Kitabı oku: «Ein gefährliches Alter», sayfa 2
7 «Du sagst, du hast dich heimlich aus dem Haus geschlichen.»
Nina nickte. Sie schaute mich nicht an, sondern starrte auf ihre Fingernägel, kratze einen Rest lila Nagellack ab. Ich war dabei, mit ihr die folgenschwere Nacht durchzugehen.
«Wie hast du dich hinausgeschlichen?»
«Ist das wichtig?» Nina hatte einen betont gelangweilten Gesichtsausdruck aufgesetzt. «Ich meine – das ist doch nur ein blödes Detail.»
«Details sind wichtig.»
Sie zuckte mit den Schultern.
Ich wurde nicht schlau aus Nina. Einerseits wollte sie ein Geständnis ablegen, andererseits musste ich ihr jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Gut, ich war nicht die Polizei. Aber bevor sie den Ermittlern etwas erzählte, wollte ich die ganze Geschichte kennen. Ich musste wissen, womit ich es zu tun hatte.
«Mein Zimmer ist im Erdgeschoss. Ich kann durchs Fenster in den Garten klettern und von da …» Wieder zuckte Nina mit den Schultern, was wohl so viel hiess, wie von da an war es nur ein Katzensprung bis zum Schulhaus St. Georgen.
«Machst du das öfter?»
«Was?»
«Dich nachts hinausschleichen.»
«Manchmal.»
«Weshalb?»
Nina schaute mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte. «Weshalb wohl? Denken Sie, ich beobachte die Einhörner, die um Mitternacht auf der Wiese des Münzparks grasen? Oh Mann.» Mit einer übertriebenen Geste langte sie sich an die Stirn.
Ich musste mich aufs Äusserste zusammenreissen, um ruhig zu bleiben. Blöde Göre. Sie hatte keine Ahnung, in was für einen Schlamassel sie sich manövriert hatte. Zudem war ihr Gehabe zu übertrieben, es wirkte aufgesetzt. Mit einer Hand tastete ich in meiner Tasche nach der Zigarettenpackung, zog sie hervor. Ich stand auf, ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. Keine Ahnung, was Frau Behrens dazu sagen würde. Es musste einfach sein.
«Darf ich auch eine?»
Ich sah Nina erstaunt an. «Du bist erst fünfzehn. Du darfst nicht rauchen.»
«Ich darf eine Menge nicht.»
Nun war ich diejenige, die mit den Achseln zuckte. Was sollte ich hier den Aufpasser spielen. Ich hielt ihr die Packung hin. «Von mir aus.»
Nina nahm sich eine Zigarette. Dann schnellte ihr Blick zur Tür. «Sie sagen doch meiner Mutter nichts.»
Beinahe hätte ich gelacht. Frau Behrens würde sich momentan wahrscheinlich die glücklichste Frau nennen, wenn es nur darum ginge, dass ihre fünfzehnjährige Tochter heimlich rauchte. «Keine Angst. Deine Mutter erfährt nichts», sagte ich.
Nina war keine geübte Raucherin. Sie hielt die Zigarette wie einen Kugelschreiber und machte vorsichtige Züge. Trotzdem schien das Rauchen sie zu entspannen. Ich machte mir Gedanken über sie. Hinter der ganzen Fassade, dem taffen Auftreten und den lackierten Nägeln steckte ein kleines Mädchen, das sich keinen Ärger einhandeln wollte.
«Was hast du getan?» Ich sah Nina nicht an, sondern konzentrierte mich darauf, den Rauch zum Fenster hinaus zu blasen.
Nina paffte vor sich hin. «Ich habe Luca Tanner getötet», sagte sie.
«Bist du sicher», fragte ich.
«Ja.»
Ich drückte meine Zigarette vorsichtig am äusseren Fensterrahmen aus, schnippte den Stummel in den Garten. Ich drehte mich zu Nina. «Dann erzähl mir jetzt alles. Es ist ernst, Nina.» Diesmal schien ich den richtigen Ton getroffen zu haben.
Nina sah mich an und nickte. Dann begann sie zu reden.
Zwanzig Minuten später kannte ich die ganze Geschichte. Ich hatte nicht gewusst, welche Abgründe sich bereits in Fünfzehnjährigen auftun können. Ich konnte mich kaum an meine eigene Jugend erinnern. Diese war geprägt von dem einen Ereignis, das mich bis heute beschäftigt: Dem Verschwinden meiner kleinen Schwester. Alles andere liegt im Schatten. Vielleicht trafen mich Ninas Schilderungen deswegen mit voller Wucht. Ich hatte nicht das Gefühl, jemals fünfzehn Jahre alt gewesen zu sein. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Nina zeigte es mir.
8 Nina fläzt sich auf dem roten Sofa, blättert in einer Zeitschrift.
«Tatarata!» Alisar öffnet die Tür des angrenzenden Badezimmers und schiebt Mathilda vor sich her.
Die drei sind bei Alisar zu Hause. Sie ist die, die von den Eltern am meisten verwöhnt wird, dabei ist sie nicht einmal ein Einzelkind. Aber ihre Eltern haben einfach viel Kohle. Alisar hat ein riesiges Zimmer mit Fernseher und allem, was dazugehört. Sogar ein eigenes Badezimmer hat sie. Deswegen hängen die Mädchen auch am liebsten bei Alisar ab. Hier können sie tun und lassen, was sie wollen, und Alisars Eltern sind supernett. Alisar scheint einfach alles zu haben. Hübsch ist sie auch, mit den langen Beinen, dem dunklen Haar und den grossen Augen. Ein Wunder, dass Alisar trotzdem so normal ist. Nina und sie sind seit dem Kindergarten Freundinnen. Und vor ein paar Monaten ist Mathilda dazugestossen. Mathilda mir der weissen Porzellanhaut und dem verträumten Wesen. Mathilda, die nie schlecht von jemandem denkt, aber definitiv zwei linke Füsse hat. Nina hat Mathilda vom ersten Tag an unter die Fittiche genommen. Sie sind beide ohne Vater. Nina weiss, was das heisst.
«Na, was sagst du?», fragt Alisar in Richtung Nina. Alisar stemmt die Hände in die Hüften und betrachtet Mathilda von der Seite. Alisar mag, wen Nina mag. Sie ist die Unkomplizierteste von den dreien. Soeben hat sie Mathilda eingekleidet. Sie beide sind gleich gross.
«Du siehst einfach geil aus, Mathilda», meint Nina.
«Ist es nicht … » Mathilda nestelt an dem tiefen Ausschnitt. «Ich meine, sehe ich nicht irgendwie billig aus?»
«Du findest meine Klamotten billig?», fragt Alisar gespielt empört.
«Nein.» Mathildas Gesicht rötet sich vor Verlegenheit. «Aber du bist viel schmaler als ich. Ich sehe darin aus wie eine Presswurst»
«Du siehst gut aus, Mathilda», sagt Alisar. «Schön und sexy.»
«Aber für Halloween?», zweifelt Mathilda. «Sollten wir uns nicht verkleiden?»
Nina legt die Zeitschrift beiseite. Sie steht auf, geht zu Mathilda und nimmt sie bei den Händen. «Du bist verkleidet. Aschenputtel auf dem Weg zum Ball bist du», sagt sie liebevoll. Sie dreht sich mit Mathilda übermütig im Kreis. «Angle dir nur ja keinen Prinzen, hörst du? Du gehörst zu uns.» Sie dreht weiter und weiter.
«Stopp, Nina», kreischt Mathilda. «Hör auf!»
Nina lässt sich aufs Sofa fallen, reisst Mathilda mit sich. Lachend und kichernd liegen sie da, ein Knäuel aus Armen und Beinen, langen Haaren und zartblauem Stoff. Alisar betrachtet die beiden kopfschüttelnd.
Mathilda schaut auf die Uhr und ist plötzlich ernst. «Ich muss los. Meine Mutter kommt gleich nach Hause.» Die ganze Freude ist aus ihrem Gesicht gewichen.
9 Béjart, mein Bekannter bei der Kantonspolizei, ging nicht ans Telefon. Ich hinterliess eine Nachricht, bat um umgehenden Rückruf und legte auf. Frau Behrens sah mich an.
«Sind Sie sicher, dass das notwendig ist?», fragte sie. «Nina ist doch noch ein Kind …»
Ein Kind, das ein anderes Kind getötet hatte.
«Nina will ein Geständnis ablegen, Frau Behrens», sagte ich. «Ausserdem ist es sowieso besser, sie meldet sich freiwillig, anstatt …»
«Anstatt dass man sie irgendwann einfach holen kommt?» Frau Behrens schlug die Hände vors Gesicht. «Ach, Nina, wie bist du nur in so etwas hineingeraten.»
Nina presste die Lippen aufeinander. «Nicht weinen, Mama», sagte sie und strich ihrer Mutter unbeholfen über die Schulter. «Alles wird gut.»
Alles wird gut. Ich schüttelte innerlich den Kopf. Wie naiv Fünfzehnjährige sein konnten. Naiv und fordernd, unschuldig und verschlagen. Dieses Wechselspiel gehört wohl zur Pubertät dazu. Teenager sind eine eigene Spezies und für mich unerforschtes Gebiet. Es gäbe sicher geeignetere Anwälte, die auf die Vertretung von Jugendlichen spezialisiert waren. Bevor ich Frau Behrens fragen konnte, wer mich empfohlen hatte, rief Béjart zurück. Ich machte Frau Behrens und Nina ein Zeichen und zog mich auf den Flur zurück, schloss die Tür zum Wohnzimmer.
«Wo brennt’s, van der Meer?»
Ich hasste es, wenn er mich bei meinem Nachnamen nannte. Und er wusste, dass ich es hasste. Deswegen machte es ihm so viel Spass.
Béjart und ich hatten uns vor einigen Jahren kennengelernt, als wir zusammen an einem Fall gearbeitet hatten. Wir hatten den Tod einer jungen Frau aufgeklärt. Eine düstere Geschichte. Unwillkürlich schauderte mich. Seither waren Béjart und ich befreundet. Irgendwie war da auch mehr zwischen uns, eine Spannung, ein Knistern, das wir aber beide zu ignorieren versuchten. Das Leben war kompliziert genug.
«Bist du allein?», fragte ich. Ich hörte Schritte, das Schlagen einer Tür.
«Jetzt bin ich’s.»
«Dann hör zu.» Ich erzählte ihm in groben Zügen von Nina und ihrem Geständnis. «Weisst du, wer für den Fall zuständig ist?»
«Du kannst dich an Koller wenden, er leitet das Ermittlungsteam.»
Koller war ein Kollege von Béjart, mit dem ich auch schon zu tun gehabt hatte. Ein anständiger Kerl.
«Wie ist sie so?»
«Was?» Ich war mit meinem Gedanken noch bei Koller gewesen.
«Was du von deiner Mandantin hältst?»
«Sie hat Angst», sagte ich. «Und sie lügt. Ich weiss nur noch nicht, in welchem Punkt.»
«Wie kommst du darauf?»
«Kleine Dinge. Als sie mir den Tathergang erzählt hat, hat sie ein paarmal leicht mit den Schultern gezuckt. So, als zweifle sie selbst an ihrer Geschichte.»
«Ist das alles?»
Ich überlegte. «Am Schluss hat sie gesagt: Ich bin froh, dass er tot ist.» Ich hielt inne.
«Und?», fragte Béjart ungeduldig.
«Dabei hat sie so komisch gelächelt. Ich meine, ein echtes, glückliches Lächeln war das nicht.»
«Vielleicht interpretierst du zu viel hinein. Vielleicht ist alles so passiert, wie sie gesagt hat.»
«Vielleicht», antwortete ich.
«Steht morgen Abend immer noch?», wechselte Béjart das Thema.
Seit einiger Zeit gingen wir ab und zu zusammen essen, immer in ein anderes Lokal. Wir frassen uns sozusagen durch die Winterthurer Gastronomie. Am nächsten Abend wollten wir der Pizzeria Don Camillo an der Steinberggasse einen Besuch abstatten. Ich bestätigte unsere Verabredung und legte auf.
Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Nina lag auf dem Sofa, den Kopf in den Schoss der Mutter gelegt. Sie weinte geräuschvoll, und ihre Schultern zuckten. Auch Frau Behrens liefen die Tränen über die Wangen. Nina wandte den Kopf, als sie mich hörte. Ihr Gesicht war gerötet, die Augen verquollen, die Haare zerzaust. Sie sah nicht mehr aus wie ein Teenager. Sie sah aus wie ungefähr elf.
10 Zurück im Büro eröffnete ich eine Akte zu meinem neuesten Fall. Der Fall Luca Tanner. Dann rief ich Koller an. Wir vereinbarten einen Einvernahmetermin für den kommenden Nachmittag. Ich war nicht ganz ehrlich am Telefon und teilte Koller lediglich mit, meine Mandantin wolle eine Aussage zum Tod von Luca machen. Den Inhalt dieser Aussage – dass Nina sich selbst beschuldigte – behielt ich für mich. Das würde Koller noch früh genug erfahren.
Ich erledigte einige Dinge für andere Mandanten, schrieb Rechnungen und Mahnungen. Die schlechte Zahlungsmoral meiner Klienten versetzt mich immer wieder in Staunen. Wenn man schon eine Rechnung nicht bezahlt, dann vielleicht besser nicht die des Anwalts.
Ich hielt einen Schwatz mit meinem neuen Büronachbarn, einem jungen Immobilienmakler, der die Räumlichkeiten von seinem Vorgänger, einem freien Journalisten, übernommen hatte, und rauchte die eine oder andere Zigarette unter dem blühenden Magnolienbaum im kleinen Vorgarten. Draussen war es bereits dunkel, als ich endlich Schluss machte. Ich verliess meine Kanzlei, die an der Ecke Wülflinger-/Schaffhauserstrasse liegt. Der Kies knirschte unter meinen Füssen, als ich den Parkplatz hinter dem Haus überquerte. Ich blieb stehen. Dort, auf der anderen Seite der Bahngleise, steht der unverwechselbare Backsteinbau des Schulhauses St. Georgen. Ich verharrte einen Moment. Anstatt nach rechts in die Brunngasse abzubiegen, wandte ich mich nach links. Ich wollte mir den Ort, an dem Luca getötet worden war, genauer ansehen.
Es war unschwer zu erkennen, wo genau Luca gefunden worden war. Zahlreiche Blumen, kleine Plüschtiere und rote Grabkerzen waren links vom Haupteingang abgelegt worden, da, wo einer der steinernen Tischtennistische steht. Da, wo der Pausenplatz vom Bahnfussweg her wegen der Baustelle und den temporären Containern nicht einsehbar war. Ich näherte mich der Stelle zögerlich.
«Du bist für immer in unseren Herzen Luca» stand auf einem grossen Herz aus Karton. «Luca wir vermissen dich» las ich auf einem Stück Papier, das mit einer Kerze beschwert war. Ein Foto von Luca war an einen Topf mit violetten Primeln gelehnt. Er war ein hübscher Junge gewesen, braune Haare, helle Augen, offenes Gesicht. Er lachte breit, voller Leben. Dieses Leben war ausgelöscht worden, von einer Minute auf die andere. Wider Willen traten mir Tränen in die Augen, und ich musste schlucken. In diesem Moment vernahm ich ein paar Meter weit weg ein Geräusch. Es klang wie unterdrücktes Weinen. Ich wandte den Kopf, spähte in die Dunkelheit.
«Hallo?»
Keine Antwort, aber wieder hörte ich das Schluchzen, lauter diesmal. Ich machte ein paar Schritte und da, an die Rückseite des Baumstammes gelehnt, sass ein Mädchen. Es trug eine dunkle Jacke und umklammerte seine angezogenen Beine, das blasse Oval des Gesichts war gesenkt. Sollte ich es ansprechen? Oder liess man Trauernde nicht besser in Ruhe? Andererseits schien es dem Mädchen nicht gut zu gehen, es war kalt, es war spät und dunkel. Es sollte nicht allein hier sitzen. Wer wusste, was sich hier abends für Gestalten herumtrieben?
«Kann ich dir helfen?», fragte ich.
Ein Schluchzen war die Antwort, der Oberkörper des Mädchens schüttelte sich vor Kummer.
Ich ging noch näher, kauerte mich neben es hin. Eine Weile blieb ich einfach so, ohne mich zu rühren, ohne etwas zu sagen. Das Schluchzen verebbte, das Mädchen schniefte ein paar Mal.
«Hier.» Ich streckte ihm ein Taschentuch hin.
Zuerst reagierte es nicht, dann griff es nach dem Tuch, tupfte sich die Augen, schnäuzte geräuschvoll.
«Weinst du wegen Luca?», fragte ich.
Sie nickte.
«Wart ihr befreundet?»
«Ich … ja … wir …».
Ein erneuter Schluchzer war die Antwort. Vor lauter Schniefen und Weinen brachte das Mädchen keinen ganzen Satz zustande. Irgendwie musste ich es beruhigen. Aber zuerst musste ich meine Position verändern, ich war definitiv zu alt, um noch länger in der Hocke zu verharren. Mühevoll stand ich auf, unterdrückte ein Stöhnen.
«Wie heisst du?», fragte ich.
«Julia.» Sie schniefte.
«Komm», sagte ich. «Du kannst hier nicht allein bleiben. Ausserdem wirst du dich erkälten.» Ich hielt ihr die Hand hin. Julia ignorierte sie, doch nach einigem Zögern stand sie von allein auf. Sie war eher klein und sehr schlank, was durch die engen Jeans noch betont wurde. Lange braune Haare umrahmten ihr Gesicht. Normalerweise war sie sicherlich sehr hübsch, puppenhaft, mit grossen Augen und kleiner Nase. Im Moment allerdings waren diese Augen verschwollen und gerötet, schwarze Mascarastreifen zogen sich über die Wangen.
«Soll ich dich nach Hause bringen, Julia?»
Julia schüttelte den Kopf. «Ich bin kein kleines Kind mehr.» Sie klang abweisend. «Wer sind Sie überhaupt? Von unserer Schule sind Sie nicht, ich habe Sie noch nie hier gesehen.» Sie musterte mich misstrauisch. «Sind Sie verwandt mit Luca?» Sie sah mich zweifelnd an.
Mit meiner hellbraunen Haut und den krausen Haaren hatte ich so nichts mit Luca gemein. Ich schüttelte den Kopf. «Ich habe beruflich mit Lucas Tod zu tun. Ich bin Moira. Moira van der Meer.»
Wieder musterte sie mich. «Beruflich? Heisst das, Sie sind von der Polizei oder so? Ich hab mich schon gefragt, wann wir endlich befragt werden.»
Ich überlegte, was ich ihr sagen sollte und fing langsam an, über den Pausenhof zu gehen. Julia ging automatisch neben mir her. Dass ich Ninas Anwältin war, konnte und durfte ich ihr im Moment nicht verraten. Nina stand offiziell noch in keinem Zusammenhang mit Lucas Tod. «Nicht ganz», antwortete ich ausweichend und wechselte schnell das Thema. «Gibt es denn Vermutungen, was mit Luca passiert ist?»
«Alle mochten Luca. Alle wollten mit ihm befreundet sein. Er war der Letzte, von dem man gedacht hätte, dass er umgebracht wird.» Wieder flossen die Tränen.
«Wie war er denn?»
«Er war …» Julia schniefte. «Er war der bestaussehende Typ des ganzen Schulhauses.» Sie deutete auf das St. Georgen. «Er war cool, ich meine, er stand über den ganzen Dingen, die für andere Jungs so wichtig sind. Blöde Sprüche und so, das hatte er nicht nötig. Er war … Er gab einem das Gefühl, einzigartig zu sein.»
«Dir auch?»
Julia gab keine Antwort, sah mich lediglich durch einen Tränenschleier an. «Er hat es einfach nicht verdient zu sterben, verstehen Sie? Er hat es nicht verdient!» Sie trat halbherzig gegen einen Betonpfeiler. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Julia eine Show abzog. Sie mochte tatsächlich um Luca trauern. Aber gleichzeitig genoss sie es, Aufmerksamkeit zu erhalten.
Mittlerweile waren wir bei der Theaterstrasse angelangt.
«Es gibt keine Gerüchte?»
Sie sah mich ausdruckslos an.
«Was glaubst du denn? Was ist deiner Meinung nach passiert?»
Julia stierte vor sich hin. «Keine Ahnung», sagte sie. «Irgendein Ausländer wahrscheinlich. Einer von diesen jungen Asylheinis; die sind doch alle nicht ganz sauber. Von uns war es auf jeden Fall keiner.»
«Von uns?»
Sie deutete mit dem Kinn zum Schulhaus. «Vom St. Georgen. Alle haben Luca gemocht, hab ich doch gesagt. Die Mädchen sind total auf ihn abgefahren, und die Jungs haben ihn bewundert.» Sie sah sich unruhig um. «Ich muss jetzt gehen. Meine Eltern warten sicher schon.» Auf einmal schien ihr die Uhrzeit bewusst zu werden.
«Nur eine Frage noch. Hatte Luca Feinde?»
«Feinde?» Julia zuckte mit den Schultern. «Nicht, dass ich wüsste.»
Ich wollte nachhaken, aber sie hatte sich bereits umgedreht.
«Ich muss jetzt wirklich gehen.»
«Pass auf dich auf, Julia», sagte ich.
Sie zeigte keine Reaktion.
Ich blieb einen Moment stehen. Das war eine merkwürdige Begegnung gewesen. Lucas Tod schien Julia mitzunehmen, sie trauerte. Aber da war noch etwas anderes an Julia, etwas Hartes, Selbstbezogenes, das ab und zu durchgeschimmert war. Ich dachte darüber nach, was Julia mir erzählt hatte. Er hatte keine Feinde gehabt. Alle hatten Luca gemocht. Das passte nicht zu dem, was Nina erzählt hatte. Es passte ganz und gar nicht.
11 «Ich bin nicht sicher, ob du an Halloween teilnehmen solltest.» Rosmarie Martin hat Mathilda den Rücken zugewandt und macht sich in der kleinen offenen Küche zu schaffen. «Das ist ein heidnischer Brauch. Und abends so lange unterwegs sein? Ich weiss nicht.»
«Ich gehe mit Nina und Alisar.»
Mathilda sitzt am Esstisch und betrachtet über die Theke hinweg den schmalen Rücken ihrer Mutter, sieht die rhythmischen Bewegungen, mit denen sie hingebungsvoll einen Kochtopf schrubbt. «Da ist doch nichts dabei. Wir gehen durchs Quartier, läuten an den Türen und fragen nach Süssigkeiten. Das ist nicht gottlos.»
Die Mutter stellt den Topf auf die Ablage, schweigt.
«Alle machen das», fügt Mathilda jämmerlich an.
«Wir sind aber nicht alle», sagt die Mutter.
Mathilda seufzt. Vor ihr liegt aufgeschlagen das Matheheft, mit einem Bleistift zeichnet sie abwesend kleine Figuren auf den Seitenrand. Einen Jungen im Kapuzenpulli. Ein Mädchen mit langen lockigen Haaren.
«Hast du gehört?» Die Mutter wendet sich ihr zu. Ihre Hände stecken in rosafarbenen Gummihandschuhen, Schaum tropft auf den Boden. «Wir sind nicht alle. Wir sind auserwählt. Gott hat uns auserwählt.» Ihre Augen haben wieder diesen entrückten Blick, den Mathilda so hasst.
«Ach Mama.» Mathilda schaut die Mutter unglücklich an, klingt aber zugleich ungeduldig. Weshalb kann ihre Mutter nicht einfach normal sein, so wie die Mutter von Alisar? Oder die von Nina? Wieso läuft sie die ganze Zeit in Röcken durch die Gegend und trägt das dünne, mit grau durchzogene Haar lang und offen, ohne erkennbare Frisur? Manchmal schämt sich Mathilda für ihre Mutter. Und dann fühlt sie sich schuldig, weil sie solche Gedanken hat. Früher war die Mutter nicht so extrem. Aber seit ihr Vater gegangen ist, ist es immer schlimmer geworden.
Rosmarie streift die Handschuhe ab, legt sie sorgfältig neben die Spüle, zieht die blaue Küchenschürze über den Kopf, faltet sie. «Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus, wie er uns auserwählt hat in ihm vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und untadelig seien vor ihm in Liebe», zitiert Rosmarie. Sie umrundet die Theke, setzt sich zu Mathilda an den Tisch. Diese klappt schnell das Matheheft zu.
«Lass uns beten, Mathilda.» Rosmarie greift nach Mathildas Händen. «Lass uns beten. Gott wird uns die Antwort geben.»