Kitabı oku: «Kreuz Teufels Luder», sayfa 5
Die anderen Schwestern kamen zurück und stellten uns in eine Reihe. Nur Alioscha durfte sich auf den Tisch setzen. Eine der Schwestern musste mich vom Fenstersims holen, denn ich wollte von dort nicht mehr weg. Als sie mich zu packen versuchte, rannte ich los und schwupps, ging das Fangisspiel los. Da ich viel kleiner war als die Schwester, konnte ich unter den Tischen durchschlüpfen und ihr entkommen. Es war herrlich, so herumzutoben, schneller und flinker zu sein als die Frau in ihren schwarzen, langen Tüchern. Ich vergass meine Angst. Noch zwei Schwestern liessen sich von meiner Freude am Fangis anstecken, und das freute mich sehr. So hatte ich noch nie mit Grossen spielen dürfen. Die Krönung wäre gewesen, wenn auch die schwarzen Frauen sich getraut hätten, unter den Tischen durchzukriechen. Sie beugten sich aber nur unter die Tische, sodass ihre Köpfe ganz rot wurden, und riefen mir etwas zu. Aber ich verstand es nicht.
Ein Mann spielte schliesslich den Köder: Er verführte mich mit Schokolade. Er schob mir kleine Stücke unter den Tisch. Süss schmeckten diese braunen Schokoladentäfelchen, und ich wollte noch mehr davon haben. Also kroch ich unter dem Tisch hervor. Es gab dann aber nur noch ein letztes, kleines Stück, bevor er mich packte, lachte und mich zurück in die Reihe zu meinen Geschwistern stellte. Die anderen bekamen jetzt auch Schokolade als Belohnung für ihr strammes Warten. Aber dann fing dieser Mann an, Alioscha anzufassen. Und so tanzte ich wieder aus der Reihe, um besser sehen zu können, was mit Alioscha geschah. Die schwarzen Frauen hielten Stifte in der Hand. Sobald der Mann etwas sagte, hatten sie allerhand zu schreiben. Auch das gefiel mir nicht. Ich fürchtete, sie könnten Alioscha damit zum Verschwinden bringen, dass man ihn am Ende nur noch auf dem Papier sehen könnte. Der Mann fuhr mit einem Kamm über Alioschas Köpfchen, starrte dann auf den Kamm, schüttelte den Kopf und lächelte Alioscha an. So wie er ihn anlächelte, war das ein gutes Zeichen für mich.
Alioscha sollte auch den Mund aufmachen, was ihm nicht gefiel, und er weinte bitterlich vor sich hin, als der Mann ihm den Mund öffnete. Doch Alioscha, gar nicht dumm, biss ihm dafür mit seinen wenigen spitzen Zähnen den Finger wund. Ich war stolz auf ihn, weil er sich so gut wehren konnte. Es wurde noch allerhand an diesem kleinen, weinenden Kind herumgefingert und dann aufgeschrieben. Als sie damit fertig waren, nahm eine Schwester Alioscha auf den Arm und verschwand mit ihm. Es ging so schnell, dass ich nicht wusste, wohin. Ich spürte, wie mein Körper sich verkrampfte und mein Herz schreien wollte, aber nicht konnte. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, die sich wie Feuer anfühlten. An Mascha durfte kein Mann heran! Ich schrie und tobte und stampfte mit den Füssen, so fest ich konnte, weil seine Hände nicht von Mascha liessen. Ich krümmte mich auf dem Boden und über mir war diese fremde, schwarze Frau, die mich fest umklammerte. Ich konnte sie atmen hören. Endlich liess der Mann Mascha los, mein Körper entspannte sich, das Feuer wich aus meinen Fäusten, das Schreien in mir hörte auf. Mein Herz musste nicht mehr rasen, und ich hörte, wie es zu summen begann.
Dann wurde Mascha weinend von einer schwarzen Frau aus dem grossen Saal getragen und war auch verschwunden. Arabat und ich waren nun allein mit zwei Schwestern und diesem Mann. Arabat liess alles mit sich machen. Seine Augen waren leer. Ich konnte darin so wenig erkennen wie in der schwarzen Nacht vor dem Fenster. Nur war es in seinen Augen nicht schwarz, sondern grau, nicht einmal eine Träne, gar nichts war da. Auch Arabat verschwand mit einer Schwester. Sie hatte keine schönen Farben um sich herum, und ich traute ihr nicht. In meiner Seele wusste ich, dass Arabat nichts Gutes geschehen würde, aber Arabat lief mit ihr mit. Ich blieb allein zurück mit dem Mann und der letzten Schwester. Der Mann wollte mit mir dasselbe tun wie mit meinen Geschwistern, aber ich liess es nicht zu. Ich wehrte mich mit heftigen Bissen, sodass er nicht an mich herankam und mich schliesslich mit der Schwester aus dem Raum gehen liess. Sie wollte mir die Hand reichen, ich ergriff sie aber nicht. Wir gingen wieder diesen langen Gang entlang, und wieder gab es eine Tür, die sich öffnete, und ich musste hinein ins Ungewisse. Ich stand vor einer langen Holztreppe, die sich die Wand entlangschlängelte. In der Mitte jeder Stufe war ein kleiner, geblümter Fleck, den ich mir auf den Knien genauer anschauen musste. Die Schwester wartete geduldig auf mich. Ich fuhr mit der Hand über den Fleck, und er kratzte, nur nicht an jenen Stellen, wo er ganz glatt war – als hätte er dort keine Haare, die ihm zu Berge standen. Ich musste an ihm riechen, und er roch nach vielen verschiedenen Füssen.
Die Blümchen luden mich ein, auf sie zu treten und die Treppe hochzugehen. Ich achtete darauf, dass ich immer schön auf die glatte Stelle trat, denn dort hatte es fast keine Blümchen. Diese Treppe war lang, ich hatte noch nie so viele Stufen hinaufsteigen müssen, und meine Beine mussten viel arbeiten. Ich wurde müde und setzte mich auf eine Stufe. Die Schwester setzte sich neben mich und redete zu mir, doch ich verstand das meiste nicht. Ich schaute sie nur an. Es war seltsam, ein Gesicht zu sehen, aber keine Ohren und keine Haare. Ihre Augen strahlten, als sässen zwei kleine Flammen darin. Die Schwester nahm behutsam meine Hand und ich liess es zu, denn sie war so warm und freundlich und zart. Ich musste weiter die Treppe hoch. Da war wieder eine Tür und neben der Tür ein Stuhl, auf dem eine schwarz eingehüllte Frau mit einem Buch in der Hand sass. Die beiden Schwestern begrüssten sich, und es ging weiter die Treppe hoch, es schien kein Ende zu nehmen. Es kam mir vor, als würde ich in den Himmel steigen. Endlich müde im Himmel angekommen, öffnete sich für mich eine letzte Tür, und ich sah einen grossen Raum mit vielen, vielen Betten. Es war unheimlich still. Die Schwester hielt den Finger vor den Mund, was wohl bedeutete, dass ich nicht mehr atmen sollte. Das versuchte ich, aber ohne ein- und auszuatmen konnte ich nicht weitergehen, also blieb ich einfach stehen, bis ich nicht mehr konnte und nach Luft ringen musste. Die Schwester hob mich vorsichtig auf den Arm und trug mich zwischen den vielen Betten hindurch an ein Fenster, das ein wenig Licht in den grossen Raum hereinliess.
Nun war ich am Ende meiner Reise angekommen. Ich musste mich ausziehen und ein neues Kleidchen anziehen, das nach Seife roch. Ich wurde behutsam in ein Bett gelegt und zugedeckt. Eine Weile sass die Schwester neben mir, wachsam. Ich war müde von der Fahrt, und das Licht in ihren Augen liess mich in die Welt der Träume reisen. Als ich erwachte, blickte ich in die Nacht hinaus, in den Himmel, und ich konnte die Sterne leuchten sehen. Ich sah Alioscha, Mascha und Arabat vor mir, die alle weinten. Ich glaubte zu hören, wie sie meinen Namen riefen: «Luisa, Luisa, wo bist du? Komm uns holen!» Ich setzte mich auf und ihr Rufen verstummte. Ich rieb mir heftig die Augen und spitzte die Ohren. Ich konnte nur die unheimliche Stille hören in diesem viel zu grossen Raum mit diesen vielen Betten. Ich wagte kaum zu atmen. Ich schaute in den Schlafsaal und bemerkte, dass in jedem Bett ein Häufchen lag, das sich aufblies wie ein kleiner Ballon und dann die Luft wieder herausliess.
Ich hatte Heimweh nach meinen Geschwistern. Zu Hause schliefen wir immer zusammen in zwei Betten. Ich fühlte mich einsam ohne ihre Wärme. Ich kletterte aus dem Bett und machte mich so leise wie möglich auf die Suche nach ihnen. Ich lief von Bett zu Bett und schaute in die schlafenden Gesichter. Um sie zu erkennen, musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen und mich im Gleichgewicht halten. Aber keines der Gesichter gehörte zu meinen Geschwistern. Auch mit der Nase konnte ich sie nicht ausfindig machen, denn ein strenger Seifengeruch lag in der Luft. Ich ging wieder zurück zu meinem Bett, kletterte hinein und deckte mich zu. Ich schaute in die Nacht hinaus, hoch hinauf zu den leuchtenden Sternen, die friedlich vor sich hin strahlten, bis meine Augenlider schwer wurden.
Als ich erwachte, standen lauter kichernde Mädchen um mich herum und zupften und rupften an meiner Decke und meinem Kleidchen. Sie kamen mir vor wie wild gewordene Vögel, die schon lange nichts mehr zu picken gehabt hatten. Es machte mir Angst, und ich versteckte mich unter der Decke. Aber sie wurde mir gleich wieder weggezogen, und eine der Schwestern stand neben mir mit Kleidern in der Hand. Eine andere hatte ihre liebe Mühe, die Mädchenhorde zusammenzutrommeln.
Die Schwester nahm mich bei der Hand. Ich war froh um ihre Hand, denn ich fühlte mich verloren. Ich glaubte, wir würden nun zu meinen Geschwistern gehen, hinaus und die grosse Treppe hinunter. Doch wir gingen durch einen Gang, den ich nicht kannte, und eine andere Treppe hinunter. Es roch muffig, es stank. Auf den Steinstufen hätten meine kleinen Füsse zehnmal Platz gehabt. Wieder ging eine Tür für mich auf, und ich befand mich in einem hohen Raum mit Steinmauern und kleinen, schmalen Fenstern. Die Luft war rauchig und feucht. Es roch nach Seife. An der Wand stand ein Gefäss, gross wie ein Boot, unter dem ein Feuer brannte. Als mir die Schwester das Kleidchen auszog, wusste ich: Da musste ich hinein. Ich wollte nicht in diese grosse Pfanne, ich wollte nicht gekocht werden und stampfte und schrie, als wäre der Teufel hinter mir her. Hatte man Arabat, Mascha und Alioscha auch gekocht?
Mein Schreien und Stampfen half nichts. Ich wurde in den Topf gesetzt und plötzlich umgab mich eine angenehme Wärme. Ich hörte auf zu schreien. Aber kaum gefiel mir etwas, kam wieder etwas, was ich hasste: Meine Haare wurden nass gemacht, eingeseift und ausgespült, es brannte in den Augen. Dann wurde ich aus der Pfanne gehoben und trocken gerieben, vom Kopf bis zu den Füssen. Ich roch nur noch nach Seife, wie alle anderen in diesem Haus. Ich war nun eine von ihnen. An meinen Haaren wurde herumgerupft und mit einem Messer hantiert. Meine Kopfhaut juckte. Mein Haar wurde nicht zu zwei Schwänzchen gebunden, wie meine Mutter es machte, sondern eng geflochten. Meine Kopfhaut juckte.
Geputzt und gestriegelt, durfte ich dieses Gemäuer endlich verlassen, und ich fühlte mich, als hätte ich nun auch noch meine Seele verloren. Ich, Luisa, war mir fremd. Ich roch nicht mehr wie Luisa. Ich stieg die dicke Steintreppe hinauf und gelangte in den Saal, den ich schon kannte. Es war laut, und die vielen Tische und Stühle waren von Kindern besetzt. Ich liess mich auf einen freien Stuhl fallen und wartete, bis meine Seele wieder zu mir zurückfand. Ich sass bei vielen Mädchen am Tisch, und wir reichten uns die Hände. Die Mädchen sangen ein Tischgebet, und endlich durfte ich etwas essen. Es schmeckte mir nicht. Das Brot war sauer und machte mir Bauchweh.
Dann verging Tag um Tag, und ich gewöhnte mich allmählich an die Grösse dieses Kinderheims. Aber das Heimweh nach meinen Geschwistern wurde immer stärker. Sie waren in einem anderen Gebäude bei den Säuglingen und Kleinkindern untergebracht. Mein Bruder Arabat war zwar im selben grossen Gemäuer wie ich, doch die Buben und Mädchen wurden getrennt. Nur die Mahlzeiten im grossen Speisesaal durften wir drei Mal am Tag zusammen mit den Buben geniessen, unter strenger Aufsicht und in absoluter Stille. Am Anfang und am Schluss der Mahlzeiten wurde gesungen. Ich war sehr einsam unter den vielen Mädchen. Das meiste, was sie sagten, konnte ich nicht verstehen, weil wir zu Hause nur Jiddisch, Jenisch und Hebräisch sprachen. Ich war in einem fremden Land, unter fremden Menschen.
Drei
Ich, Luisa, war mit all den anderen Mädchen für lange Zeit im obersten Stockwerk untergebracht, im Schlafsaal. Die vielen Treppen, die ich steigen musste, rundeten den Tag ab und übergaben mich der Nacht. Die Betten waren in zwei Reihen aufgestellt, vor jedem ein Stuhl für die Kleider. Fein säuberlich gefaltet musste ich sie am Abend hinlegen. Am Anfang gelang mir das nicht recht, und bevor ich ins Bett durfte, musste ich so lange vor diesem Stuhl stehen, bis ich es schaffte. Dann konnte ich endlich in das Land der Träume eintauchen. Ich lag im Bett, schaute in die Nacht hinaus und bestaunte die vielen hellen Sterne, manchmal auch den Mond. Ich wurde immer trauriger, und vor lauter Trauer verschlug es mir allmählich die Sprache.
Das Aufstehen am Morgen war das Schwierigste. Ich hatte Angst, aus dem Schlafsaal zu gehen und in den Tag hinein. Die Buben, zu denen auch mein Bruder Arabat gehörte, hatten ihren Schlafsaal unter uns. Wir Mädchen mussten immer zuerst an den Buben vorbei in den Speisesaal gehen. Hatte einer von ihnen ins Bett gemacht, mussten wir zu ihm sagen: «Du hast ins Bett gemacht. Pfui, du bist ein böses Kind!» Die Tage, an denen sich das auch Arabat von uns Mädchen bieten lassen musste, wurden immer zahlreicher. Seine tieftraurigen Augen versetzten meinem Herzen jedes Mal einen schmerzhaften Stich. Ich konnte ihm kein Lächeln schenken, was ich zu Hause oft gemacht hatte. Arabat war sehr einsam, wie ich. Ein einziges Mal nahm ich seine Hände, als ich vor ihm stand, aber eine Schwester trennte uns heftig und gab uns eine Ohrfeige. Zum Glück hatte Arabat das Weinen nicht verlernt. Ich hatte es zu Hause auf dem Tisch verloren, doch innerlich weinte ich Tag und Nacht. Arabat lernte nicht, das Bett bis zum Morgen trocken zu halten.
Ich zog mich in eine Welt zurück, die niemand kannte. Jeden Abend schlüpfte ich aus meinem kleinen Körper hinaus, aber nicht mehr zur Decke hinauf, um mich selbst zu beobachten. Nein, ich hatte gelernt, auf diese Weise meine Geschwister zu besuchen, um ihnen nahe zu sein und mit ihnen zu kuscheln. Doch dieses Kuscheln genügte mir nicht, und die Reisen zu meinen Geschwistern waren anstrengend. Ich wurde davon immer trauriger und blasser.
Wenn ich konnte, klebte ich in dem grossen Essraum mit der Fensterfront stundenlang an der Scheibe und schaute in den grossen Garten. Bis eines Tages ein Kopf vor diesem Fenster hin und her spazierte. Es war ein weisser Kopf ohne Augen, Ohren, Nase und Mund, der immer nur hin und her ging. Ich schloss die Augen und dachte: «Jetzt ist er weg!» Doch als ich die Augen öffnete, war er wieder da. Meine Angst wurde immer grösser, bis ich vor allen Kindern, die still dasassen, zu schreien begann. Mein Schreien schlug in die Stille ein wie ein gewaltiger Blitz. Die Schwestern kamen angerannt, als jagte ein Bienenschwarm hinter ihnen her. Ich hatte schreiend meine Sprache wiedergefunden und zeigte auf den weissen Kopf, der immer noch ganz gemütlich vor der Fensterfront hin und her spazierte. Aber ich begriff schnell, dass niemand ausser mir ihn sehen konnte. Eine Schwester führte mich hinaus und steckte mich ins Bett. Ich zog die Bettdecke über den Kopf, denn ich wollte nichts mehr hören und sehen. Ich hatte genug gesehen.
Der weisse Kopf erschien immer wieder, wenn ich im Esssaal war. Mit der Zeit wurde er zu meinem ständigen Begleiter und bald freute ich mich sogar, ihn da zu sehen. Dann konnte ich in die Welt hinauslachen, zum Erstaunen der anderen, die nicht wussten, weshalb ich lachte. Im Garten war auch immer ein Mann zu sehen, der Einzige im Heim. Er machte sich dort an den Bäumen und Sträuchern zu schaffen. Manchmal kämpfte er mit einem grossen Schwert gegen die langen Gräser, die dann auf dem Boden liegen blieben, bis er sie mit einer grossen, schweren Gabel zusammenschob, als müsse er das Gras aufessen.
Seit meiner ersten Begegnung mit dem Geist durfte ich nicht mehr beim grossen Fenster sitzen. Aber wir wurden in den Garten geschickt zum Spielen. Die Buben durften immer zuerst nach draussen. Erst wenn sie wieder im Haus waren, durften wir Mädchen hinaus. Die Schwestern sprachen oft mit dem Mann im Garten, und so waren ihre Augen nicht immer auf uns gerichtet. Es gelang mir, zu entwischen und im Garten mein eigenes Abenteuer zu suchen. Es gab dort so vieles zu entdecken und zu bestaunen. Für mich war es ein Paradies. Mehrere kleine Häuschen standen verstreut zwischen Sträuchern, als wollten sie sich verstecken. Wenn man nicht genau hinschaute, sah man sie kaum. Ich wollte natürlich wissen, was in diesen Häuschen drin war, ob vielleicht jemand darin wohnte, vielleicht sogar Kinder. Aber ich war noch zu klein, um an den Türriegel zu gelangen, auch wenn ich die Zehen spitzte. Ich musste etwas zum Hinaufsteigen finden, das ich aus eigener Kraft schieben oder tragen konnte, einen Stuhl vielleicht. Nach langem Suchen fand ich einen Kübel voller Gartengeräte.
Ich leerte den Kübel und trug ihn zu dem Häuschen, das ich auskundschaften wollte. Ich stellte mich darauf und versuchte, die Tür zu öffnen, aber meine Kraft reichte nicht aus. So ging ich rund um das Häuschen und entdeckte ein kleines Fenster, das mit kräftigen, grünen Blättern und vielen kleinen Wurzeln überwachsen war. Ich war auch zu klein, um durch das Fenster zu schauen. Aber auch hier half mir der Eimer, der vor der Tür nur darauf wartete, mit mir eine neue Herausforderung zu bewältigen. Trotzdem gelangte ich nicht ganz an das Fenster heran. Da es nach aussen gekippt war, konnte ich mich aber mit beiden Händen daran hinaufziehen, und meine Füsse halfen mir, ganz nach oben zu klettern. Ich zwängte mich durch die Öffnung hindurch, klammerte mich am Fensterrahmen fest und fand mit den Füssen einen festen Untergrund. Meine Hände schmerzten und bluteten ein wenig.
Ich stand hoch oben auf einem Gestell mit lauter Flaschen, Büchsen und Schläuchen, alles fein säuberlich nebeneinander, aber staubig. Der kleine Raum war voll mit Gestellen. An einem blieben meine Augen hängen: Darauf lagen ganz viele bunte Bälle, und sie sahen aus, als hätte sie noch nie jemand angerührt. Ich kletterte vorsichtig hinunter, sodass nichts in die Brüche gehen oder herunterfallen konnte. Endlich bei den bunten Bällen angelangt, traute ich meinen Augen nicht: Die Bälle dufteten wie neu erfunden, es gab kleine und grosse in allen Farben, prall gefüllt mit Luft! Sie luden mich ein, mit ihnen zu spielen, denn bis jetzt war es ihnen langweilig gewesen in diesem Verliess. Ich vergass die grosse Welt draussen und rollte die Bälle, spielte sie an die Decke, fing sie wieder auf, schnupperte an ihnen. Ich räumte auch die Gestelle auf, in denen sie lagen. Danach waren viele Sachen am Boden verstreut, die im Gestell hätten bleiben sollen. In den Ecken und an den Wänden hingen kleine Netze, an denen Fliegen und andere kleine Lebewesen hingen. Die Bälle und ich, wir holten sie herunter. Es stob, und ich musste immer wieder niesen, da es mich in der Nase kitzelte. Unser Spiel hörte erst auf, als plötzlich verschiedene Stimmen die Luft mit meinem Namen füllten.
Ich wusste, dass ich schnell wieder hinausmusste. Auf den Zehenspitzen versuchte ich, die Tür von innen zu öffnen. Doch es war dasselbe schwierige Unterfangen, wie von aussen nach innen zu gelangen. So blieb mir nichts anderes übrig, als auf das Gestell hochzuklettern und mich wieder durch die schmale Fensteröffnung hindurchzuzwängen. Doch der Rückweg stellte sich als einiges schwieriger heraus. Mein Körper sass fest und kam auch mit aller Kraft nicht weiter. Die Stimmen, die meinen Namen riefen, klangen immer unfreundlicher, sie machten mir Angst. Ich gab auf und kroch rückwärts wieder hinunter. Erschöpft setzte ich mich auf den kühlen Holzboden neben die vielen, bunten Bälle, die mich freundlich anstrahlten. Bald konnten sich meine müden Augen nicht mehr offen halten, und ich reiste für eine ganze Weile in die Welt der Träume. So lange, bis ich ausgeträumt hatte und die Kälte mich zurückholte. Es waren keine Stimmen mehr zu hören, nur die Dunkelheit hielt mich in ihren Armen. Es war so dunkel, dass ich gar nichts erkennen konnte. Auch die bunten Bälle hatten sich in der Dunkelheit versteckt.
In die Stille horchend hörte ich, wie es um das Häuschen herum ganz leise raschelte. Das Geräusch erschreckte mich, und ich wünschte mir plötzlich, im grossen Haus bei den anderen zu sein. Das Geraschel näherte sich dem Fenster, ich versuchte, etwas zu erkennen. Ich konnte nur einen Schatten ausmachen, der sich langsam und behutsam bewegte. Das waren keine Menschen. Aber was sonst bewegte sich so leicht geschmeidig an diesem Fenster? Angst und Neugierde hielten sich in mir fest umschlungen. Sie waren wie Verwandte, die auf meinen abenteuerlichen Reisen immer dann aufeinandertrafen, wenn ich grossen Mut beweisen musste. Plötzlich sprang der Schatten hoch, weich und geräuschlos. Dann hörte ich ein leises Schnurren, wie ein Motörchen, das die Stille füllen wollte. Es war eine Katze, und ich war nicht mehr allein.
Die Katze näherte sich mir mit weichen Bewegungen, und mit einem ebenso weichen Miauen erzählte sie mir eine Geschichte aus ihrem Katzentag. Sie hatte viel zu erzählen und liess sich lange von mir streicheln, lag auf meinem Schoss und wärmte mir den Bauch, die Hände und die Beine. Vom Streicheln und Schnurren wurde ich müde und schlief wieder ein. Als mich die Kälte weckte, war die Katze weg. Von draussen konnte ich das frühmorgendliche Konzert der Vögel hören, es kam mir vor, als feierten sie ein grosses Fest. Ein bisschen Licht spähte durch das Fenster, es wollte wohl schauen, wie es mir ging. Und ich konnte schwach die Farben der Bälle wiedererkennen.
Fröstelnd zog ich mich nochmals am Fensterrahmen hoch, und das eingetrocknete Blut an meinen Händen wurde wieder lebendig. Statt mit dem Kopf voran versuchte ich es nun zuerst mit den Beinen, stützte mich mit den Händen an der Wand ab und konnte mich so aus dem Fenster schieben. Dann hielt ich mich am Fensterrahmen fest, liess mich in die Tiefe fallen und landete nicht gerade sanft neben dem Eimer, der immer noch dastand. Die Beine taten mir weh, und auch die Hände. Ich musste eine Weile einfach so liegen bleiben. Ich roch Sträucher und das Gras, Wassertröpfchen befeuchteten meine Lippen, und ich merkte, wie durstig ich war. Dann hörte ich Schritte und Gesang. Ich rappelte mich auf, ging leise um das Häuschen herum und sah einen Mann in einem langen, braunen Mantel mit Kapuze, um den Bauch einen langen Strick. Auch um seinen Hals hing ein Strick.
Er sang und sang in einer mir unbekannten Sprache. Ich stand ganz still, damit er mich nicht bemerkte. Er schloss die Tür zum Häuschen auf, und als er die Türfalle hinunterdrückte, knirschte sie, als wollte sie sagen: «Lass mich doch in Ruhe.» Mir schien, dass die Tür sich nicht so richtig öffnen wollte, denn sie knirschte weiter und stimmte mit ein in seinen Gesang. Der Kapuzenmann ging hinein. Die Tür blieb einen Spaltbreit offen, sodass ich mich anschleichen und hineinschauen konnte, ohne dass der Mann mich sah. Er rückte einen Tisch mit einem Stuhl darauf in die Mitte des Raums, stieg hinauf, stellte sich auf den Stuhl und hantierte ununterbrochen singend an der Decke herum. Ich konnte nicht so richtig sehen, was er machte. Plötzlich stiess er den Stuhl um und baumelte an der Decke. Er zappelte mit den Beinen, als wollte er durch die Luft rennen. Er zuckte noch eine Weile, dann wurde er wohl müde. Dann hing er da, als würde er schlafen.
Ich musste an die Katze denken, die ihr Zünglein draussen hatte, nicht mehr frass und nicht mehr auf ihren Beinen stehen konnte. Ich wollte nachsehen, ob der Kapuzenmann auch die Zunge draussen hatte, und schlich mich leise in den Raum. Ich konnte nicht recht sehen, ob seine Zunge heraushing, aber seine Augen waren gross, und er starrte in den Raum. Dieses Starren erschreckte mich, und ich rannte aus dem Häuschen und in die Arme einer Schwester, die betend im Garten stand.
Dann ging alles sehr schnell. Ich stand plötzlich vor der Schwester Oberin. Tausende von Fragen prasselten auf mich nieder, es war, als würden mich grosse Wellen verschlingen. Ich rang nach Luft, bis mir ganz schwarz wurde vor Augen und ich in den tosenden Wellen die Orientierung verlor. Ich konnte keine einzige dieser vielen Fragen beantworten. Den Mann, der so oft in dem grossen Garten gewesen war, sah ich nie mehr.
*
Natürlich wollte ich danach auch die anderen Häuschen im Garten auskundschaften. Jedes Mal, wenn wir draussen spielten, suchte ich eine Gelegenheit, um zu verschwinden. Doch die Augen der Schwestern waren jetzt immer auf mich gerichtet. Bis es mir eines Tages schliesslich gelang, mich ihren Blicken zu entziehen, und meine Entdeckungslust mich wieder lebendig machte. Ich rannte davon, so schnell ich konnte, und stand plötzlich vor einem grösseren Häuschen. Die Tür stand offen, als hätte es auf mich gewartet und sich für mich geöffnet, damit ich nicht durch das Fenster klettern musste.
Drinnen lag ein riesiger Plastikknäuel. Er bewegte sich ganz langsam auf mich zu und machte eigenartige Geräusche. Dieses lebendige Plastik machte mir Angst. Trotzdem blieb ich stehen, starrte ihn an und hielt den Atem an. Er kam näher und näher, und ich wusste nicht, ob er mit mir spielen oder mich fressen wollte. Dann erschien wie aus dem Nichts der weisse Kopf. Er ging langsam zur Tür hinaus, kam wieder zurück und ging wieder hinaus, so als wollte er mir sagen: «Komm mit mir, ich bringe dich zurück.» Ich rannte davon. Mein Herz schien hinter mir herzurennen, so schnell waren meine Beine. Ich wollte an dem kleinen Häuschen mit den bunten Bällen vorbeirennen, doch meine Füsse liefen dort einfach nicht mehr weiter. Also blieb ich stehen und verschnaufte, bis auch mein Herz wieder bei mir war. Die Tür zum Häuschen stand einen Spaltbreit offen. Und auch ihr unfreundliches Knarren konnte mich nicht daran hindern, noch einmal hineinzugehen. Vielleicht warteten die bunten Bälle ja darauf, dass ich mit ihnen spielte.
Ich schaute zur Decke, wo der Kapuzenmann durch die Luft gerannt war, bis er ausgezuckt hatte. Aber es sah alles genauso aus, wie als ich durchs Fenster gekrochen war. Nur die bunten Bälle waren nicht mehr da. Ich dachte, sie hätten sich vielleicht versteckt, und begann sie zu suchen. Ich kletterte auf den Gestellen herum und schob alles zur Seite, aber die schönen Farben waren nirgends zu entdecken, und es lag auch kein Duft nach etwas Neuem mehr in der Luft.
Dann hörte ich eine Stimme meinen Namen rufen und beeilte mich, wieder zu den anderen zurückzukehren. Lauter fragende Augen schauten mich an, als ich wieder auftauchte. Eine Schwester packte mich schimpfend und schüttelte mich, hob ihre Hand und schlug mir ins Gesicht, sodass mein Kopf ganz heiss wurde und meine Wangen Feuer fingen. Ich vergoss keine Träne.
Wieder musste ich ins Büro der Schwester Oberin. Durch das Fenster sah ich auf der Strasse Mutter Lilith mit dem Kinderwagen auf und ab gehen. Ich wollte geradewegs zu ihr laufen. Doch ich musste dableiben und der Schwester Oberin zuhören. Ich hörte ihre Stimme nur aus der Ferne, denn ich wollte doch sehen, was in dem Scheesenwagen war. Ich wollte zu meiner Mutter, wollte sie riechen und bei ihr sein. Ich spürte, wie es mein Herz zerriss, weil ich nicht zu ihr durfte, und mein Körper begann zu weinen. Ich zitterte am ganzen Leib, bis ich mich nicht mehr auf meinen Beinen halten konnte und zusammenbrach. Dann kam der Mann im weissen Kittel, den ich von unserer Ankunft im Heim her kannte. Er stach mich und ich fiel in einen tiefen und heftigen Schlaf.
Von jenem Tag an musste ich jeden Abend ein kleines Becherchen mit einer Flüssigkeit trinken, die mir nicht schmeckte. Am Anfang spuckte ich sie wieder aus, bis die Schwestern anfingen, mich zu zweit dazu zu zwingen, sie zu schlucken. Die eine hielt mich fest, umklammerte mich mit dem Arm, als müsste sie mich ersticken, die andere hielt mir die Nase zu, bis ich den Mund öffnete und sie mir den Trank einflössen konnte. Sie krallte sich solange an meiner Nase fest, bis ich ihn geschluckt hatte. Danach schlief ich sehr schnell ein. Am Morgen war ich immer müde. Der Trank machte mich zu einem kleinen, leblosen Mädchen, das immer lieb und nett bei den anderen Mädchen blieb, nicht sprach und nicht lachte. Ich war in einer Welt, die still und ohne Farben war und in der ich keinen weissen Kopf mehr als Begleiter hatte.
Ich dachte, ich sei gestorben. Bald konnte ich das Bett nicht mehr verlassen. Die Einsamkeit machte mich krank. Ich vermisste die Wärme meiner Geschwister. Man rollte mich in Wolldecken ein, die mich von aussen wärmten, aber in mir drin wurde es kälter und kälter. Im grossen Schlafsaal war ich für Stunden ganz allein. Ab und zu kam eine Schwester, die mich mit viel Geduld und Überredungskunst dazu brachte, etwas zu trinken und zu essen. Eines Tages begann diese Schwester, an meinem Bett zu singen. Mein Herz wärmte sich an ihrem Gesang. Er erfüllte den Raum mit Freude, und ich konnte wieder Farben sehen. Licht und Wärme durchfluteten den Schlafsaal und liessen die Kälte weichen. Meine innere Kraft kam langsam zurück, und bald konnte ich wieder aufrecht sitzen.
Dann begann die Schwester, mir Geschichten zu erzählen. Ihr Singen gefiel mir aber besser, denn die Geschichten handelten immer von einem Mann, der alle Menschen liebte und alles heilen konnte. Das Geheimnis sei, einfach daran zu glauben. Einmal fragte mich die Schwester: «Glaubst du daran?» Ich schüttelte den Kopf. Es konnte nicht stimmen, dass es einen Mann gab, der so lieb war. Wenn sie aber Lieder sang über eine Mutter, die Maria hiess, gefiel mir das. Dann strömte viel Licht aus ihren Augen und Wärme strahlte durch ihr langes, schwarzes Kleid. Und ich stellte mir vor, dass diese Mutter Lilith sein könnte.
Als ich wieder gesund war, durfte ich mit dieser Schwester zusammen oft die Kapelle besuchen. Dort gab es an den Wänden grosse Bilder zu den Geschichten, die sie mir erzählt hatte. Die Mutter Maria stand in einem blau-weissen Kleid in einer Nische und schaute mich mit sanftem Blick an. Auf dem Arm hielt sie ein Kind, das Jesus hiess. Die Mutter und auch das Kind trugen einen strahlenden, goldenen Reif um den Kopf, der mir sehr gefiel. Ich schaute mir die vielen Bilder an den Wänden lange an, doch für meinen kleinen Kopf ergaben sie keinen richtigen Sinn. Maria und alle Erwachsenen in der Himmelswelt waren in lange Kostüme gekleidet. Nur die kleinen Kinder und die Engel, die sich durch diesen goldenen Kranz von den Kindern unterschieden, waren nackt. Die Bilder liessen mich wieder nackt auf dem Tisch tanzen, die Gerüche und das Stöhnen der Männer erfüllten plötzlich den Raum.
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