Kitabı oku: «Hinter hessischen Gittern», sayfa 2
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Es war kurz nach 6 Uhr, als Susanne Herzberg die Tageszeitung aufschlug und genüsslich in ihr Brötchen biss. Katie, ihre braune Labradorhündin, lag zu ihren Füßen und ruhte sich nach der anstrengenden Joggingrunde am Morgen aus. Susanne war mit sich und der Welt zufrieden. In den Jahren, die seit dem Tod ihrer Eltern vergangen waren, hatte sie es geschafft, ein neues Leben zu beginnen. Die ersten Monate nach dem Autounfall, bei dem beide Eltern das Leben verloren hatten, waren schwierig gewesen, aber die Zeit heilte wirklich langsam die Wunden. Die Liebe ihres Mannes hatte ihr damals geholfen, gegen ihre Ängste und Depressionen anzukämpfen. Ihr Bruder war ihr leider keine Hilfe gewesen. Der Tod der Eltern hatte ihn nicht sonderlich berührt. Ihr Blick wanderte durch das große Wohnzimmer und den herrlichen Garten. Der angrenzende Wald ließ das Grundstück noch größer erscheinen. Die Ruhe in dieser noblen Wohngegend in Darmstadt-Eberstadt war traumhaft. In ihren kühnsten Träumen hätte sie nicht daran geglaubt, jemals hier zu wohnen. Sie war erfolgreich. Viele Jahre der Mühe und Entbehrung waren nötig gewesen, aber durch ihren Fleiß und ihr Gespür, was die Kundinnen heute wollten, konnte sie sich auf dem Markt etablieren. Anfangs stand ihr Unternehmen zweimal auf der Kippe, jedoch seit etwa vier Jahren machte sie mit ihrem Kosmetik-Onlinehandel Millionenumsätze. Katie hob den Kopf und wedelte ein wenig mit dem Schwanz, als ihr Mann Dirk das Esszimmer betrat.
»Guten Morgen, meine Schöne«, sagte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wie war deine Joggingrunde?« Er nahm sich im Vorbeigehen ein Brötchen aus dem Korb und setzte sich zu Susanne an den Frühstückstisch.
»Es war heute besonders schön. Die frische Luft am Morgen tut nach so einer Tropennacht gut. Erst ab 5 Uhr kühlt es ein wenig ab, und wenn man dann so gegen 6.30 Uhr durch den Wald läuft, ist es, als würde man eine erfrischende Dusche nehmen.« Sie strahlte ihn an.
»Ich kann dem morgendlichen Gerenne nichts abgewinnen, tut mir leid. Da gehe ich doch lieber Golf spielen.« Sein Blick war leer, er sah deprimiert aus.
»Da wir hier so nahe am Wald wohnen, wäre es eine Schande, wenn ich das mit Katie nicht nutzen würde.« Sie sah ihre Hündin an, die sich mittlerweile in ihren Hundekorb neben dem Kamin verzogen hatte. »Wie kommst du mit der Klage gegen JAJK Investment voran?« Maria fragte vorsichtig, da sie wusste, mit JAJK Investment traf sie bei ihrem Mann einen wunden Punkt. Er blickte sie verloren an und erwiderte:
»JAJK Investment ist wahrscheinlich nicht beizukommen. Ich habe heute Nacht noch mit Anlegern aus den USA geskypt, auch sie sind betrogen worden. Wir werden eine Sammelklage in den USA einreichen. Was wir jedoch damit erreichen werden, ist fraglich.«
3
Maria schlug mit ihrem großen Schlüsselbund kurz an die Zellentür 525. Eine freundliche Geste ihrerseits, damit der Gefangene, falls er nackt war oder auf der Toilette saß, vorgewarnt war. Gerade in dem Moment, als sie aufschließen wollte, hört sie über Funk den Alarm.
»Alarm auf Station II3, Alarm Station II3.« Blitzschnell zog Maria den Schlüssel aus dem Schloss und rannte die zwei Stockwerke hinunter zur Station II3. Sie und zwei andere Kollegen kamen zeitgleich dazu, als ein offensichtlich verwirrter Gefangener die Schöpfkelle um sich herumschleuderte und schrie:
»Kommt nur her, dann ziehe ich euch das Ding über den Schädel.« Er blickte wirr um sich und tanzte über den Stationsflur. Einige andere Insassen, die die Szene amüsiert beobachteten, lachten ihn aus. Maria zog ihre schnittfesten Sicherheitshandschuhe an, die sie immer am Gürtel trug, und machte sich bereit. Andere Kollegen, die zwischenzeitlich eingetroffen waren, gaben sich ein stilles Zeichen, welches bedeutete, dass sie von der anderen Seite der Station an den Gefangenen gelangen wollten. Der junge Mann tanzte wie vom Teufel besessen über den Flur und schlug dabei immer wieder mit der Kelle an die noch verschlossenen Zellentüren. Er hatte offensichtlich den großen Teebehälter vom Essenswagen gerissen, und einige Liter Tee überschwemmten den Flur. Maria sah sich im Geiste schon mit ihm kämpfen. Da kam ihr eine Idee. Sie nickte ihren Kollegen zu und ging dann völlig unbeeindruckt und entspannt den langen Flur auf den Gefangenen zu. Von einigen Diensten, die sie auf dieser Station hatte, kannte sie seinen Namen.
»Guten Morgen, Herr Meier, ich wusste gar nicht, dass Sie so gut tanzen können.« Marias Kollegen verstanden, dass sie damit den Gefangenen nur ablenken wollte. Die Beamten, die im Rücken zu ihm standen, schlichen langsam auf ihn zu, während Maria versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
»Ich heiße nicht Meier, Sie kennen mich doch. Mein Name ist Thomas Heckler.« Maria machte ein ungläubiges Gesicht und lächelte ihn an. Die Kollegen hinter ihm waren nur noch wenige Schritte entfernt.
»Thomas Heckler, wirklich? Also ich hätte schwören können …« Maria musste den Satz nicht vollenden. Zwei Kollegen ergriffen seine Arme und drehten sie auf den Rücken. Er ließ die Kelle fallen und schrie noch ein wenig herum, leistete aber keine größere Gegenwehr.
»Habt ihr ihn?« Maria zog die Handschuhe aus und befestigte sie wieder an ihrem Gürtel.
»Ja, danke, Maria. Gut gemacht. Er hat ganz sicher wieder seine vom Arzt verordneten Psychopharmaka einem Junkie überlassen. Es ist immer dasselbe. Er tut so, als hätte er die Medikamente eingenommen, hat sie aber unter der Zunge. Dann tauscht er die Pillen gegen ein paar Zigaretten.« Maria nickte ihren Kollegen kurz zu, nahm die Beine in die Hand und trabte zur Zelle 525. Stickige Luft schlug ihr entgegen, als sie die Zellentür öffnete.
»Guten Morgen.« Maria stand im Türrahmen und suchte Hattingers Blick. Er sah aus dem geschlossenen, vergitterten Fenster und schien sie zu ignorieren. Ein wirklich unangenehmer Zeitgenosse. Seine Feindseligkeit war geradezu greifbar.
»Es wird Zeit, dass Sie aufschließen«, knurrte er. »Ich muss um Punkt 6.30 Uhr die Anstalt verlassen, wenn ich den Bus erwischen will, und muss mich noch in der Kammer umziehen. Wie soll das gehen?« Hattinger wandte sich zu ihr um und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Ganz einfach, mitkommen zur Kammer, umziehen und dann zur Pforte. So geht das.« Maria verzog keine Miene. Sie konnte die anmaßende Art dieses Typen nicht leiden. Hattinger war groß und sehr muskulös. Offensichtlich hatte er die letzten neun Jahre Knast in Schwalmstadt darauf verwendet, seinen Körper zu stählen. An seinen Manieren hatte er leider nicht gearbeitet. Eine ständige unterschwellige Aggression war ihm anzumerken, auf der Station ging er keiner Auseinandersetzung aus dem Weg. Provokante Sprüche und Pöbeleien den offenbar körperlich Unterlegenen gegenüber waren an der Tagesordnung. Kein anderer Häftling, soweit Maria es wusste, wollte mit ihm Kontakt haben. Nur Carlos Ribeiro, ein schmächtiger, blasser Knacki, der früher seine Drogensucht auf dem Straßenstrich in Frankfurt finanziert hatte, stand ab und zu mit ihm zusammen auf dem Stationsflur. Ribeiro saß wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz ein. Er war für die anderen Hardcoregefangenen das typische Opfer. Wahrscheinlich war er für Hattinger, der bekanntermaßen bisexuell war, ein gefügiger Sexpartner. Hattinger schritt stolz erhobenen Hauptes aus seiner Zelle, und Maria meinte, leise im Vorbeigehen das Wort »Weiber« vernommen zu haben. Sie verzog keine Miene, ließ sie sich doch von solchen Kommentaren schon lange nicht mehr provozieren. Sie verschloss seine Zellentür und ließ ihn vor sich herlaufen. Gemeinsam trabten sie durch das Treppenhaus, am Arztzimmer vorbei zur Kammer, und etwa drei Stahltüren und zwei Minuten später stand Hattinger bereits im Umkleideraum der Kleiderkammer und konnte sich umziehen. So ein Wichtigtuer. Sie holte den Ausgangsschein von der Zentrale, der es Hattinger ermöglichte, die Anstalt zu verlassen. Kurz darauf stand sie an der Kammer, um den Gefangenen an die Pforte zu bringen. Es war genau 6.30 Uhr, als sie dort eintrafen und Maria ihm sein Handy gab, welches ihr zuvor von einem Kammerbeamten ausgehändigt worden war.
»Herr Hattinger, Sie müssen pünktlich um 17 Uhr wieder in der Anstalt sein.« Sie stand vor ihm und blickte direkt in seine kalten, wässrig blauen Augen. Hattinger bedachte sie mit einem abwertenden Blick, nickte, blieb stoisch stehen und wartete, bis Maria ihm den Weg freigab. Der Summer der Türentriegelung ertönte, und mit einem süffisanten Lächeln trat er aus der Anstalt auf die Straße. Völlig entspannt und hoch erhobenen Hauptes schlenderte er in Richtung Bushaltestelle An der Schießmauer. Maria sah ihm nachdenklich hinterher. Da vernahm sie eine Stimme aus einer Ecke der Pforte.
»Wenn der heute um 17 Uhr nur eine Minute überfällig ist, schreibe ich ihn zur Fahndung aus.« Jan Gerber, der Sicherheitsdienstleiter der Anstalt, stand neben einem Schrank in der Pforte und folgte Hattinger ebenfalls mit seinem Blick.
»Guten Morgen, Jan, wusste gar nicht, dass du schon da bist.« Er antwortete nicht und war scheinbar in Gedanken versunken. Ihr Bereichsleiter hatte sie ein Jahr zuvor bei dem Angriff in der Zelle befreit, und Maria stellte fest, dass sie seit diesem Zwischenfall gerne seine Nähe suchte. Jan schaffte es durch seine Mut machende Art immer wieder, dass sie die oft an ihr nagenden Selbstzweifel dahin beförderte, wo sie hingehörten: in den Müll.
»Der hat etwas Eiskaltes. Dem traue ich nichts Gutes zu. Ich habe noch nie gehört, dass ein wegen Totschlags Verurteilter nach neun Jahren im geschlossenen Vollzug so mir nichts dir nichts gelockert wird, ohne soziale Kontakte draußen. Kannst du mir das erklären, Jan? Ich dachte, damit man gelockert wird, muss ein ordentliches soziales Umfeld vorliegen. Ehefrau, Eltern oder so. Hat der Hattinger überhaupt jemanden?« Maria versuchte, eine Reaktion in Jans Gesicht zu deuten.
»Ja, ist mir auch unbegreiflich, besonders wenn du den Tathergang liest, da läuft es dir kalt den Rücken runter. Hattinger hat eine Prostituierte vom Balkon eines Hochhauses geworfen. Die Frau war auf der Stelle tot.« Jan sah nachdenklich aus dem Fenster.
»Wer einmal diese Grenze überschritten hat, wird es vielleicht noch einmal tun?« Maria schauderte es bei dem Gedanken.
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Senior: Glaubst du, er ist der Richtige?
Bursche: Ich nehme heute Kontakt zu ihm auf. Ich bin zuversichtlich, dass er den Auftrag übernimmt. 20.000 ist eine schöne Summe und die Aufgabe nicht sonderlich schwer.
5
Frank Hattinger zog den Reißverschluss seiner Sportjacke noch etwas höher. Er sah aus, als wäre er auf dem Weg ins Fitnessstudio, lediglich die Knastblässe passte nicht zu diesem Outfit. Er ging mit großen Schritten zur Bushaltestelle. Einige Passanten standen schon dort, starrten vor sich hin oder schauten auf ihr Smartphone. Als Hattinger sein Handy anschaltete, ertönten viele Signaltöne. Einige SMS und WhatsApp-Nachrichten waren eingegangen.
Darunter befand sich auch eine SMS seines Kumpels Thomas Enders mit den Worten 7 Uhr, DA Hauptbahnhof. Sehr gut. Hattinger lehnte sich zufrieden zurück und lachte in sich hinein. Der Bus fuhr nur ein kurzes Stück durch Dieburg, um dann nach wenigen Minuten auf die Schnellstraße B26 abzubiegen. Eine seltsame Nachricht befand sich noch in seinem Posteingang: Du bist clever und möchtest mit wenig Arbeit Geld verdienen? Warte auf neue Informationen. Die SMS kam von einem Schweizer Anschluss. Er rief zurück, konnte aber lediglich einen Anrufbeantworter erreichen. Er nannte seinen Namen und sagte nur, er habe Interesse. Als er alle Neuigkeiten in seinem Handy gecheckt hatte, sah er sich ein wenig um. Der Bus war bis auf den letzten Platz besetzt. Müde Gesichter auf dem Weg zur Arbeit. Für Schüler war es um diese Zeit noch zu früh. Etwa 30 Minuten später stoppte der Bus am Eingang des Hauptbahnhofs in Darmstadt. Hattinger sprang leichtfüßig aus dem Bus und schlenderte in die Bahnhofshalle im Jugendstil, die erst kürzlich renoviert worden war. Es herrschte geschäftiges Treiben, und die verschiedenen Stände mit Croissants und Kaffee waren gut besucht. Er stellte sich vor den Zeitungsladen und hielt Ausschau nach Thomas Enders. Die vielen Leute hier und die Hektik, die alle ausstrahlten, stressten ihn. Vieles war nach neun Jahren anders. Das Tempo der Passanten war eindeutig schneller geworden. Oder kam es ihm nur so vor, als ob alle rannten? Einige quälende Minuten vergingen. Eine innere Stimme sagte ihm, dass es keineswegs sicher war, dass sein Kumpel kam. Wo blieb dieser Idiot nur? Er atmete auf, als er ihn in Richtung Bahngleise entdeckte. Mein Gott, war der fett geworden. Sie hatten fünf Jahre in der JVA Schwalmstadt zusammen ihre Haft abgesessen. Mit ihm auf Doppelzelle gab es nie Probleme. Er konnte die Schnauze halten, das hatte er damals schon bewiesen. Enders trug verwaschene Jeans, ein schwarzes T-Shirt und ein schwarzes Basecap mit der Aufschrift »Jungle Boy«. Vor Jahren war er eine beeindruckende Erscheinung gewesen. Bodybuilding machte er offensichtlich nicht mehr.
»Guten Morgen, du Träne, ich dachte schon, du kommst nicht.« Hattinger sah Thomas grimmig an und streckte ihm die Ghettofaust entgegen. Thomas zog seine rechte Augenbraue etwas in die Höhe und sah Frank entspannt in die Augen.
»Guten Morgen, Alter. Bist noch ein bisschen blass, geh mal unter den Toaster, so glaubt noch einer, du kommst aus dem Knast«, konterte er und lachte.
»Du musst pünktlich sein, sonst gibt es gleich Theater.« Hattinger riss Enders das Basecap vom Kopf. »Und lass dieses hässliche Teil von deinem Schädel. Damit siehst du ja aus wie ein Idiot.«
Die Miene von Enders verfinsterte sich. »Mann, ich glaube, du gehst mir schon jetzt auf die Eier. Wenn ich nicht so dringend das Geld bräuchte, könntest du mich mal …«, er sprach nicht aus, was er dachte.
»20 Euronen für heute und für jeden anderen Schultag, okay? So hatten wir es abgemacht.« Hattinger griff in seine Hosentasche und holte 20 Euro heraus. Er hielt sie Enders vor die Nase, als dieser sie greifen wollte, zog er sie blitzschnell zurück.
»Lass die Scheiße und gib die Kohle her.« Enders verlor langsam die Nerven. Hattinger gab ihm zögerlich das Geld, und Enders schüttelte nur den Kopf.
»Okay, wenn die Schule heute fertig ist, schicke ich dir ’ne SMS!« Enders drehte sich um und ging langsam in Richtung Innenstadt.
»Tommy, verarsch mich net«, rief Hattinger hinter ihm her. Diese Worte gingen fast im allgemeinen Lärm des Bahnhofs unter. Hattinger zog die Stirn in Falten.
»Würd’ ich niemals tun, bis Mittwoch dann, gleiche Zeit hier. Ich kann ja nicht jeden Tag hierher pilgern. Wenn die irgendwas Besonderes in der Schule wollen, sage ich dir sofort Bescheid. Vergiss am Mittwoch die Kohle nicht«, rief Enders. Kurz darauf war er in den Menschenmassen Richtung City verschwunden.
Ein wohliges Gefühl durchströmte Frank Hattinger. Wie lange hatte er darauf gewartet. Neun Jahre und drei Monate musste er das tun, was andere von ihm verlangten. Nun endlich konnte er einige wenige Stunden genießen. Auf Enders war Verlass, er würde ihn nicht hängen lassen.
Er entdeckte den Fahrplan, der nur wenige Schritte entfernt von ihm an der Wand hing, um die nächste Verbindung nach Frankfurt herauszusuchen. Alle 30 Minuten fuhr eine Bahn nach Frankfurt. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er noch etwas Zeit hatte. Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee und warmen Croissants wehte ihm um die Nase. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und er hielt an einem Stand kurz an, kaufte sich ein Schokocroissant und einen Espresso. Wie hatte er das vermisst. Kurz darauf saß er im Zug und schaute aus dem Fenster, die Landschaft glitt ruhig an ihm vorbei, da erhielt er die nächste SMS.
Es war wieder die Telefonnummer aus der Schweiz: Außergewöhnliche Arbeit erbringt außergewöhnlich hohen Lohn!!! Kontakt über Darknet! Er stutzte. Wie war jemand an seine Telefonnummer gekommen? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, aber er antwortete: Bin interessiert!! In seinem Hirn ratterte es, wer konnte ihm diese SMS geschickt haben? Und was sollte er tun? Kurz darauf erhielt er den Code für das Darknet.
In Frankfurt angekommen, staunte er nicht schlecht, der Bahnhof sah anders aus als in seiner Erinnerung. Geschäfte und Schnellrestaurants belebten die Bahnhofshalle, aber leider war auch die Polizei überall präsent. Sofort zog er sich das Basecap von Thomas Enders tiefer ins Gesicht. Die freien Stunden, die er sich dank der Mithilfe seines Kumpels verschafft hatte, würde er für die wichtigen Dinge im Leben nutzen, da war er sich sicher.
6
Vor einem Jahr hatte sich Marias Leben schlagartig verändert. Immer wieder tauchten vor ihrem inneren Auge diese Bilder auf, wie sie in der Zelle die Rasierklinge an ihrem Hals spürte. Der Überfall hatte Spuren hinterlassen. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so ihre düsteren Gedanken vertreiben. Zellenkontrollen standen an, und so zog sie ihre Handschuhe an und klopfte an die Zelle II523 und schloss sie auf.
»Guten Morgen!«, rief Maria laut in Anbetracht der Tatsache, dass der Insasse noch in seinem Bett lag und schlief.
Walter Schneider richtete sich auf und blinzelte Maria müde an. Mürrisch fragte er: »Was gibt es denn?« Die Gardine war halb vor das Fenster gezogen, und ein unbeschreiblicher Gestank schlug Maria entgegen. Mit einem offenen und einem zugekniffenen Auge versuchte der Gefangene Schneider, in der Wirklichkeit anzukommen. Er spiegelte das Klischee eines Knackis wider. Seit Tagen unrasiert, die Haare wie auch der gesamte Körper hatten wer weiß wann das letzte Mal Wasser gesehen, und auch das T-Shirt, welches unter der Bettdecke hervorlugte, stand vor Dreck.
»Bitte stehen Sie auf, ich komme in zehn Minuten, dann möchte ich Ihre Zelle kontrollieren.« Maria war schon im Begriff zu gehen, da bekam sie die Antwort: »Sie können mir mal ’nen Kaffee bringen, dann klappt das auch.«
Mit einem leisen Grunzen drehte sich Schneider noch einmal entspannt in seinem Bett um und zog sich die Bettdecke über die Schulter. Maria kannte derlei Allüren schon von anderen Gefangenen. Leise flüsterte sie zuckersüß: »Sie glauben wohl, ich bin der Roomservice? Sie verwechseln das hier mit einem Hotel?« Dann erhob sie ihre Stimme: »Schauen Sie mal aus dem Fenster.«
Schneider setzte sich abrupt in seinem Bett auf und sah sie verblüfft an.
»Ja, sehen Sie mal raus.«
Schneider setzte sich blitzartig auf und tat, wie ihm befohlen.
Maria lächelte süffisant. »Na, was sehen Sie da? Gitter, oder? Sie träumen nicht, Sie sind im Knast. Ich bringe Ihnen auch keinen Kaffee, sondern ich bringe Ihnen mal Manieren bei. Aufstehen, und in zehn Minuten sind Sie angezogen. Alles klar? Ach, und ganz wichtig, lüften Sie mal Ihren Raubtierkäfig!« Maria hielt die Luft an, damit sie nicht noch mehr Duft von Herrn Schneider einatmen musste. Dann trat sie mit zwei großen Schritten an das Fenster und öffnete es weit. Sie verließ die Zelle und verschloss die Tür lauter, als es notwendig gewesen wäre.
Zellen zu kontrollieren, diese Arbeit widerstrebte ihr zutiefst. Dabei musste sie Dinge in die Hand nehmen, die dermaßen schmutzig und versifft waren, dass sie manchmal direkt Brechreiz verspürte. Ab und zu hatte sie noch ein mulmiges Gefühl, wenn sie eine Zelle betrat. Sie spürte den Schweiß auf ihren Handflächen und merkte, wie ihr Herz zu rasen begann. Durch das Mantra einatmen und ausatmen, einatmen und ausatmen beruhigte sie sich selbst ein wenig. Auf keinen Fall durfte ein Kollege oder gar ein Gefangener bemerken, wie es um sie stand.
Die wenigen Quadratmeter waren für einige Gefangene der Lebensraum für viele Jahre. Sie wusste, wie wichtig Zellenkontrollen für alle waren. Nur so konnte man sicherstellen, dass keine gefährlichen Gegenstände innerhalb der Anstalt kursierten. Der eine oder andere war sehr erfindungsreich, wenn es darum ging, Gegenständige des täglichen Gebrauchs in Waffen umzufunktionieren. Sie hatte schon eine Gabel gefunden, die rundgebogen und die Zacken so nach vorne gebogen waren, dass sie wie ein Schlagring eingesetzt werden konnte. Auch Glasscherben an einem Kleiderbügel, mithilfe von zerrissenen Baumwolltüchern fixiert, konnten zur lebensgefährlichen Waffe werden. Eine mit einer Rasierklinge versehene Zahnbürste wäre ihr selbst fast zum Verhängnis geworden. Es war wichtig, diese Dinge zu finden und aus dem Verkehr zu ziehen. Leider kannten nur die wenigsten Insassen Sauberkeit und Hygiene. Einige fühlten sich offensichtlich in ihrem eigenen Dreck wohl.
Auf ihrer To-do-Liste für den heutigen Tag stand noch die Zelle II510, die Zelle von Karl-Heinz Kurz, einer armen Socke von 60 Jahren, der wegen Fahren ohne Führerschein einsaß. Da sie mit seiner Zelle sicherlich schnell fertig sein würde – er gehörte zu den arbeitenden Insassen – beschloss sie, die Durchsuchung seiner Zelle dazwischenzuschieben. Denn Schneider würde noch einige Minuten brauchen, außerdem hoffte sie, dass in der Zwischenzeit der Gestank aus der Zelle etwas abgezogen war.
Sie schloss die Zelle auf. Karl Heinz Kurz war offenbar ein Mann, der wusste, wie man Ordnung hielt. An der Wand über seinem Bett hing ein Foto von einem kleinen Mädchen, ansonsten wirkte die Zelle geradezu spartanisch. Maria begann links oben in der Zelle, dort befand sich ein kleines Wandregal, auf dem zwei Bücher standen. In den Büchern, die sie durchblätterte, fand sie nichts. Rechts neben dem Regal war das Waschbecken mit einem Spiegel darüber. Sie nahm den Spiegel ab, aber auch hier war auf der Rückseite des Spiegels nichts festgeklebt. So ging sie im Uhrzeigersinn weiter vor. Sie hatte ihre schnittfesten Handschuhe an und tastete vorsichtig in den Spind hinein. Immer schwang ein wenig die Angst mit, in eine Spritze zu greifen. Viele Drogensüchtige tauschten innerhalb einer JVA die wenigen Spritzen miteinander, sodass man davon ausgehen konnte, dass mehr oder weniger alle, die Heroin drückten, an HIV oder Hepatitis erkrankt waren. Nachdem sie auch im Schrank und unter dem Bett nichts fand, nahm sie sich noch die Sportschuhe vor, die ordentlich unter dem Bett standen. Als sie die Sohle innen befühlte, bemerkte sie, dass diese nicht voll verklebt war. Sie zog sie vorsichtig heraus und fand ein kleines Tütchen mit einem bräunlichen Pulver darin. Wahrscheinlich Heroin. Im zweiten Schuh fand sie nichts. Sie steckte das Tütchen in ihre Hosentasche. Danach untersuchte sie noch alle weiteren Hohlräume der Zelle, und nachdem sie unter großer Kraftanstrengung auch den Bezug der Matratze abgezogen hatte, gab sie einen Funkspruch an Jan Gerber durch. »Burg 46 für die 48«, ein Signalton ertönte. »Burg 46 hört«, gab Gerber als Antwort.
»Bitte mal zur Zelle II 510 kommen.«
»Burg 46 hat verstanden, bin sofort da.« Jan Gerber brauchte für die zwei Stockwerke, die zwischen seinem Büro und der Station II5 lagen, keine Minute. Mit großen Schritten kam er den Stationsflur entlang. Ihr Vorgesetzter war ein interessanter Mann, groß, blond, gutaussehend, mit einem gewinnenden Lächeln. Man nannte ihn in der gesamten Anstalt Miami, von der US-Fernsehserie Miami Vice, in der in jeder Folge dieser Serie Drogen eine Rolle spielten. Und da Jan Gerber wie ein Terrier in der Anstalt Drogen suchte, hatte er schnell den Spitznamen weg. Maria fühlte sich in seiner Gegenwart wohl, er sah sie als gleichwertige Kollegin an. Auch fragte er sie oft nach ihrer Meinung, ein Umstand, der in einer reinen Männerhierarchie nicht selbstverständlich war. Immer wieder musste Maria bei anderen Kollegen um Anerkennung kämpfen.
»Na, Maria, was gibt es?« Jan Gerber kam nun in die Zelle und sah sie fragend an.
»Ich habe hier dieses Tütchen in den Turnschuhen gefunden«, Maria übergab ihren Fund an Gerber, der ihn kurz gegen das Licht hielt.
»Könnte Heroin sein. Ich mache in meinem Büro gleich einen Schnelltest. Wer ist in der Zelle untergebracht?«
»Karl-Heinz Kurz, Fahren ohne Führerschein«, antwortete Maria prompt.
»Ist er schon einmal wegen Drogen aufgefallen?« Gerber sah Maria fragend an.
»Nicht, dass ich wüsste, aber er ist in letzter Zeit sehr nervös, ich habe ihn die letzten Tage beim Einrücken von der Arbeit reden hören. Er spricht ohne Punkt und Komma. Früher war er eher zurückhaltend, scheinbar hat er Stress.« Maria schnappte sich die Schuhe, und gemeinsam verließen sie die Zelle.
»Na, dann schreibe bitte den Bericht. Ich lasse den Kurz von der Arbeit holen. Wir treffen uns in meinem Büro, mal sehen, was er uns zu erzählen hat.« Mit diesen Worten machte Jan Gerber auf dem Absatz kehrt und ging über den Stationsflur in Richtung Büro. Maria verschloss noch die Zellentür und folgte ihm. An der Stationstür angekommen sagte sie: »Das ist ’ne arme Socke, ich denke, den haben sie hier unter Druck gesetzt.« Maria blickte nachdenklich auf den Turnschuh.
»Da kannst du recht haben, aber ich will wissen, wer ihn unter Druck setzt.« Gerber steckte das Herointütchen in die Brusttasche seines Hemdes und lief die Treppe runter zu seinem Büro.