendeine Geschichte«, beharrte Anke.

»Doch!«

»Warum wehrst du dich dagegen?«

»Ich wehre mich nicht dagegen«, blieb Nadine stur. »Ich will nur, dass Sie Samantha festnehmen. Sie bringt am Ende auch noch mich um. Wollen Sie das?«

Anke spürte, dass mit Nadine nicht über ihre Entführung zu reden war.

»Wir befragen Samantha.«

Bevor sie wieder auf das Thema der Entführung zu sprechen kommen wollte, musste Anke sich zuerst erkundigen, ob Nadine damals in Therapie gewesen war. Den Eindruck hatte Anke zwar nicht, aber sie wollte sich absichern. Die Heftigkeit, mit der Nadine sich wehrte, gab ihr zu denken.

Entmutigt erhob sich Anke von dem Baumstamm und trat den Rückweg an.

Zu ihrem Entsetzen standen die Gänse kampfbereit an der Stelle des Bachs, wo Anke ihn überqueren musste. Wie sollte sie an diesem angriffslustigen Federvieh vorbeikommen?

In ihrer Not griff sie nach einem dicken Stein, ging todesmutig auf die Gänse mit ihren weit aufgerissenen Schnäbeln zu, schrie sie heftig an und warf den Stein auf eine, die ihr mit großen Schritten ziemlich nahe kam. Erschrocken drehte sich das Tier um und watschelte davon. Die anderen Gänse eilten hinterher.

Zufrieden mit ihrer Taktik balanciere Anke über die Holzbohlen auf die andere Seite, eilte durch das kleine Waldstück an Opa Jakobs Haus vorbei zu ihrem Auto.

*

Martha und Norbert Kullmann hielten sich zusammen mit Lisa im Garten auf, als Anke dort eintraf. Ein riesengroßes Gebilde aus Holz stand auf dem kleinen Platz hinter der Terrasse. Kullmann arbeitete daran wie ein geübter Handwerker. Die starken Holzstangen zeigten die Form eines Andreaskreuzes. In der Mitte, wo sich die Stangen kreuzten, lag die Querstange auf, an der mehrere Schaukeln befestigt werden konnten. Die Querstange maß eine Höhe von mindestens zwei Meter fünfzig. Lisa war gerade vierzehn Monate alt und achtzig Zentimeter groß.

»Größer ging es nicht mehr«, rief Anke zum Gruß.

»Leider nicht«, grinste Kullmann.

»Erinnert ihr euch, wie alt Lisa ist?«

»Natürlich! Aber erinnerst du dich, dass Kinder älter werden und wachsen?«, widersprach Kullmann.

»Natürlich. Aber die Zweimetergrenze wird Lisa hoffentlich nicht überschreiten.«

»Ich weiß, was ich tue«, bemerkte Kullmann selbstsicher. »Im Katalog habe ich einen Schaukelsack entdeckt, darin kann Lisa jetzt schon schaukeln. Ich bin mir sicher, dass ihr das Spaß macht.«

»Du tust so, als hättest du schon viele Kinder großgezogen.«

»Das nicht. Es macht mir einfach Freude, mich um deine Tochter zu kümmern. Da ich keine eigenen Kinder habe, nehme ich meine Aufgabe als Ersatzopa ernst. Zum Dazulernen ist man nie zu alt.«

»Norbert, wir haben einen Fall, bei dem wir deine Hilfe brauchen«, wechselte Anke das Thema. Mit ihrer Tochter auf dem Arm trat sie auf ihren ehemaligen Chef und Mentor zu.

Kullmann hielt in seiner Arbeit inne und schaute sie an. Sein Gesicht war gerötet, sein Haar zerzaust – ein Anblick, den Anke nicht von ihm kannte. Unwillkürlich musste sie lachen.

»Ich weiß, ich weiß«, knurrte Kullmann. »Ein Beamter sollte die Finger von praktischer Arbeit lassen. Aber ich habe mir vorgenommen, dieses Kunstwerk zu errichten.«

»Dein Ehrgeiz in Ehren – trotzdem bist du immer noch als Polizeibeamter gefragt«, beharrte Anke. »In der Funktion bist du jedenfalls unersetzlich.«

»Wenigstens da. Als Handwerker habe ich selbst meine Zweifel.«

Kullmann wusch sich im Keller die Hände.

»Dann gehe ich mal mit meinen drei Frauen ins Haus«, lachte er verschmitzt.

Anke und Martha amüsierten sich über seine Worte.

Die Pension tat Kullmann gut. Er wirkte ausgelassener und ruhiger als zu Dienstzeiten.

»Um welchen Fall handelt es sich?«, fragte er, als sie in der Küche ankamen.

Anke berichtete ihm die Einzelheiten. Eine Weile überlegte Kullmann, bis er zugab: »Tut mir leid. Ich kann mich nicht erinnern.«

»Foster bittet dich, morgen früh ins Büro zu kommen. Sobald du die Akte gelesen hast, wirst du dich erinnern. Bisher hast du immer bewiesen, dass du ein Gedächtnis wie ein Elefant hast. Deshalb habe ich keinen Zweifel, dass du uns eine große Hilfe sein wirst.«

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