Kitabı oku: «Agro-Food Studies», sayfa 3

Yazı tipi:

Abb. 2.2: Übersicht zum US-zentrierten Nahrungsregime (eigene Darstellung)

2.6 WTO-zentriertes Nahrungsregime (1990er–2010er Jahre)

Vom US-zentrierten Nahrungsregime hob sich das neoliberal ausgerichtete vor allem durch die veränderte Rolle des Staates ab: Verstanden sich Nationalstaaten zuvor als Beherrscher des Marktes, definierte sie der Neoliberalismus nunmehr als dessen Dienstleister. Dementsprechend galt Ernährungssicherheit nicht mehr als unveräußerliches Menschenrecht – so die FAO noch in der Welternährungskrise der 1970er Jahre –, sondern war nach der Lesart der Weltbank in den 1980er Jahren eine Leistung des Weltmarkts. Gemäß dem Grundsatz vom → „komparativen Kostenvorteil“ solle sich jedes Land auf die Güter spezialisieren, die es relativ günstiger herstellen kann, und den restlichen Bedarf über Freihandel decken. Die dafür erforderliche Liberalisierung der Märkte, die exportorientierte New Agricultural Countries (Brasilien, Argentinien, Neuseeland usw.) und transnationale Unternehmen in der Uruguay-Runde des GATT ab 1986 vorantrieben, wurde 1995 im Agreement on Agriculture der neu gegründeten Welthandelsorganisation (WTO) festgeschrieben. Angesichts des Gewichts transnationaler Unternehmen, die sich immer mehr auf den entfesselten Finanzmärkten engagierten (siehe Box 2.5), wird das WTO-zentrierte Nahrungsregime auch als corporate oder flexible food regime bezeichnet (Vorley 2003; McMichael 2013, 47 ff.).

Box 2.5: Parmalat und die „Finanzialisierung“ der Agrarindustrie


Parmalat als Drei-Ebenen-Netzwerk ‚flexibler‘ Kapitalakkumulation (eigene Darstellung nach Langthaler 2010, 160)

Innerhalb des neoliberalen Regelwerks gewannen agroindustrielle Unternehmen zusätzlichen Spielraum. Sie stehen nicht nur im Wettbewerb untereinander, sondern auch mit Nationalstaaten und nichtstaatlichen Organisationen (Non-Governmental Organisations, NGOs). Ein Beispiel stellt die Firma Parmalat dar, die zu einem transnationalen Lebensmittelkonzern aufgestiegen war. Ihre Drei-Ebenen-Netzwerkarchitektur war charakteristisch für die ‚flexibel‘ regulierte Kapitalakkumulation der Globalisierungsära seit den 1990er Jahren: Auf der ersten Ebene generierten ProduzentInnen und KonsumentInnen in verschiedenen Ländern, die über das weitgespannte Verarbeitungs- und Verteilungsnetz auf der zweiten Ebene verknüpft waren, Wertschöpfung. Das parteipolitisch und finanzökonomisch eng verflochtene Kontrollzentrum auf der dritten Ebene (Parmalat Finanziaria) saugte die ‚realen‘ Werte auf und suchte sie im globalen Finanzsystem in ‚virtuelle‘ (Mehr-)Werte zu verwandeln – eine Strategie, die 2003 in einen desaströsen Finanzcrash mündete (van der Ploeg 2008, 87 ff.).

Obwohl die WTO im Agreement on Agriculture die Entfesselung der Weltagrarmärkte auf ihre Agenda setzte (siehe Box 2.6), schlossen protektionistische Regulierung und neoliberale Deregulierung einander nicht aus. So etwa gelang es den USA, der EU und Japan, durch Umschichtungen ihre erheblichen Agrarsubventionen beizubehalten – zum Nutzen von Großfarmern und Agroindustrie. Demgemäß ging die EU in der GAP-Reform von 1992 von mengengebundenen Preissubventionen (amber box) zu von der Produktionsmenge entkoppelten Flächen- und Tierprämien (blue box) und zur Förderung der → Multifunktionalität (siehe Abschnitt 4.2.2) im Rahmen des Programms zur ländlichen Entwicklung (green box) über. Auch die USA, Japan und andere Industriestaaten betrieben reges boxing (Buckland 2004, 97 ff.). Folglich verfehlte der WTO-Zugang zur Ernährungssicherheit das Ziel der Handelsgerechtigkeit mittels Liberalisierung nicht nur, sondern beförderte dessen Gegenteil – die Verfestigung der Benachteiligung der Länder des Globalen Südens gegenüber den Agrarprotektionisten des Globalen Nordens (→ Globaler Süden) (McMichael 2013, 53).

Box 2.6: Handelsströme für Getreide, Ölsaaten und Fleisch 1990–2012 (eigene Darstellung nach www.fao.org/faostat)

Die Wachstumsphase des US-zentrierten Nahrungsregimes mündete in den 1980er Jahren in eine Phase der Stagnation. In diesem Jahrzehnt wuchs die globale Produktion nur langsam und die Nettohandelsflüsse sowohl von Getreide als auch von Ölsaaten und Fleisch blieben weitgehend stabil. Erst in den 1990er Jahren wurde fast zeitgleich mit der GATT-Reform eine neue Dynamik sichtbar, als die Exporte von Ölsaaten und Fleisch mit hohen Raten zu wachsen begannen. Ab der Jahrtausendwende begann dann mit etwas Verzögerung auch der globale Getreidehandel wieder zuzunehmen. Die Getreideexporte wurden weiterhin von Nordamerika dominiert, während Europa zurücktrat und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion zulegten; diese Exporte flossen überwiegend nach Asien und Afrika. Bei den Ölsaaten, vor allem bei Sojabohnen, kam der Zuwachs der Exporte überwiegend aus Südamerika und ging in Richtung der wachsenden Märkte in Asien; auch beim Fleisch entwickelte sich Südamerika zur dominierenden Exportregion und Asien zum größten Absatzmarkt (Krausmann und Langthaler 2016).


Anmerkung: Das Diagramm zeigt die physische Handelsbilanz (Importe minus Exporte). Positive Werte bedeuten Nettoimport, negative Werte Nettoexport.

Das anhaltende Dumping von Agrarüberschüssen drückte die Weltmarktpreise unter die Produktionskosten. Dies wirkte zwar zum Vorteil transnationaler Handels- und Verarbeitungsunternehmen, benachteiligte jedoch die (klein-)bäuerlichen NahrungsproduzentInnen weltweit, vor allem im Globalen Süden. Laut einer Schätzung der Welternährungsorganisation FAO verloren hier in 16 Ländern 20 bis 30 Mio. Menschen aufgrund der Liberalisierung des Agrarhandels ihre bäuerliche Existenz (Madeley 2000, 75; Patel 2008; Brookfield und Parsons 2007). Viele Entwicklungsländer (→ Globaler Süden) hatten bereits im US-zentrierten Nahrungsregime begonnen, die Exportlandwirtschaft für tropische Güter zu forcieren und Grundnahrungsmittel aus Industrieländern zu importieren. Diese Tendenz verschärfte sich im WTO-zentrierten Regime durch „Strukturanpassungsprogramme“ von Weltbank und Internationalem Währungsfonds zum Schuldenabbau sowie durch → land grabbing durch transnationale Unternehmen im Bündnis mit nationalen Regierungen (Englert und Gärber 2014). Einige Staaten Lateinamerikas und Asiens stiegen als New Agricultural Countries durch Agrarexporte, etwa von Sojabohnen (siehe Box 2.7), zu den global players auf; dies ging jedoch oft zulasten der Ernährungssicherheit der ärmeren, von Nahrungsimporten abhängigen Bevölkerungsklassen. Trotz einzelner Exporterfolge waren Mitte der 2000er Jahre 70 % der Länder des Globalen Südens Nettoimporteure von Nahrungsmitteln. Auf diese Weise wurden sie verletzlicher gegenüber Preisschwankungen auf dem Weltmarkt – wie etwa 2007/08, als die Grundnahrungsmittelpreise binnen eines Jahres auf das Zwei- bis Dreifache hochschnellten (siehe Box 3.2; McMichael 2013, 47 ff.).

Box 2.7: Die Weltkarriere der Sojabohne im 20. Jahrhundert (eigene Darstellung nach Langthaler 2015, 60)

Die Sojabohne, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts ausschließlich in Ostasien angebaut und verbraucht wurde, erfuhr im 20. Jahrhundert eine erstaunliche Weltkarriere. Aufgrund ihres hohen Fett- und Eiweißgehalts wurde die Frucht häufig als „Wunderbohne“ bezeichnet. Im UK-zentrierten Nahrungsregime verliefen europäische Anbauversuche, etwa durch den Österreicher Friedrich Haberlandt in den 1870er Jahren, zunächst im Sand. Doch noch vor dem Ersten Weltkrieg begannen Handelsunternehmen, Sojabohnen(-produkte) aus der – zwischen Russland und Japan umkämpften – nordostchinesischen Mandschurei nach Westeuropa zu verschiffen. Dort diente das Öl als industrieller Rohstoff, etwa zur Seifenherstellung. Im US-zentrierten Nahrungsregime stiegen die USA im und nach dem Zweiten Weltkrieg zum führenden Sojaproduzenten und -exporteur auf. Dabei gewann zunehmend der bei der Ölgewinnung anfallende Ölkuchen als eiweißreiches Futtermittel für den US-amerikanischen, westeuropäischen und japanischen Viehkomplex an Gewicht. Im WTO-zentrierten Nahrungsregime machten Brasilien und andere Staaten Südamerikas den USA die Führungsrolle auf dem Weltmarkt für Sojaprodukte streitig. Als Hauptabnehmer trat neben Europa und Japan nun China, dessen urbane Mittelschichten zunehmend den Fleischkonsum – und damit den Futtermittelverbrauch – in die Höhe trieben. Im Lauf des 20. Jahrhunderts wurde die Sojabohne von einem fernöstlichen Gemüse für den menschlichen Verzehr zu einer ‚verwestlichten‘ Ölfrucht als Quelle für eine Fülle weiterer Produkte: als Pflanzenöl für die menschliche Ernährung, als Rohstoff für die Herstellung verschiedener Industrieprodukte (Farben, Kleber, Kosmetika usw.) und als Futtermittel für die wachsenden Nutzviehherden in Industrie- und Schwellenländern (Langthaler 2015).


Handelsströme von Sojaprodukten 2011

Die De- und Reregulierung im WTO-Regime spaltete den globalen Nahrungsmittelmarkt in ein Quantitäts- und ein Qualitätssegment: Das niedrigpreisige Quantitätssegment herrscht in den südlichen Schwellenländern und den östlichen Transformationsländern, aber auch unter einkommensschwachen Käuferschichten in westlichen Industrieländern vor. Es umfasst vor allem gentechnisch veränderte, agroindustriell verarbeitete und transkontinental gehandelte Waren von Supermärkten und fast-food-Ketten (food from nowhere; Campbell 2009). Das hochpreisige Qualitätssegment, das in den Industrieländern des Nordens eine wichtige Nische im Einzelhandel bildet, umfasst verschiedene Angebote: einerseits tropische Fisch-, Obst- und Gemüseprodukte, die saisonunabhängig über transnationale Vertriebswege in den Einzelhandel gelangen; andererseits saisonale, regionale und Bioprodukte für kaufkräftige und reflektierte KonsumentInnen (food from somewhere; Campbell 2009). Die marktmächtigen Supermärkte machen sich diese Zweiteilung zunutze, indem ihr Angebot beide Segmente zugleich bedient und derart die Kaufkraft der KonsumentInnen – vom exzessiven Fleischkonsum zum differenzierten Speisezettel – umfassender ausschöpft (Weis 2013).

Doch die lohnabhängigen KonsumentInnen von Handelswaren sind weniger zahlreich als die (klein)bäuerlichen, hungergefährdeten NahrungsproduzentInnen, denen das WTO-zentrierte Nahrungsregime die Lebensgrundlage zu rauben droht (siehe Kapitel 7; McMichael 2013, 47 ff.). Derartige Widersprüche, angeheizt durch die Welternährungskrisen von 2007/08 und 2010/11 (Rosin et al. 2012), treten zunehmend in das öffentliche Bewusstsein – etwa in der globalisierungskritischen Bewegung La Via Campesina (van der Ploeg 2008), die der neoliberalen Auffassung von Ernährungssicherheit die → Ernährungssouveränität als Menschenrecht entgegenhält (siehe Abb. 2.3; McMichael 2013, 57).


Abb. 2.3: Übersicht zum WTO-zentrierten Nahrungsregime (eigene Darstellung)

2.7 Es gibt Alternativen

Der Weg von Landwirtschaft und Ernährung im Globalisierungszeitalter folgte keiner zielgerichteten „Modernisierung“ von einem Anfangs- zu einem Endzustand. Vielmehr führte er, mehrmals die Richtung wechselnd, durch unterschiedliche Nahrungsregime: das erste, UK-zentrierte, das zweite, US-zentrierte und das dritte, WTO-zentrierte. Entgegen dem neoliberalen TINA-Prinzip (there is no alternative) ist das gegenwärtig herrschende Nahrungsregime nicht alternativlos. Die neoliberale Strategie, die etwa die WTO vertritt, fordert entsprechend einer produktivistischen Logik den Ausbau des agroindustriellen Modells mittels wissenschaftlich-technischen Fortschritts (z. B. → Gentechnik). Dazu gibt es mehrere Alternativen: Die reformistische Strategie, die etwa viele Aktivitäten der FAO anleitet, sucht die Auswüchse des neoliberalen Regimes mittels Nahrungshilfsprogrammen und der Förderung nachhaltiger Landbewirtschaftung einzudämmen, ohne jedoch die Machtverhältnisse grundsätzlich umzuwälzen. Die progressive Strategie, der → alternative Lebensmittelnetzwerke (z. B. Fair Trade) folgen, sucht innerhalb des herrschenden Regimes Nischen eines gerechten und nachhaltigen Umgangs mit Nahrung auszubauen. Die radikale Strategie, die etwa La Via Campesina vertritt, zielt auf die Aushebelung agroindustrieller Geschäfts- und industriestaatlicher Machtinteressen mittels durchgreifender Ressourcenumverteilung und Demokratisierung. Diese alternativen Strategien unterscheiden sich nicht nur nach Nähe zum und Distanz vom WTO-zentrierten Nahrungsregime, sondern auch im Hinblick auf globale, nationale oder subnationale Denk- und Handlungsansätze (Young 2012, 342 ff.). Eine – wenn nicht die – Existenzfrage der gegenwärtigen Weltgesellschaft und ihrer Umwelt lautet, ob das neoliberale Regime mit seinen sozialen und ökologischen Folgekosten aus der aktuellen Krise gestärkt hervorgeht oder durch ein anderes, etwa der Ernährungssouveränität verpflichtetes Regime abgelöst wird. Darum geht es im Schlusskapitel dieses Buches (siehe Kapitel 9).

Kontrollfragen

Worin besteht das Problem einer modernisierungstheoretischen Sicht der Geschichte und welche Lösung bietet sich dafür an?

Welche Weltregionen sind HauptproduzentInnen und -konsumentInnen der global gehandelten Nahrungsmittelmengen in den drei Nahrungsregimen?

Welche (handels- und währungs-)politischen Institutionen regeln die Produktflüsse in den drei Nahrungsregimen?

Wer sind die treibenden Akteure in den drei Nahrungsregimen?

Aufgrund welcher Widersprüche sind Gegenbewegungen zu den drei Nahrungsregimen entstanden?

Diskussionsfragen

Wer sind GewinnerInnen und VerliererInnen in den drei Nahrungsregimen?

Inwieweit lag bzw. liegt es in der Macht der KonsumentInnen, ein herrschendes Nahrungsregime zu verändern?

Welche Formen von Nahrungsregimen erscheinen aus Sicht unterschiedlicher Akteure (ProduzentInnen im Globalen Norden bzw. Süden, transnationaler Handels- und Verarbeitungsunternehmen, KonsumentInnen im Globalen Norden bzw. Süden usw.) für die Zukunft als wünschenswert?

3. Globalisierung und Regionalisierung

Globalisierte Wertschöpfungsketten verknüpfen arbeitsteilige Produktions- und Verarbeitungsschritte in verschiedenen Ländern und Kontinenten. Die Liberalisierung und Öffnung nationaler Märkte, technische Innovationen und die Nachfrage einer wachsenden Bevölkerung nach günstigen und vielfältigen Lebensmitteln haben zu immer längeren Wertschöpfungsketten geführt. Gleichzeitig bemühen sich immer mehr KonsumentInnen, Betriebe und Initiativen, aber auch ganze Regionen aus unterschiedlichsten Motiven um kurze, regionale Wertschöpfungsketten und deren stärkere Einbettung in regionale Sozialstrukturen. Das Konzept der sozialen Einbettung hilft, Lebensmittelketten und ihre AkteurInnen hinsichtlich der Intensität ihrer sozialen Interaktion zu betrachten. Es verdeutlicht, dass die Zahl der entlang der Wertschöpfungskette interagierenden AkteurInnen sowie deren soziale und geografische Nähe zueinander unterschiedliche Formen der Organisation, Regulierung und Kontrolle bedingen. Das Kapitel präsentiert aus der Perspektive der sozialen Einbettung zunächst Globalisierungs- und Regionalisierungsprozesse getrennt voneinander, um dann die vermeintliche Dichotomie als Kontinuum sozialer Einbettung zusammenzuführen. International vertriebene Lebensmittel mit bekannter geografischer Herkunft zeigen, wie sich Vorteile der Einbettung in regionale Sozialstrukturen mit dem globalen Handel verbinden lassen.

3.1 Einführung anhand des Konzepts der sozialen Einbettung

Supermärkte bieten uns das ganze Jahr günstige Lebensmittel aus unterschiedlichen Teilen der Welt. Was viele als großartige Errungenschaft bewerten, motiviert andere, besonderes Augenmerk auf regional produzierte Lebensmittel zu legen. Galten früher exotische Speisen als Statussymbol, wurden in den letzten Jahren regionale Lebensmittel zur Ausdrucksform eines nachhaltigen Lebensstils besser verdienender und höher gebildeter Gruppen. Aber macht es einen Unterschied, ob wir Lebensmittel von Betrieben aus der Region oder aus anderen Teilen der Welt beziehen? Mithilfe des Konzepts der Einbettung soll der Verknüpfung zwischen Essen und den in konkreten Regionen verankerten menschlichen Beziehungen, ökologischen und institutionellen Strukturen der Lebensmittelversorgung auf die Spur gegangen und eine Auflösung des Gegensatzes zwischen global und regional versucht werden.

Das von Karl Polanyi (2001) geprägte und von der Wirtschaftssoziologie und den kritischen Food Studies neu gedeutete Konzept der Einbettung (→ embeddedness) wird breit genutzt, um Produktions- und Distributionssysteme (auch solche von Lebensmitteln) hinsichtlich ihrer Verankerung in sozialen und institutionellen Strukturen zu beurteilen. Polanyi argumentiert, dass ökonomisches Handeln in vormarktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften in Sozialbeziehungen wie Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Solidarverpflichtungen eingebettet sei. Der Kapitalismus würde – in enger Kooperation mit dem Nationalstaat – wirtschaftliches Handeln zunehmend von sozialen Beziehungen entbetten. Damit kontrastiert er in soziale Beziehungen eingebettete (vorkapitalistische) und entbettete (kapitalistische) Gesellschaften und hinterfragt die auch durch die → Globalisierung vorangetriebene Dominanz des Marktes über die Gesellschaft. Laut Giddens (1995, 33) geht die Globalisierung, welche u. a. durch die Ausweitung der Reichweite individuellen Handelns gekennzeichnet ist, einher mit einer „Entbettung“ des Lebens (disembedding). Darunter versteht er das Herausheben sozialer Beziehungen aus örtlich begrenzten und normativ verfestigten Interaktionszusammenhängen. Zusätzlich wird das Vertrauen in abstrakte Systeme zu einer Voraussetzung für das Funktionieren des Alltags (Giddens 1995).

Granovetter (1985) stellt das untersozialisierte Menschenbild des homo oeconomicus der neoklassischen Ökonomie und einer von sozialen Beziehungen entbetteten kapitalistischen Produktion auf der einen Seite dem übersozialisierten Strukturalismus der Soziologie und dessen Verständnis eines in Verwandtschafts-, Nachbarschafts- und Freundschaftsbeziehungen eingebetteten Warenaustauschs auf der anderen Seite gegenüber. Er argumentiert, dass letztlich alle ökonomischen Transaktionen auf sozialen Beziehungen beruhen und es daher nicht um die Frage geht, ob ein Produktionssystem in soziale Beziehungen eingebettet ist oder nicht, sondern um den Grad und die Art der sozialen Einbettung. Auch unterstreicht er die Bedeutung sozialer Beziehungen für die Schaffung von Vertrauen als Voraussetzung für ökonomische Transaktionen (Granovetter 1985).

In einem gewissen Widerspruch zu Granovetters Argument, dass alle Produktionssysteme sozial eingebettet seien, werden alternative Lebensmittelsysteme, wie Lebensmittelkooperativen, → solidarische Landwirtschaft oder kurze Bio-Wertschöpfungsketten (→ Wertschöpfungsketten), auch als „Wiedereinbettung“ der Lebensmittelversorgung in regional verankerte soziale Beziehungen interpretiert (Raynolds 2000; Hinrichs 2000; Murdoch et al. 2000; Barham 2003; Penker 2006; Morris und Kirwan 2011). Hinrichs (2000) wiederum fordert mit Verweis auf Granovetter (1985), das Konzept differenziert zu verwenden und Einbettung nicht als freundliche Antithese zum Markt zu simplifizieren. Dieses Kapitel folgt Granovetters Argumentation und diskutiert globale und regionale Lebensmittelsysteme entlang unterschiedlicher Gradienten sozialer Einbettung, anstatt sie als entbettet und (wieder) eingebettet gegenüberzustellen.

Demnach gliedert sich dieses Kapitel in drei Teile. Nach einem Einblick in die Globalisierung und die damit einhergehende graduelle Entbettung der Lebensmittelproduktion aus ihrem sozialen, regionalen und ökologischen Kontext widmen wir uns der → Regionalisierung und der stärkeren Wiedereinbettung von Produktions- und Konsumvorgängen in soziale und ökologische Strukturen konkreter Regionen. Zum Abschluss diskutiert dieses Kapitel die wechselseitige Dynamik und Kontinuität zwischen mehr oder weniger eingebetteten Lebensmittelsystemen und greift geografische Herkunftsangaben als Mischform auf, die die Einbettung der Lebensmittelproduktion in regionale Strukturen mit dem internationalen Handel verknüpft.

3.2 Globalisierung – Lebensmittel mit loser Einbettung

Die Globalisierung ist eine vielschichtige Entwicklung, die – je nach Standpunkt und Begriffsverständnis – einige Jahrzehnte, eineinhalb Jahrhunderte oder ein halbes Jahrtausend zurückreicht; eine ihrer Facetten sind die zunehmenden internationalen Verflechtungen entlang der Wertschöpfungskette. In funktionaler Hinsicht besteht die Lebensmittelwertschöpfungskette aus den Stufen der landwirtschaftlichen Produktion, der Verarbeitung, des Handels und des Konsums, welcher in den Haushalten selbst oder außer Haus erfolgen kann. Zur erweiterten Wertschöpfungskette zählen zudem noch Inputs wie Saatgut, Energie oder Mineralstoffdünger sowie Outputs wie Abwässer, Abfälle und Abgase (siehe Abb. 3.1).

Globalisierte Warenketten (→ Wertschöpfungskette) verbinden Wertschöpfungsstufen in verschiedenen Ländern, häufig auch auf unterschiedlichen Kontinenten. Der Warenaustausch entlang globalisierter Ketten erfolgt in der Regel über anonymisierte Austauschbeziehungen; soziale Beziehungen zwischen den AkteurInnen der Wertschöpfungskette treten in den Hintergrund bzw. führen aus der Perspektive der Ökonomie höchstens zu verpönten Preisabsprachen oder anderen Wettbewerbsverzerrungen (Granovetter 1985). Die ökologischen und sozialen Produktionsbedingungen global gehandelter Lebensmittel sind für die KonsumentInnen, wenn überhaupt, nur über Labels oder die von Unternehmen selektiv bereitgestellten Informationen nachvollziehbar.


Abb. 3.1: Lebensmittelwertschöpfungskette (eigene Darstellung in Anlehnung an Strecker et al. 1996)

Die folgenden Abschnitte gehen auf drei wesentliche Triebfedern der Globalisierung ein: technische Innovationen, Liberalisierung des Welthandels und die Nachfrage einer wachsenden Bevölkerung nach ganzjährig verfügbaren, günstigen und vielfältigen Produkten. Im Anschluss widmen wir uns den Voraussetzungen und Folgen globalisierter Lebensmittelsysteme.

3.2.1 Triebkräfte der Globalisierung

Technische Innovationen

Seit Tausenden von Jahren gibt es transkontinentale Handelswege für den Austausch wertvoller Gewürze. Der zunächst mit Zugtieren betriebene Transport über Land und Kanäle wurde im 19. Jahrhundert durch dampfbetriebene Lokomotiven und Hochseeschiffe ergänzt und schließlich weitgehend durch den motorisierten Massentransport auf der Straße, den Weltmeeren und in der Luft abgelöst. Erst diese technischen Innovationen und die damit in Verbindung stehende Verbilligung des Transports haben den Handel großer Mengen und vielfältiger Lebensmittel ermöglicht.


Abb. 3.2: Handel ermöglicht die Spezialisierung von Regionen auf spezifische Produkte (erste Phase der Globalisierung)

Durch den Austausch von Massengütern konnten sich in der ersten Phase der Globalisierung (etwa von den 1870er Jahren bis in die 1920er Jahre, vgl. Kapitel 2) Betriebe spezifischer Regionen auf jene Produkte spezialisieren, die sie am besten und billigsten bereitstellen konnten (Weizenregion, Zuckerregion; siehe auch Abb. 3.2). Agrarbörsen und große Warenumschlagsplätze unterstützten diesen Spezialisierungsprozess, der auf der Nutzung von Standortvorteilen beruht, wie etwa für ein bestimmtes Produkt besonders günstige Kostenstrukturen, besonders geeignete Böden oder klimatische Bedingungen. Zudem erlaubte diese Spezialisierung die Nutzung von Skalenvorteilen. Je größer die produzierte Menge eines spezifischen Produktes, desto billiger wird die einzelne Einheit aufgrund der anteilsmäßig abnehmenden Fixkosten und desto eher können Betriebe in spezialisiertes Personal und neue Technologien investieren und ihren Wettbewerbsvorsprung ausbauen.

In der zweiten Phase der Globalisierung (etwa seit den 1950er Jahren) haben Entwicklungen in der EDV-gestützten Logistik und noch effizientere Transportsysteme die optimierte Erzielung von Kostenvorteilen in den einzelnen Schritten der Produktion, Verarbeitung, Lagerung und Paketierung ermöglicht. So können regionale Wettbewerbsvorteile – absolute oder auch relative (komparative) – für einzelne Schritte der Wertschöpfungskette genutzt werden, sodass eine Wertschöpfungskette Betriebe verschiedener Länder oder unterschiedlicher Kontinente verbinden kann. Regionen und ihre Betriebe spezialisieren sich auf bestimmte Funktionen und nicht mehr auf bestimmte Produkte (vgl. Box 3.1).

Box 3.1: Rind- und Kalbfleischproduktion als Beispiel für arbeitsteilige Wertschöpfungsketten in der zweiten Phase der Globalisierung

Ein Stierkalb einer bayerischen Milchkuh hat u. U. einen amerikanischen oder niederländischen Vater. Besamungszucht-Unternehmen in diesen Ländern sind spezialisiert auf den Export von Stiersamen, der die Aufzucht von Kühen mit einer hohen Milchleistung verspricht. Dieses männliche Kalb findet im spezialisierten bayerischen Milchbetrieb keine Verwendung und wird daher z. B. nach Frankreich exportiert, dort mit nährstoffreichem Milchaustauscher gemästet und schließlich als Kalbfleisch vermarktet. Dasselbe Kalb könnte aber auch nach Spanien exportiert und dort mit aus Südamerika importiertem, gentechnisch verändertem Sojaschrot gemästet, geschlachtet und zu Rindfleisch verarbeitet werden. Während die Edelteile in Spanien oder Frankreich bleiben, kommen weniger begehrte Teile nach Afrika, Osteuropa oder Asien, von wo allenfalls wieder Verarbeitungsprodukte wie Gelatine, Collagen oder Fleischextrakte nach Europa exportiert werden.

Außer durch neue Transporttechnologien wurde der Warenaustausch auch durch Innovationen der Lebensmitteltechnologie unterstützt. Neue Konservierungstechniken und Zusatzstoffe wie Stabilisatoren, Antioxidantien, Emulgatoren, Feuchthaltemittel oder Säureregulatoren ermöglichten den Austausch verderblicher Waren auch über längere Distanzen und Zeiträume unter weitgehender Beibehaltung der Konsistenz, des Geschmacks und Geruchs des Lebensmittels.

Van der Ploeg (2010) weist darauf hin, dass multinational agierende Agrarunternehmen über einen bevorzugten Zugang zu technologischen Innovationen verfügen, was einer Industrialisierung und Standardisierung der Lebensmittelproduktion sowie einer weiteren Machtverschiebung Vorschub leistet. Der Handlungsspielraum der bäuerlichen Betriebe verengt sich, da sie von beiden Seiten, durch mächtige und transkontinental agierende Zulieferunternehmen von Vorleistungen für die landwirtschaftliche Produktion (Saatgut, Dünger, Medikamente etc.) und durch den hoch konzentrierten Handel, unter Druck geraten. Kontextspezifisches, informelles Wissen der Bäuerinnen und Bauern wird entwertet und durch standardisierte Praktiken der Landnutzung und Tierhaltung ersetzt. Bäuerliche Betriebe finden sich in einem „technologischen Hamsterrad“ wieder (Levins und Cochrane 1996). Neue Technologien führen zu Überproduktion und fallenden Preisen. Landwirtschaftliche Betriebe müssen kontinuierlich investieren, um ihre Produktion weiter zu steigern, ohne je selbst ausreichend vom Produktivitätszuwachs zu profitieren (Morgan und Murdoch 2000). Der Anteil des Endverbraucherpreises, der der Landwirtschaft zufällt, sinkt so zugunsten der konzentrierten Zuliefer- und Handelsunternehmen (Foresight 2011).

Liberalisierung des Handels

Multinational agierende Unternehmen der Agrar- und Lebensmittelindustrie und Verfechter des Freihandels haben über international abgestimmte Verfahren der Welthandelsorganisation (WTO) den Abbau von Handelshemmnissen und die Liberalisierung bzw. Neuregulierung (supra)nationaler Agrarpolitiken vorangetrieben. Im Zuge dessen wurden in der EU produktbezogene Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebe schrittweise durch flächenbezogene Zahlungen und Agrarumweltzahlungen abgelöst, Preisinterventionen reduziert und Marktordnungen liberalisiert (z. B. Abschaffung der Milchkontingentierung, welche vorher die Milchabsatzmenge regelte).

Zusätzlich zu multilateralen Abkommen über die WTO verfolgte die EU – getrieben von europäischen Unternehmen, die Zugang für ihre Güter und Dienstleistungen auf internationalen Märkten suchten, und den ins Stocken geratenen WTO-Verhandlungen – auch bilaterale Handelsabkommen mit zahlreichen Ländern in der ganzen Welt (z. B. CETA mit Kanada). Standen bis in die 1970er Jahre der Abbau von Zöllen (englisch: tariffs) im Vordergrund, so ging es in den letzten Jahrzehnten vorwiegend um den Abbau nichttarifärer Handels- und Investitionshindernisse. Zu diesen zählen Importquoten und -lizenzen, Verpackungs- und Kennzeichnungsvorschriften, Beeinflussung der KonsumentInnen zum Kauf einheimischer Produkte, unterschiedliche technische Normen, Sozial- und Umweltstandards, Ausschreibungsmodalitäten öffentlicher Aufträge, Zulassungen für ausländische Dienstleistungsanbieter oder andere marktbezogene Regulative. Insbesondere gerieten auch die Regeln für die öffentliche Beschaffung, wie etwa für Großküchen in Krankenhäusern, Altersheimen, Schulen und Kindergärten, für die Katastrophen-, Flüchtlings- und Entwicklungshilfe oder öffentliche Dienstleistungen wie die Trinkwasserversorgung ins Visier der Verhandlungspartner.

Diese von Freihandelsvertretern als nichttarifäre Handelshemmnisse qualifizierten Regeln sind jedoch nicht unbedingt auf die Beschränkung des Wettbewerbs ausgerichtet. Sie können auch primär zum Schutz von VerbraucherInnen vor schlechter Ware oder minderwertigen Dienstleistungen sowie von ArbeitnehmerInnen und der Umwelt dienen. Da es bei der Harmonisierung von Standards häufig um eine Nivellierung nach unten und nicht um eine Angleichung nach oben geht, bedeutet der Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse in der Regel eine Beschneidung des Umwelt-, Sozial- und Verbraucherschutzes. Dieses race to the bottom kann auch die öffentliche Ausschreibung von Großaufträgen und Dienstleistungen betreffen und damit die Qualität öffentlicher Dienstleistungen beeinträchtigen (Billigstbieter- versus Bestbieterprinzip).

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
437 s. 46 illüstrasyon
ISBN:
9783846348307
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip