Kitabı oku: «Avatar - Der Herr der Elemente: Der Schatten von Kyoshi», sayfa 3
»Davon verstehe ich eben was.« Und nur so kann ich sicher sein, dass das, was ich tue, richtig ist.
Dieses Gespräch hatten sie bereits geführt, und zwar viele Male, doch Jinpa wurde es nicht müde, immer wieder davon anzufangen. Anders als die anderen Luftnomaden, die sie kennengelernt hatte und die ihre Loslösung von der Welt sehr schätzten, trieb er sie immer wieder an, sich eingehender mit ebenjenen zu befassen, die sie ausnutzen wollten. Er war nicht viel älter als Kyoshi, etwas über zwanzig, daher war es seltsam, wenn er mit ihr sprach wie ein Politiklehrer mit einem widerspenstigen Schüler.
»Irgendwann müsst Ihr auf einer größeren Bühne stehen«, sagte Jinpa. »Der Avatar schlägt Wellen in der Welt, ob er will oder nicht.«
»Ist das so eine Redensart bei deinen mysteriösen Freunden, von denen du mir nichts erzählst?«
Angesichts ihres ungeschickten Versuchs, das Thema zu wechseln, zuckte er nur mit den Schultern. Auch das frustrierte sie an Jinpa: Anders als Kirima oder Wong ließ er sich nicht auf irgendwelche Wortgefechte mit ihr ein. Er hatte zu viel Respekt vor ihr – ein Problem, das ihre alten Gefährten nicht gekannt hatten, selbst dann nicht, als sie erfahren hatten, dass sie der Avatar war.
Sie fragte sich, was geschehen würde, wenn der Mönch jemals die übrig gebliebenen Mitglieder der Fliegenden Operngesellschaft kennenlernte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er ihnen seine Hilfe anbieten würde, um ihrem Daofei-Leben zu entkommen. Und im Gegenzug würden sie wahrscheinlich versuchen, ihm seinen Bison zu klauen.
Nur eines würde sie dazu bewegen können, mit den Weisen zu sprechen. »Es steht aber in keinem Brief irgendwas über …«
»Meister Yun? Leider nicht. Er bleibt weiterhin verschollen.«
Kyoshi ließ ihren Atem langsam durch die Zähne entweichen. Während der Zeit, als die Welt noch geglaubt hatte, Yun wäre der Avatar, hatte er einen großen Aufwand betrieben, mit der Elite des Erdkönigreichs zu verhandeln. Was bedeutete, dass nur sie sein Gesicht kannten. Einen Mann irgendwo im Erdkönigreich aufzuspüren, wenn niemand wusste, wie er aussah, und ihnen einen Hinweis geben konnte, war so, als versuchten sie, in einer Kiesgrube einen bestimmten Kiesel zu finden. »Dann sollten wir die ausgesetzte Belohnung noch einmal erhöhen.«
»Ich weiß nicht, ob das was bringt«, entgegnete Jinpa. »Die prominenten Persönlichkeiten des Erdkönigreichs haben einen großen Gesichtsverlust hinnehmen müssen, weil sie Meister Yun fälschlicherweise als Avatar eingestuft haben. An ihrer Stelle würde ich gar nicht wollen, dass er wieder auftaucht. Ich würde so tun, als wäre das alles nie passiert. Ich hab gehört, Lu Beifong würde niemandem in seinem Haushalt, nicht einmal Gästen, erlauben, von Jianzhu oder seinem Schüler zu sprechen.«
Für einen Luftnomaden bekam Jinpa erstaunlich viel politischen Klatsch zu hören, aber gewöhnlich stimmten seine Beobachtungen. Lu – wie ein verfluchter Dorn im Auge. Als Jianzhus Unterstützer trug er in Kyoshis Augen ebenso viel Schuld an dem Fehler, wies aber nach wie vor alle Verantwortung von sich.
Sie hatte Lu Beifong persönlich gebeten, Yun zu finden, in der Erwartung, der alte Mann würde wenigstens einen Hauch großväterlicher Verbundenheit zeigen. Stattdessen hatte er nur kaltherzig auf den Brief hingewiesen, den er wie zahllose andere Weise im ganzen Erdkönigreich bekommen hatte. In diesem Brief stand, Kyoshi sei der Avatar – und dass Yun tot sei. Lu hatte sich zwischen den letzten Worten Jianzhus und Kyoshis wirrem Bericht vom Vorfall in Qinchao entscheiden müssen und hatte sich das ausgesucht, was am bequemsten für ihn war. Was ihn anging, hatte sich der Skandal erledigt. Ein Sieg des neutralen Jing.
Jinpa schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Es verlangt ja niemand, dass Ihr die Suche nach dem falschen Avatar aufgebt, aber vielleicht …«
»Nenn ihn nicht so!«
Ihre Rüge hallte im Zimmer wider. Sie musste nur daran denken, wie leicht alle Yun aufgegeben hatten, erst Jianzhu, dann Lu und der Rest des Erdkönigreichs, und sofort stieg frischer Zorn in ihr hoch. Jinpa wich ihrem Blick aus und senkte den Kopf. Während sie betreten schwiegen, wippte er nervös mit dem Fuß. Sie brauchte keine Bändigerfähigkeiten, um das Beben im Boden zu spüren.
»Ich werde jedem wichtigen Passkontrollpunkt Meister Yuns Beschreibung zukommen lassen«, sagte er schließlich. »Deren Arbeit besteht darin, Namen und Gesichter abzugleichen. Die gucken genauer hin als der durchschnittliche Beobachter.«
Das war eine gute Idee. Besser als alle, die ihr bisher gekommen waren. Nun tat es ihr doppelt leid, dass sie die Beherrschung verloren hatte. Sie musste sich für ihren Ausbruch entschuldigen, musste aufhören, solche Ausbrüche zu haben, wenn sich die Distanz zwischen Jinpa und ihr jemals verringern sollte.
Sie fürchtete sich jedoch vor dem, was Freundschaft mit sich brachte. All ihre bisherigen Wegbegleiter hatte sie in Gefahr gebracht. Und sie konnte ihre Erinnerungen an einen gewissen Luftnomaden nicht abschütteln, an seine Witze, seine Wärme, sein Lächeln.
»Kümmere dich darum«, sagte Kyoshi knapp.
Jinpa nickte. Dann zögerte er, als müsste er sich überlegen, wie er seine nächsten Worte am besten formulieren sollte. »Ich habe nicht alle Briefe von heute geöffnet. Einen hat ein Sonderkurier gebracht.«
»Die Hälfte aller Briefe werden von irgendwelchen ›Sonderkurieren‹ gebracht«, erwiderte Kyoshi verächtlich. Solche Schreiben kamen immer schrecklich pompös daher, auf die Umschläge war in greller grüner Tinte Dringend oder Ausschließlich für den Avatar bestimmt gestempelt. Es waren die üblichen Tricks, mit denen die Erdweisen um ihre Aufmerksamkeit buhlten.
»Dieser ist aber wirklich etwas Besonderes.« Jinpa griff in seine Robe und zog eine Postrolle hervor, die er dort verstaut hatte.
Sie war rot.
Auf dem Verschluss der stabilen Metallröhre prangten goldene Flammen. Inmitten der farblosen, aber fürs Erdkönigreich typischen Einrichtung ihres Apartments wirkte die Rolle wie ein glühendes Kohlenstück in einem ausgetrockneten Wald. Eine Armee von Wachssiegeln hielt die Nähte zusammen.
Jinpa überreichte ihr die Rolle mit beiden Händen, als handele es sich um ein wertvolles Relikt. »Ich glaube, sie kommt von Feuerlord Zoryu persönlich.«
Es war das erste Mal, dass ein Staatsoberhaupt sie direkt anschrieb. Kyoshi war dem Feuerlord noch nie begegnet und er hatte ihr bisher auch noch keine Nachrichten geschrieben. Ihr bisher einziger Kontakt mit der Regierung der Feuernation hatte stattgefunden, als die Neuigkeit ihrer Avatarschaft die Runde gemacht hatte: Damals war ein Abgesandter nach Yokoya geschickt worden. Der gut gekleidete Minister hatte zugesehen, wie sie nacheinander ein Quäntchen jedes der vier Elemente heraufbeschworen hatte, und er hatte jedes Mal genickt und einen Vermerk in seine Notizen gekritzelt. Er hatte Kyoshi seine Ehre erwiesen, war höflich zum Abendessen geblieben und am nächsten Morgen gen Heimat aufgebrochen, um seinen Bericht abzuliefern. Sie hatte es sehr zu schätzen gewusst, wie wenig Kummer er ihr im Gegensatz zu ihren eigenen Landsleuten bereitet hatte.
Die Siegel zu brechen und die Hülle zu öffnen kam ihr vor, als würde sie ein historisches Artefakt beschädigen. Sie gab acht, dass die ursprüngliche Form des Wachses weitestgehend erhalten blieb, dann entrollte sie das Papier in der Hülle.
Das Schreiben kam direkt zum Punkt, entbehrte jeglicher Schnörkel, die Erdkönigreichsbeamte für nötig erachteten, um sich bei ihr einzuschmeicheln: Lord Zoryu brauche die Unterstützung des Avatars in einer national bedeutsamen Angelegenheit. Wenn sie als sein Ehrengast in den Königspalast kommen und am Szeto-Fest teilnehmen würde, einem wichtigen Feiertag der Feuerinseln, dann könne er ihr alles Weitere persönlich erklären.
»Und was steht drin?«, fragte Jinpa.
»Es ist eine Einladung, die Feuernation zu besuchen.« Ein Debüt auf der Weltbühne. Sie schluckte die Nervosität herunter, die ihr plötzlich die Kehle zuschnürte.
Jinpa sah, dass sie zögerte, und legte flehentlich die Hände zusammen. »Genau hiervon spreche ich, Avatar. Die Vier Nationen werden es nicht zulassen, dass Ihr für immer das Licht der Öffentlichkeit scheut. Bitte sagt nicht, dass Ihr ausgerechnet den Feuerlord brüskieren wollt.«
Kyoshi grübelte. Sie bezweifelte, dass der Herrscher der Feuernation leichtfertig um ihre Hilfe bitten und ihre Zeit verschwenden würde. Und die Scherereien mit ihrem eigenen Volk sorgten dafür, dass sie nervlich ziemlich am Ende war. Ein Tapetenwechsel wäre vielleicht genau das Richtige.
»Und es ist ein Festtag«, fügte Jinpa hinzu. »Ihr könntet sogar Spaß haben. Ihr dürft nämlich gelegentlich Spaß haben!«
Man konnte sich darauf verlassen, dass ein Luftnomade auf Spaß als letztes Argument zurückgreifen würde. »Du kannst dem Feuerlord schreiben, dass ich mich geehrt fühle und die Einladung gern annehme«, sagte sie. »Morgen fangen wir mit der Reiseplanung an. Für heute hab ich genug von Geschäftsdingen, glaub ich.«
Jinpa verbeugte sich feierlich und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie froh er war, dass sich der Avatar endlich seiner Verantwortung stellte. »Niemand hat Ruhe nötiger als der Avatar.« Er verließ das Zimmer und ging zu dem Büro, das sie am Ende des Flurs eingerichtet hatten.
Wieder allein, betrachtete Kyoshi schweigend das cremefarbene Papier. Den Teil des Briefs, der für sie den Ausschlag gegeben hatte, die Einladung anzunehmen, hatte sie Jinpa verschwiegen.
Es war eine besondere Neuigkeit, ganz am Ende der Botschaft des Feuerlords. Die frühere Schulleiterin der Königlichen Akademie war endlich heimgekehrt, nach langer Genesung in Agna Qel’a, der Hauptstadt des Nördlichen Wasserstamms –, und zwar in Begleitung ihrer Tochter. Vielleicht würde der Avatar die beiden ja gern treffen, da sie miteinander in Yokoya Umgang gepflegt hatten? Die beiden würden sie jedenfalls gern wiedersehen.
Umgang gepflegt. Kyoshi hatte nicht gewusst, dass man so erleichtert und zugleich so verzweifelt sein konnte. Sie war noch nicht einmal in der Feuernation und sah schon vor sich, wer dort auf sie warten würde, jenes wilde Feuer schierer Hitze und Streitlust. In der Finsternis ihrer Erschöpfung sah sie von fern her ein Licht, das nach ihr rief.
Rangi.
Sorgfältig faltete Kyoshi den Brief zusammen und steckte ihn in ihre Robe, dorthin, wo ihr Herz vor Aufregung pochte. So sehr sich ihr Sekretär auch wünschen mochte, dass sie Ruhe bekam: Heute Nacht würde sie kaum ein Auge zutun.
VERGANGENE LEBEN
JINPAS BISON YINGYONG hatte nur fünf Beine statt der üblichen sechs. Als Kalb war er von einem Raubtier angegriffen worden und hatte dabei sein linkes Vorderbein verloren. Nun, als Erwachsener, krängte er wegen der Verletzung ein wenig beim Fliegen, weswegen Jinpa hin und wieder sanft mit den Zügeln gegensteuern musste, damit sie auf geradem Kurs blieben.
Kyoshi hatte sich an Yingyongs Schlängelflug gewöhnt. Kelsangs Bison Pengpeng war mit der Aufzucht ihrer eigenen Jungen beschäftigt. Sie hatte sich ihren Ruhestand im Südtempel redlich verdient und Kyoshi hatte nie erwartet, dass ihre Bindung von Dauer sein würde. Pengpeng hätte sie vielleicht weiter geduldet, sie vielleicht sogar gemocht, aber diese wunderbaren Tiere schlossen sich in ihrem Leben nur einem einzigen Luftnomaden an.
Auf ihrem Weg zur Feuernation flogen Jinpa und sie etwas tiefer als sonst, nahe über den grünen Wassern des Mo-Ce-Meers, wo die Luft warm war und man gut atmen konnte. Das schöne Wetter machte dies möglich. Wolkenfetzen trieben über den blauen Himmel und warfen immer wieder einen Moment lang ihre Schatten auf sie.
Wenn Kyoshi irgendetwas aus der Zeit vermisste, nachdem sie auf Pengpengs Rücken aus Yokoya geflohen war, dann waren es jene kurzen Momente des Reisens zwischen all den Ereignissen. Viele hätten wohl angenommen, dass es sie beruhigte, auf einem Bison dahinzuschweben, den Wind im Gesicht, doch Kyoshi schätzte etwas ganz anderes an den Flügen: Solange sie in der Luft war, konnte sie ausnahmsweise sicher sein, dass sie ganz automatisch ihr Bestes tat. Schneller als mit einem Himmelsbison kam man nun mal nicht von einem Punkt zum anderen. Sie musste sich nicht über andere Optionen den Kopf zerbrechen.
Eine ungesicherte Tasche kam auf dem Sattel ins Rutschen. Jinpa zog noch einmal kurz an den Zügeln und Yingyong korrigierte sich. Kyoshi packte die Tasche und klemmte sie unter ein Tau. »Geht’s ihm gut?«, fragte sie. »Braucht er eine Pause?«
»Nee, ihm geht’s gut«, sagte Jinpa. »Der faule Junge hat sich von einem Schwarm Flugaale ablenken lassen. Stimmt’s, Junge? Wer ist ein fauler Junge mit Aufmerksamkeitsstörung, der sich leicht ablenken lässt?« Er kratzte Yingyong zärtlich hinter dem Ohr. »Aber wenn Ihr anhalten wollt, dann bietet sich uns ein Stück voraus eine Gelegenheit. Es ist ein interessanter historischer Schauplatz: Avatar Yangchen hat dort angeblich zum ersten Mal Wasser gebändigt. Wollt Ihr euch das ansehen?«
Das wollte sie tatsächlich gern. Sie empfand eine brennende Neugier für einen der größten Avatare der Geschichte, ihre Vorgängerin, die vor zwei Generationen Avatar gewesen war. Yangchen war die Frau, die alles richtig gemacht hatte. Bis auf den heutigen Tag riefen die Leute sie an, wenn sie Schutz oder Glück suchten. Kyoshi wünschte oft, sie besäße den Intellekt eines wahren Gelehrten, um Yangchens Wirken als Anführerin wirklich verstehen zu können. Sie schlug sich mit ihrem Allgemeinwissen über den gesegneten Luftavatar durch, der erfolgreich das Gleichgewicht und die Harmonie auf der Welt bewahrt hatte.
Wenn sie das nächste Mal in Yokoya war, würde sie sich eingehender in Yangchens Lebenswerk einlesen. In den großen Büchereien des Herrenhauses musste es jede Menge nützliches Material dazu geben. Jetzt gerade war sie jedoch in Eile. »Wir müssen nicht landen. Ich kann von oben einen Blick drauf werfen.«
»Natürlich, Avatar. Ich sag Bescheid, wenn wir da sind.«
Kyoshi ließ sich in ihren Sitz zurücksinken. Der Brief unter ihrer Jacke schabte leicht am Stoff und kratzte lautstark an ihren Nerven.
Sie hatte schon lange nicht mehr mit Rangi kommuniziert. Botenfalken kamen mit der extremen Kälte des Nordens nicht zurecht, wo sich ihre Mutter Hei-Ran auskurierte. Als neuer Avatar war Kyoshi ständig unterwegs. Das Anwesen war so weit vom Nördlichen Wasserstamm entfernt, wie es ein Punkt im Erdkönigreich nur sein konnte. Es schien, als hätte sich die Welt verschworen, um sie voneinander getrennt zu halten und zum Schweigen zu bringen.
Sie wollte an etwas anderes denken. Oder mit jemand anderem reden. Es fiel ihr immer noch schwer, sich ungezwungen mit Jinpa zu unterhalten, und für nur eine Person war ein Bisonsattel eigentlich viel zu groß und wirkte unangenehm leer. Sie war es eher gewöhnt, sich mit wenigstens vier anderen um den Platz streiten zu müssen, mit den Schultern zu schubsen und sich darüber zu beklagen, wer am meisten aus dem Mund stank, weil er zu scharf gegessen hatte.
Nach einer Weile spürte sie, wie sich Yingyong wieder auf die Seite legte, schärfer diesmal. »Und … wo ist nun diese Insel?«, fragte sie Jinpa. Sie hielt sich an der Reling fest, um die Balance zu halten. Das Meer unter ihr war eine glatte Fläche. Eine Landmasse hätte sich nirgendwo verstecken können.
Jinpa lehnte sich in den Kreis hinein und suchte das Wasser ab. »Hmm. Nach allem, was ich gelesen hab, müsste es hier irgendwo sein. Ich sehe nichts, abgesehen von dem dunklen Fleck dort unter der Oberfläche.«
»Ach, wenn wir’s nicht finden, können wir auch einfach weiterfliegen. Es ist nicht so wichtig …«
KYOSHI.
Sie schrie auf, als plötzlich ein stechender Schmerz von einer Schläfe zur anderen durch ihren Schädel schoss. Er packte sie im Genick und alles verschwamm ihr vor den Augen. Ihre Hände wurden taub und verloren den Halt am Sattel. Kopfüber fiel sie über die Reling und stürzte vom Bison, noch immer den Klang des eigenen Namens im Ohr.
Der Schmerz ließ auf dem gesamten Weg in die Tiefe nicht von ihr ab. Scharf wie ein Dolch schoss er zwischen ihren Schläfen hin und her, bis er einen Ausgang fand: abwärts die Wirbelsäule entlang, von der aus er über ihren ganzen Körper herfallen konnte. Ihr war kaum bewusst, wie schnell und wie tief sie fiel.
KYOSHI.
Ein Mann mit einer tiefen Stimme rief nach ihr, seine Worte wurden vom Wind zerrissen, der an ihren Ohren vorbeizischte. Die Stimme gehört nicht Jinpa.
KYOSHI.
Der Schock, ins kalte Salzwasser einzutauchen, war eine Erleichterung nach der heißen Qual. Sie wusste nicht, wo oben und unten war. Ihre Gliedmaßen trieben schwerelos im Wasser. Als sie die Augen öffnete, spürte sie das erwartete Brennen des Salzwassers nicht.
Aus dem endlosen Blau tauchte eine Gestalt vor ihr auf, die ebenso schlaff im Wasser trieb wie sie. Ihr Gegenüber war nur undeutlich zu sehen, wie eine Tuschezeichnung, die jemand in einen Fluss geworfen hatte, doch sie wusste, wer diese Erscheinung war, die in die Felle des Wasserstamms gehüllt war.
Avatar Kuruk.
… KYOSHI … BRAUCHE DEINE HILFE, UM …
Die Stimme ihres direkten Vorgängers im Avatarzyklus war viel lauter im Wasser, seinem natürlichen Element. Sie donnerte in ihren Ohren.
… KYOSHI … DU MUSST … ICH KANN NICHT …
Eine Hand fuhr in Kuruks Leib und löste seine Erscheinung auf wie Tinte im Wasserglas. Sie packte Kyoshi am Kragen und zog sie nach oben. Das Salzwasser, das ihr bisher nichts ausgemacht hatte, biss ihr nun umso heftiger in die Augen. Sie vergaß, dass sie immer noch im Meer war, schnappte instinktiv nach Luft und bekam einen Schwall Wasser in die Kehle. Falls Kuruks Zauber sie bisher vor dem Ertrinken bewahrt hatte, so war er nun gebrochen.
Jinpa schlug mit den Beinen und zerrte sie, während er sie mit einer Hand festhielt, auf das gebrochene Sonnenlicht zu. Zuerst versuchte Kyoshi, ihm noch zu helfen, indem sie selbst schwamm. Beschämend lange strampelte sie herum, bis ihr wieder einfiel, dass sie eine Wasserbändigerin war – umgeben von Wasser. Rasch hob sie die Arme und brachte Jinpa und sich selbst an die Oberfläche.
Sie brachen hindurch und spuckten Wasser. Kyoshi hustete und keuchte, bis sie endlich wieder atmen konnte. Yingyong schwebte nahebei in der Luft und knurrte besorgt.
»Geht es Euch gut?!«, rief Jinpa prustend. »Seid Ihr verletzt?«
»Mir fehlt nichts«, sagte Kyoshi. Der Kopfschmerz hatte sich weitestgehend in den Ozean hinein verflüchtigt. »Ich hab nur das Gleichgewicht verloren und bin rausgefallen.«
»Rausgefallen?« Jinpa war so wütend auf sie, wie es ein Luftbändiger nur sein konnte. Er hatte die Stimme erhoben. Und er guckte böse.
»Es war Kuruk.« Kyoshi presste die Hände gegen die Schläfen, um das dumpfe Pochen zu lindern. Dank ihres Bändigens mussten sie sich keine Mühe geben zu schwimmen. »Er hat versucht, mir irgendwas zu sagen.«
»Avatar Kuruk?! Ihr … Ihr habt mit Avatar Kuruk gesprochen? Es sah aus, als hättet Ihr einen Anfall!«
»Normalerweise ist es nicht so schlimm. Die letzten paar Male hat es nicht so wehgetan.«
Jinpas Kiefer drohte, sich auszuhaken und ins Meer zu plumpsen. »So was ist schon mal passiert und Ihr habt mir nichts davon erzählt? Kyoshi, wenn ein Avatar mit einem vergangenen Ich kommuniziert, sollte das eine heilige Erfahrung sein, kein lebensbedrohlicher Krampfanfall!«
Kyoshi schnitt eine Grimasse. Das wusste sie doch! Sie wusste selbst, wie dünn und brüchig ihre spirituelle Verbindung war. Sie hatte es durch Versuch und Irrtum herausgefunden.
Genau einmal hatte sich ihr der Avatar der Wasserstämme in seiner ganzen Gestalt gezeigt, im Südlichen Lufttempel. Er hatte die Dreistigkeit besessen, sie um Hilfe zu bitten, um sich dann ebenso schnell wieder in Luft aufzulösen. Allein und desorientiert war sie zurückgeblieben und hatte sich gefragt, was sie mit solch einer nutzlosen Vision bloß anfangen sollte.
Die Erfahrung hatte sie jedoch daran erinnert, dass sie Zugang zu einer wahren Fundgrube weltlichen Rats hatte, in der Gestalt ihrer vergangenen Leben. Dieser ungeheure Erfahrungsschatz voller Weisheit war quasi zum Greifen nah. Wenn sie doch nur ihren eigenen Geist meistern könnte.
Kyoshi hatte versucht, mit vorigen Generationen des Zyklus in Kontakt zu treten. An heiligen Stätten des Südlichen Lufttempels hatte sie meditiert, in Schreinen am Wegesrand im Erdkönigreich, die den großen Avataren Yangchen und Salai gewidmet waren, an Orten natürlicher Schönheit auf Bergen und neben dahinströmenden Flüssen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es leicht sein würde. Sie hatte gelesen, dass Spiritualisten meist ihr ganzes Leben damit verbrachten, die Kunst von Meditation, Trance und Erleuchtung zu erlernen. Kyoshi war voll darauf gefasst gewesen, von der Stille des Versagens begrüßt zu werden, wenn sie versuchte, mit ihren vorigen Inkarnationen zu sprechen.
Worauf sie jedoch nicht gefasst gewesen war: dass sie lediglich Bruchstücke von Kuruk bekommen würde.
Und zwar nur von Kuruk.
Jedes … einzelne …Mal!
Ihre Meditationen hatten immer den gleichen Effekt. Sie wandte sich nach innen, versuchte, in Einklang mit ihrer Vergangenheit zu kommen, und dann traf sie auf die verschwommene Gestalt des Wasseravatars, der irgendwelche abgehackten Sätze voller Unsinn ausspuckte. Sie hatte versucht zu entschlüsseln, worum er sie bitten wollte, aber ihre Verbindung zu ihm schien einfach nicht stark genug zu sein.
Außerdem taten ihr die Sitzungen mit all dem Zähneklappern und den Zuckungen nicht gut. Darum hatte sie nie einen Weisen, der die Geisterwelt bereits besucht hatte, gefragt, ob er ihre Meditation anleitete. Sie hatte sich vor einer Reaktion wie der Jinpas gefürchtet, wenn jemand ihr dabei zusah, wie sie so offenkundig und schmerzlich scheiterte. Schlimm genug, dass sie als Avatar Schwierigkeiten hatte, mit ihren früheren Inkarnationen Kontakt aufzunehmen. Dass sie jedoch gewaltsam weggestoßen und quasi zur Tür hinausgejagt wurde wie ein Dieb, der sich für seinen Einbruch das falsche Haus ausgesucht hatte, das war etwas ganz anderes. Kyoshi hatte keinen Bedarf, ihre Legitimität noch mehr infrage gestellt zu sehen, als das ohnehin schon der Fall war.
Am Ende hatte sie ihre Versuche aufgegeben. Von Kuruk hatte sie ohnehin von Anfang an nicht viel gehalten, und wenn er als Einziger von tausend willens war, mit ihr in Kontakt zu treten, dann konnte sie darauf verzichten. Gelegentlich ließ er ihr jedoch keine Wahl und erschien ungebeten.
»Das ist keine große Sache«, sagte sie zu Jinpa. »Hin und wieder hab ich eine Vision von Kuruk oder ich hör seine Stimme. Ich verstehe aber nie, was er sagen will.«
Jinpa konnte nicht fassen, dass sie darüber sprach wie über ein Knie, das schmerzte, bevor es regnete. »Kyoshi«, sagte er und musste um die Seelenruhe seiner Ahnen beten, um angesichts ihrer Unfähigkeit nicht einen Zusammenbruch zu erleiden und in Tränen auszubrechen. »Wenn ein Avatar der Vergangenheit eine Botschaft hat, dann ist das gewöhnlich von größter Bedeutung.«
»Na schön!«, schrie sie. »Sobald wir die Gelegenheit haben, finden wir einen großen erleuchteten Meister, von dem ich lernen kann, mit Kuruk zu sprechen! Können wir uns jetzt bitte wieder um unsere andere höchst dringliche Mission kümmern? Oder willst du irgendwie auf einen Rutsch alles in Ordnung bringen, was mit mir nicht stimmt?«
Der verletzte Ausdruck und die tiefe Enttäuschung auf dem Gesicht des Mönchs sprachen Bände. Kyoshi war nicht nur ein schlechter Avatar, sie war auch noch eine schlechte Herrin für ihren Sekretär, die ihn nicht nur anschrie, sondern ihn sogar beleidigte. Nicht einmal Jianzhu hatte seine Bediensteten derart zur Schnecke gemacht. Eigentlich hätte sie es besser machen müssen, schließlich wusste sie selbst, wie das war.
Und Jinpa hatte sie vor dem Ertrinken bewahrt. Hätte sie statt leichter Reisekleidung ihre schweren Gewänder und ihre Armschienen getragen, dann wäre sie vielleicht so schnell untergegangen, dass er sie nicht mehr hätte einholen können.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Jinpa, es tut mir wirklich leid. Ich habe kein Recht, so mit dir zu sprechen.« Mit Yun wäre er sicher besser ausgekommen. Die beiden wären enge Freunde geworden und hätten von früh bis spät Pai Sho gespielt. »Ich … ich wünschte, du könntest einem Avatar dienen, der diesen Titel verdient.«
Ihre Entschuldigung schien nicht ganz das zu sein, was er erwartet hatte, aber er nahm sie mit dem üblichen sanften Lächeln hin. Er kletterte auf Yingyongs Widerrist und fing an, seine nasse Robe auszuwringen. Kyoshi seufzte, tauchte das Gesicht ins Wasser und hoffte, sie könnte ihre Scham einfach abwaschen.
In der Tiefe entdeckte sie jedoch etwas, das sie ihren inneren Aufruhr mit einem Schlag vergessen ließ.
Der dunkle Fleck, den Jinpa von oben aus gesehen hatte, war ein zertrümmertes, versunkenes Atoll – nur mächtigstes Bändigen konnte diese Insel derart zerstört haben. Die Struktur des Riffs war überall von tiefen Rissen durchzogen, riesige Erdbrocken lagen herum und ganze Korallenbänke waren durch unfassbar heftiges Wasserbändigen glatt geschliffen worden.
Kyoshi wusste die verräterischen Zeichen der Zerstörung zu deuten: Dies war Yangchens Insel. Hierher war Kuruk mit seinen Gefährten gekommen, um zum ersten Mal zu versuchen, in den Avatarzustand zu gelangen. Vielleicht hatten sie es nicht gewusst. Oder sie hatten den Ort in der Hoffnung ausgewählt, der große Luftavatar würde ihnen spirituellen Beistand leisten. Doch Kuruk hatte die Kontrolle verloren und das Atoll versenkt.
Ein Ort, der Yangchen und den Luftnomaden heilig gewesen war, war vernichtet worden. Wegen seiner Fahrlässigkeit. Als sie sich wieder in den Sattel hinaufzog, nahm sie sich Jinpas Gemütsruhe zum Vorbild. Denn gerade schossen ihr einige ziemlich harsche Ansichten durch den Kopf. Je weniger sie im Augenblick über Kuruk nachdachte, desto besser.