Kitabı oku: «Neubayern», sayfa 2
In der Nacht musste ich drei Mal raus. Drehwurm, volle Blase und Kotzreiz im Hals. Jedes Mal versuchte ich, etwas hoch zu würgen, um den Drehwurm endlich loszuwerden. Kein einziges Mal konnte ich tatsächlich kotzen. Was für ein sensationeller Säufer ich doch war! Die Riedinger Brauerei konnte wirklich stolz auf mich sein. Ihr bester Kunde. Auf der Riedinger Dult sollte man mich ausstellen: ›Sehen Sie den Mann, der fast ohne mit der Wimper zu zucken dreieinhalb Bier und einen Schnaps trinken kann. Und das in nur vier Stunden. Für nur zwei Kreuzer sind Sie dabei!‹ Ich armseliger Hanswurst. Allein der Kirtertoni trank zwölf Halbe und mindestens zehn Schnaps an so einem Abend und der war noch nicht einmal der versoffenste von allen.
Trotzdem war meine Nacht um halb vier vorbei. Ich musste zu den Fischweihern. Die Schwarzbäuerin nahm meine Forellen und Karpfen mit zum Markt nach Rieding und wollte mit den geräucherten, den lebendigen und den ausgenommenen Fischen um halb fünf los. Damit sie um sechs auf dem Markt stehen konnte. Zum Glück waren die Forellen schon geräuchert und in Zeitungspapier verpackt. Nur noch das frische Fischzeug fehlte. Die kühle Luft und die vertrauten Gesten halfen mir beim Wachwerden: Netz ins Wasser, Fisch raus, Prügel auf den Fisch, aufschlitzen, Innereien raus, Katzen verscheuchen, Netz ins Wasser, lebenden Fisch ins Fass. Zweimal das Ganze. Bei den Forellen und den Karpfen.
Um halb fünf stand die Schwarzbäuerin am Weg und nahm meine Fische in Empfang. Finster und verschlafen sah ich den Hansi, den Schwarzbuben, auf dem Bock sitzen. Ich rollte die Fässer mit den ausgenommenen Fischen auf den Wagen und bat Hansi, mir bei den drei Tonnen mit den lebenden Forellen und Karpfen zu helfen. Das waren ganz schöne Trümmer und die Schwarzbäuerin stellte sich immer sehr dabei an. Man konnte dem Buben ansehen, dass ihm die Geschichte mit seinem Freund die ganze Nacht lang keine Ruhe gelassen hatte.
Die Schwarzbäuerin fuhr los, ich schaute an mir hinab, riss mir die Fischschürze herunter und lief dem Wagen hinterher.
Das Wollreh
Bericht von Joseph Kiener. Fortsetzung
Ich war zuvor noch nicht oft in Rieding gewesen. Es hatte auch selten Anlässe dafür gegeben. Ein paar Mal zum Markt. Ein paar Mal als Kind mit dem Vater und den Geschwistern zur Riedinger Dult. Wir Oberpfaffinger mögen die Riedinger nicht. Hochnäsige Markterer. Aber wir mögen die Unterpfaffinger genauso wenig. Und die sind keine Markterer. Ich glaube nicht, dass die Riedinger überhaupt wissen, dass es einen Ort namens Oberpfaffing gibt.
Auf dem Wagen schlief ich fast sofort ein. Ich hatte eigentlich gehofft, ein paar Worte mit dem Schwarzbuben zu sprechen. Der aber schaute nur finster und der Wagen schaukelte so regelmäßig und mein Platz zwischen den Kartoffeln, dem Kopfsalat, den Radieschen und den Lagergelberüben war gemütlicher als gedacht. Erst als wir nicht weit vor Rieding in Schoham waren und die Ochsen stehen blieben, um am Wegrand zu fressen, schreckten die Bäuerin, der Bub und ich auf.
Der Verkehr wurde dichter und uns begegneten immer mehr Fuhrwerke. In Schoham kreuzte der Pfaffinger Weg die größere Bacherner Straße und den Weg aus Hinterneukirchen. Die Menschen marktfein herausgeputzt. Mir wurde bewusst, dass ich immer noch mein blutiges und stinkendes Fischgewand trug und aussah und roch wie der letzte Bauerndepp. Außerdem hatte ich kein Geld dabei. Ohne Geld auf den Markt zu gehen, war keine gute Idee. Vielleicht konnte ich mir den Fischlohn von der Schwarzbäuerin vorschießen lassen.
In Rieding war viel los. Markttag halt. Ich half der Schwarzbäuerin beim Abladen und sie zahlte mir die Fische im Voraus aus. Widerwillig. Ich wusch mich an einem Brunnen abseits des Marktplatzes und kaufte ein neues Hemd an einem der Kramerstände. Wenn ich die Fischhose über die Stiefel zog, sah ich nicht mehr ganz so Fischdandlerhaft aus. An einem schon geöffneten Marktstand gab es Schmalznudeln. Ich aß eine zum Frühstück.
Rieding war für einen Oberpfaffinger etwas Besonderes. Der Marktplatz mit dem Königsmonument, der große Brunnen, die vielen Menschen, die bürgerlichen Häuser, mit den Malereien an den Fassaden, die so gar nicht nach Bauerndorf aussahen. Es war immer noch nicht die Stadt. Aber die kannte ich eh nur aus Erzählungen.
Der Markt in Rieding war bekannt und beliebt. Im Laufe des Vormittags erwartete man sogar einige Stadterer, die mit dem Zug nach Rieding kamen, um hier einzukaufen und sich umzuschauen. Käse, Geräuchertes und die Leinenstoffe aus den Arnrieder Webereien.
Ich hatte bis Mittag Zeit in Rieding. Viel zu viel Zeit für den Ort. Also ging ich über den Markt und schaute mir die Stände an: die Bauern mit ihrem Gemüse, dem Geräucherten und dem Käse. Der Papiermüller aus Kräuth mit seinen farbigen Tapetenbögen, den Schulheften und bedruckten Einwickelpapieren. Der Eisenbahnerschmied, der neben seiner Arbeit bei der Bahn Eisenwaren herstellte und verkaufte. Töpfe, Pflugscharen und Messer. Der Wagner, der Bader, der Glasmacher, die Tucher und wie sie noch alle hießen.
Dabei bemerkte ich zum ersten Mal, dass die Fassaden der rechten Häuserzeile am Marktplatz voll mit Wandmalereien waren. Auf jedem Haus über der Türe, zwischen den Fenstern im ersten Stock, ein Bild. Wenn man tagaus tagein nur in Oberpfaffing lebt, beeindruckt einen das schon noch mehr. Auch muss ich gestehen, dass mich die Farben und die ausdrucksstarken Gesichter der Menschen auf den Gemälden sehr berührten. Ich kam ja nicht wirklich oft mit Abbildungen von Menschen oder Malerei im weitesten Sinne in Berührung. In Oberpfaffing gab es fast keine Bilder. Die paar Drucke von hohen Persönlichkeiten im ›Bayerischen Merkur‹, in die ich meine Räucherfische einpackte oder die Erinnerungen an die Bilder in der Schulfibel oder die schmutzigen Schmierereien von nackten Frauen an der Pfafflbrücke. Mehr gab es in Oberpfaffing nicht. Ich versuchte ja manchmal selbst, Menschen und andere Sachen zu zeichnen. Mit einem hellen Stein auf dem großen dunkelgrauen Fels in der Pfaffl unterhalb von meinem Haus. Das klappte manchmal besser, manchmal schlechter. Tiere und Gesichter gingen eigentlich am Besten. Und sobald es regnete, war alles wieder weg und ich musste mich nicht über missglückte Schmierereien ärgern. Einmal ist mir der Wirt so gut gelungen, dass ich das Bild gerne behalten hätte. Ich habe es daheim noch einmal auf einem Fetzen Papier versucht. Ist aber nicht so gut geworden wie auf dem Stein. In letzter Zeit hatte ich sogar darüber nachgedacht, auf den Zetteln zu zeichnen, die wir früher in der Familie Supersol genannt hatten. Das waren ursprünglich große Bögen gelblichen Papiers, auf denen sechzig Mal das Wort ›Supersol‹ stand. Darüber war eine Sonne abgebildet. Mein Bruder hatte immer wieder welche aus dem Auffanggitter im Pfafflabfluss gefischt, weil sie ihn verstopft hatten. Niemand wusste, wo sie herkamen. Er hatte die Bögen getrocknet und jeden in neun Teile geschnitten. Obwohl die Zettel stockfleckig und ausgeblichen waren, hätte der Bruder sie nie benutzt, um damit etwas banales anzustellen, wie Fenster abdichten oder Räucherfeuer anzünden. Die Zettel waren ihm heilig und wir anderen Kinder bekamen sie nur zu Gesicht, wenn unsere Namenstagsgeschenke darin eingeschlagen wurden. Ich hatte genau neun Mal ein Geschenk in einem Supersol verpackt bekommen. Diese neun Bögen hatte ich besser aufbewahrt als die Geschenke selbst. Aber ich traute mich nicht, darauf zu zeichnen. Was, wenn die Zeichnungen nichts wurden? Dafür waren die Zettel eine zu wertvolle Erinnerung an den Bruder.
Mir gefielen die Malereien auf den Markthäusern so gut, weil ich die viele Arbeit dahinter und das handwerkliche Geschick der Maler zu schätzen wusste: Die Sengerquerung mit den vor Anstrengung verzerrten Gesichtern der Siedler. Die Flößer von Fontan mit ihren muskulösen Körpern. Man konnte jede Sehne an den Armen sehen. Der Schmied von Trelef mit ernstem, entschlossenem Gesicht und seinem Walliserprügel mit den Nägeln dran. Der König der Bayern, wie er mit entblößter Brust einen Berglöwen erlegt. Und das für mich beeindruckendste Bild: unser König, wie er die Riedinger besucht, die sich ehrfürchtig vor ihm verneigen. Dieses Gemälde berührte mich besonders. Der König mit seinem gnädigen, väterlichen Blick. Man wusste nicht, ob er einen anblickte oder ob er leicht über einen hinweg sah. Mir schnürte es vor Ergriffenheit fast die Kehle zu. Ich blieb sehr lange vor dem Bild des gütigen Landesvaters stehen. Ich traute mich nicht wegzugehen. Warum bewegte mich das so? Ich hatte schon Bilder des Königs in den Schulbüchern gesehen oder in der Zeitung. Aber hier? Seine scharfen Gesichtszüge, die gütigen Augen, die schützende Geste? Er wirkte fast wie mein Vater im Sarg. So ruhig. Ich konnte den Blick kaum abwenden. Verschämt wollte ich mir die feuchten Augenwinkel abwischen, als ich bemerkte, dass ich nicht der einzige war, der in den Bann des Königs geraten war. Der Schwarzbub kniete nur einige Fuß hinter mir und weinte. Als würde er den König anflehen. Wie beim Gebet. Ich riss mich vom Anblick des Buben und der Wandmalereien los und ging weiter.
An einem etwas niedrigeren Haus am Ende des Marktplatzes war ein Bild übermalt worden. Ob es einfach abgeblättert war und deshalb die Stelle übertüncht worden war oder ob es so schlecht gewesen ist, dass die Besitzer es nicht mehr sehen wollten? Eine ältere Frau öffnete das Fenster und starrte den Schwarzbuben an.
Auf der anderen Seite des Marktplatzes waren die Häuser offizieller aber auch weniger bemalt. Das Rathaus, das Amtshaus, die Gendarmerie. An der Ecke zur Bahnhofsgasse war das Gasthaus Rath. Ich ging daran vorbei und hatte von dort aus das Königsmonument genau im Blick. Die morgendliche Sonne schien es an und ich konnte es zum ersten Mal richtig ansehen: König Ludwig II. auf einer Säule. In der einen Hand eine Papierrolle, die andere Hand auf ein Schwert gestützt. An der Säule vier weitere Figuren, die mir nichts sagten: Ein langhaariger Mann mit einer großen Feder, eine Frau mit einer Fackel, eine andere Frau mit einem Buch und einer Art Schwert und ein bärtiger Mann, der auf einem Löwen saß. Alle trugen lockere Umhänge. Nur der Mann auf dem Löwen war nackt. Ganz unten, unterhalb der Füße des Königs lagen einige Putten, die ein bayerisches Wappen in den Händen hielten: Altbayern, Franken, Schwaben, die Pfalz und ein fünftes Wappen, das mir noch nie aufgefallen war. Das Tier darauf sah seltsam aus. Nicht wie eines, das ich schon einmal zuvor gesehen hatte.
Ich ging weiter. Durch die Gasse hinter dem Gasthaus Rath bis zur Pfarrkirche St. Jakob. Aus der Kirche drang kein Laut. Ich versuchte das Tor zu öffnen. Es war verschlossen. Die Kirchturmuhr läutete neun mal. Noch vier Stunden bis die Schwarzbäuerin wieder zurück nach Oberpfaffing wollte.
Ich umrundete die Kirche einmal und bemerkte an ihrer Rückseite eine Hütte mit sehr großen Fenstern. Die Werkstatt eines Steinmetzes, der an der Kirche arbeitete oder sein Schuppen? Durch die großen Scheiben konnte ich einen Mann erkennen, der an einer Werkbank saß und in ein Heft schrieb. Ich ging vorbei. Er sah mich und winkte mir zu. Ich nickte höflich zurück. Er nahm einen Becher von seiner Werkbank, hob ihn hoch und deutete mir an, ob ich auch etwas zu trinken wollte.
Immer noch vier Stunden bis Oberpfaffing. Ich nickte. Besser mit einem Unbekannten die Zeit totschlagen als sich alleine zu Tode langweilen. Der Mann kam durch die Tür des Hauses auf mich zu. Eine Tür, die aus vielen kleinen Glasrechtecken bestand. Er war nicht richtig alt, aber auch nicht jung, trug eine hohe rote Hausmütze mit einer Quaste, einen Hausrock und eine Brille. Ungewöhnlich war, dass der Mann glatt rasiert war. Weder Schnurr-, noch Backen-, noch Vollbart. Das machte es mir fast unmöglich sein Alter zu bestimmen. Vielleicht war er doch älter, als ich zuerst gedacht hatte. Die Haare unter der Mütze waren grau. Das glatte Gesicht eines Kindes, der Körper eines fünfzigjährigen Mannes. Oder eine hässliche Frau in der Kleidung eines Mannes. Bei uns in Oberpfaffing gab es keine Männer ohne Bart und eine Brille kannte ich auch nur vom Pfarrer. Ich musste bei seinem Anblick unweigerlich an meine Fische denken. Der Bartlose musterte mich und mein Fischgewand. Er lachte ölig: »Dass ich in diesem Bauernkaff einmal jemanden treffe, der noch bauernhafter ist, als alle anderen zusammen.«
Seine Sprache war genauso seltsam wie der Rest an ihm. So zerhackt. Jedes Wort war einzeln. Überdeutlich. So als würde man ihn nicht sprechen hören, sondern ihn wie ein Buch lesen. Als hätte er erst vor Kurzem gelernt zu sprechen. Er sprach eine Mischung aus Schriftdeutsch und Bairisch.
»Komm erst einmal herein und trink einen Kaffee mit mir. Wie heißt du denn?«
»Kienerjoseph«, antwortete ich, wie ich es seit der Schule nicht mehr getan hatte.
»Ich bin der Holderer.« Und an seine Zugehfrau gewandt: »Otti, bringst du für mich und meinen Gast einen frischen Kaffee.« Ich hatte noch nie Kaffee getrunken. In Oberpfaffing gab es das nicht. Da trank man Bier, Wasser oder als Kind Milch.
Er setzte sich zurück an seine Werkbank und musterte mich ausgiebig. Ich kam mir vor wie das seltsame Reh, das der Traublingergroßvater auf dem Wachten geschossen hatte und das tot vor dem Wirt in Oberpfaffing gehangen hatte. Das Reh im Schafspelz, das damals alle in einer Mischung aus Grausen und Lachen angestarrt hatten. Genauso wie mich der Holderer jetzt ansah. Der Kienerjoseph, das Wollreh.
Und als ich darüber nachdachte, fiel mir ein, woran mich das Tier auf dem vierten Wappen am Königsmonument erinnert hatte. An genau jenes Wollreh vom Oberpfaffinger Dorfanger. Ein stehender Löwe symbolisierte Altbayern und die Pfalz, die drei liegenden Löwen waren Schwaben, der Rechen Franken. Aber wofür stand das Wollreh?
Der Holderer holte mich aus meinen Grübeleien: »Jetzt erzähl einmal, Kienerjoseph, bist du zum Markt da? Du bist aus …« Der Holderer überlegte »… Oberpfaffing. Hab ichs richtig?« Er lachte. Ich nickte. War das so offensichtlich?
»Setz dich her, Kienerjoseph.«
Die Zugehfrau kam herein, in der Hand ein Tablett mit einer hohen Kanne.
»So, Kienerjoseph, ein oder zwei Stück Zucker? Ein Schluckerl Rahm?«
Ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte und nickte. Der Holderer goss eine Tasse mit Kaffee voll, tröpfelte etwas Rahm dazu und nahm mit einer kleinen Zange Zuckerbrocken, die er in den Kaffee warf. Er reichte mir die Tasse auf einem kleinen Tellerchen, darauf lag ein metallener Löffel. Es stank bestialisch. Der Holderer machte für sich das gleiche und ich beobachtete ihn, wie er die Tasse auf dem Teller in der einen Hand hielt und mit der anderen den Löffel, mit dem er darin rührte. Ich machte es genauso. Als ich den Kaffee im Mund hatte, wollte ich gleich wieder ausspucken. Das schmeckte mir nicht. Bitter und buttrig. Der Holderer lachte wieder.
»Probier es nochmal. Da muss man erst auf den Geschmack kommen. Das ist die gute Zichorie!« Er lachte, als hätte er einen wirklich guten Witz gemacht. »Den Kaffee muss man unter die Zunge bringen.«
Der Holderer lehnte sich in seinem Stuhl zurück und trank seine Tasse in einem Zug leer. Ihm schien das zu schmecken. Ich probierte lieber nicht, den Kaffee unter meine Zunge zu bringen.
Ich sah mich in dem Raum um. Von innen wirkte die Hütte fast wie ein echtes Stadthaus. Gepolsterte Möbel, Tapeten, Teppiche, Stiche in Bilderrahmen. Alles ein bisschen angestaubt, fadenscheinig und grindig. An den Wänden gegenüber der Fenster hingen große Papiere mit Kohlezeichnungen drauf. Ich hatte so etwas schon einmal gesehen, als wir den Schober vom Doll umbauen mussten. Da wurde auch so ein Plan auf ein großes Papier gezeichnet, bevor wir anfangen konnten. Aber das war eine viel gröbere Zeichnung gewesen als die hier beim Holderer. Es wirkte aus der Entfernung, als wären da die Häuser vom Marktplatz gezeichnet. Der Holderer stand auf und ging durch den Raum auf die Papiere zu. Er schien sich zu freuen, dass mich seine Papiere interessierten.
»Möchtest du wissen, was das ist?«
Ich schüttelte den Kopf. Dem Holderer war das scheinbar egal, denn er fuhr fort.
»Kienerjoseph. Ich bin der Heimatwahrer.«
Es wirkte so, als erwartete der Holderer, dass die Aussage eine große Wirkung auf mich haben würde. Ich wusste nicht, was das bedeutete, nickte aber.
»Der Heimatwahrer schaut sich alle Sachen in unserer Heimat an und bestimmt, ob sie wahrbar sind. Malereien, Schnitzereien, Altäre, Bücher, Zeitungen. Nicht dass unser König eines Tages unsere Gegend bereist und da sind österreichische Schmierereien an den Riedinger Häusern oder preußische Bilder in der Zeitung und in den Büchern.« Der Holderer lachte öliger als vorher. »Glaubst du, dass das unserem König gefallen würde?«
Ich schüttelte wieder den Kopf.
»Gerade schau ich mir die Fassadenmalereien von Rieding an. Aber auch in St. Jakob gibt es ein paar Dinge, die man im Auge behalten muss. Ich zeichne sie ab und schicke das an die Amtmänner in der Stadt. Und wenn wir das Gefühl haben, dass da welche nicht passen. Weg damit.«
»Wie bei dem kleinen Haus am Marktplatz.«, platzte ich heraus.
»Ah, der Kienerjoseph redet. Genau. Wie bei dem kleinen Haus am Marktplatz. Das haben wir erst letzten Monat übermalt. Die Wagnerin war nicht gerade begeistert. Die hatte das erst vor einigen Jahren neu machen lassen. Und jetzt musste es halt wieder weg. Ich frag mich nur, wer so was da hin malt.«
Der Holderer schien mehr mit sich selbst zu sprechen als mit mir.
»Aber da redet keiner. Als hätten die sich abgesprochen.«
Der Holderer schenkte sich noch einen Kaffee ein und trank ihn ohne Rahm und ohne Zucker. Mich schüttelte es. Der Holderer stand auf und ging zu seinen Papieren hinüber. Er sah mich an, als hätte er eine Idee gehabt.
»Kienerjoseph. Magst du sehen, was da für eine Schmiererei drauf war, auf dem Haus von der Wagnerin? Komm herüber.«
Ich stand auf und ging zum Holderer. Der nahm zwei große Bögen ab und legte sie vorsichtig auf seine Werkbank. Darunter hing eine Kohlezeichnung der Fassade des kleinen Hauses am Marktplatz. Und in farbig darauf das Bild, das ursprünglich einmal die Front verziert hatte. Die Malerei wirkte viel volkstümlicher als die auf den anderen Häusern. Weniger gekonnt als das Bild vom gütigen König Ludwig oder den Flößern. Das hätte sogar ich besser gekonnt. Vielleicht lag das auch nur am nicht vorhandenen zeichnerischen Können vom Holderer.
Auf dem Bild vom Wandgemälde sah man einen weißbärtigen Mann, der in Bundhose und Hut ein viel kleineres Wesen, das vielleicht tot war, denn seine Arme und Beine hingen schlaff nach allen Seiten hinunter, auf eine Art Scheiterhaufen legte. Dort lagen schon einige weitere Kleine. Das Gesicht des ersten kleinen Wesens war verkniffen und seine Haut hatte die Farbe von Leder. Wie eine Puppe, die jemand aus einem alten Stück Sattelleder geschneidert hatte. In der Brust des kleinen Wesens steckte ein Pfahl.
Ich betrachtete das Bild genau und bemerkte, dass ich selbst noch viel genauer betrachtet wurde. Der Holderer beobachtete mich und schien ganz genau wissen zu wollen, wie ich auf das Bild von dem Gemälde reagierte.
Ich war verlegen und sagte: »Ja.«
Der Holderer sah mich auffordernd an. »Ja? Und? Was siehst du auf dem Bild?«
»Das sind die Perchtln, oder? Der Andreas von Rieding, wie er die Perchtln besiegt, oder?«
»Richtig. Und was hältst du von der Geschichte?«
»Eine Sagengeschichte halt. Die erzählt man sich halt bei uns im Tal. Die Kinder sollen Angst vor den Perchtln haben, damit sie nichts anstellen. Sie sollen das Viechfieber bringen und auch noch sonst alle möglichen Hexereien machen, die uns schaden.«
»Hoppla. Was für ein Redeschwall, Kienerjoseph. Aber ist das auch wahr? Meinst du, dass das wirklich passiert ist? Das mit dem Heiligen Andreas und den Perchtln?«
»Eher nicht, oder? Das sind doch nur Geschichten. Für die Alten und für Kinder. Schreckgeschichten.«
»Weißt du, was ursprünglich auf das Wagnerhaus gemalt war?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Die Maria und das Jesulein. Übermalt und ersetzt durch Andreas Riederer und die toten Perchtln.«
Der Holderer wirkte jetzt fast verzweifelt.
»Und in St. Jakob. Da war hinten links ein Korbiniansaltar. Jetzt steht da, prächtig geschnitzt, vergoldet, bemalt und schöner als alles, was da jemals zuvor war, der angebliche heilige Andreas von Rieding mit einem aufgespießten Perchtlkopf. Einfach ausgetauscht. Der Korbinian ist verschwunden. Weggeschmissen oder verbrannt. Und angeblich soll das Weihnachtskripperl in ein Andreaskripperl umgestaltet worden sein. Was meinst du, wie da der Pfarrer geflucht hat, als er davon erfahren hat? Und wenn Pfarrer erst einmal anfangen zu fluchen …«
Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. In Oberpfaffing gab es auf dem unteren Goaßweg auch eine Kapelle, die Andreas von Rieding geweiht war. Da sah man auch statt eines Kruzifixes einen Andreas mit aufgespießtem Perchtl vor dem Altar. Die Oberpfaffinger nannten den Ort Andreasspieß. Es war seit einigen Jahren wieder in Mode gekommen, zum Andreasspieß zu gehen, um für etwas zu beten. Aber ich hielt es eher für eine Art Aberglaube, wie den Perchtllauf und die Perchtllichter in den Fenstern. Und ich glaube, den meisten Oberpfaffingern ging es genauso.
»Die Leute können doch nicht einfach ihren eigenen Glauben machen. Wo kämen wir denn da hin? Ein bisschen Volksglauben mit Perchtllauf, schön und gut. Aber ein eigener Heiliger? Unser Bischof heißt Antonius von Rampf und unser Papst heißt Pius IX. Die kümmern sich um den Glauben, den lieben Gott, die Jungfrau Maria und die Heiligen auch. Und nicht die Riedinger!«
Aus dem Holderer war plötzlich ein furchteinflößender Prediger geworden. Kein Lächeln mehr und kein lustiges »Kienerjoseph«.
»Und um den Teufel? Kümmern die sich auch um den Teufel?«, fragte ich. Plötzlich ganz mutig.
»Gerade um den. Gerade um den.«, antwortete der Holderer.
»Weil, wenn einer den Teufel selbst gesehen hat? Ich kenne einen Buben in Oberpfaffing, der sagt, dass er von ihm gejagt worden ist. Persönlich.«
»Soll er mit dem Pfarrer reden. Bei euch in Oberpfaffing ist doch so ein neuer, junger.« Der Holderer wirkte ermattet von seiner Predigt. Der heilige Andreas und die Perchtln und der Aberglaube schienen ihn mehr zu interessieren als meine Teufelsgeschichten.
Ich fuhr trotzdem fort: »Und dann hat es geheißen, dass er das Viechfieber hat, der Bub. Und Sie erzählen von den Perchtln und dem verbotenen Andreas und allem. Da hab ich gedacht, ob das irgendwas miteinander zu tun hat. Oder ob das alles nur ein Schmarrn ist.«
»Wie heißt er denn, der Bub?«, fragte der Holderer fast gelangweilt.
»Sailler Benno aus Oberpfaffing, wie ich.« Der Holderer schrieb den Namen nachlässig auf den Rand der Zeichnung. Vielleicht war es auch nur irgendein Gekritzel um mich zu beruhigen. Ich redete weiter:
»Der war lange beim Doktor, hat geschlafen und jetzt erinnert er sich an fast nichts mehr. Nur ein paar Fetzen noch. Vielleicht kommen die Erinnerungen ja zurück.«
»Ein paar Fetzen noch, sagst du. Die Erinnerung kommt zurück, meinst du.« Kurz schien es, als würde ihn meine Geschichte doch interessieren. »Ich kann dir da auch nicht helfen. Ich bin nur der Heimatwahrer und kein Doktor und kein Pfarrer.« Sein Zorn von vorhin war jetzt vollkommen verraucht, denn er fragte mich nur noch, ob ich noch mehr Kaffee wolle und noch dies und jenes aus Oberpfaffing.
Irgendwann brachte er mich wieder hinaus aus seiner Hütte.
Auf der Turmuhr war es kurz nach zehn. Immer noch fast drei Stunden, die mir in Rieding blieben. Es war warm und meine Fischhose stank furchtbar. Ich hatte noch über einen halben Gulden, Hunger und Durst. Ich ging durch die Lederergasse, die parallel zum Marktplatz verlief. Mir war nicht klar, was der Holderer gerade von mir gewollt hatte. Wollte er sehen, wie ich auf die Geschichten über die Perchtln und den Andreaskult dachte? Als Mann des einfachen Volkes. Oder war der Holderer einfach nur einsam und suchte Ansprache?
Am Ende der Lederergasse war ein Metzger. Am Markttag verkaufte die Metzgerin in der Gasse warme Riedingerwürstl auf die Hand. Ich nahm zwei Paar und trank dazu Wasser aus einem Brunnen.
Ich setzte mich neben das Becken und verfluchte die zweieinhalb Stunden, die ich noch warten musste. Was ich nicht alles hätte erledigen können, statt mit der Schwarzbäuerin nach Rieding zu fahren (Nichts, denn meine Fischweiher machten praktisch keine Arbeit).
Ich saß lange an der Stelle am Brunnen. Auch noch über zwei Stunden später. In der Zwischenzeit waren vorbeigekommen:
1. Die Elsi im Sonntagsstaat.
2. Die Wimmerin aus Oberpfaffing mit ihren Versicherungsunterlagen.
3. Der Gendarm Voigt mit einem Amtmann.
4. Eine Riedingerin, die sich und ihrem Kind Würstl kaufte.
5. Drei unterschiedliche Stadterer, die Würstl kauften und direkt vor meiner Nase aufaßen.
6. Der Voigt diesmal ohne Amtmann in der entgegengesetzten Richtung.
7. Zwei Riedingerinnen mit Würstln.
8. Zwei weitere Amtmänner. Ich hörte den Halbsatz »… wenn das kein Latein ist, fress ich einen Besen …«
9. Eine ganze Familie in Stadtkleidung. Sie rümpften die Nasen beim Anblick der Würstl.
10. Der Hobmeyerbauer aus Schoham. Würstl essend.
11. Der Holderer holte sich drei Paar Würstl. Er tat so, als hätten wir uns noch nie gesehen.
12. Ein Hund.
13. Ein Bub, der seinen Hund suchte und Würstl kaufte.
14. Ein Riedinger Gendarm mit dem Voigt. Aufgeregt.
15. Der Holderer mit einem weiteren Amtmann. Sie gingen aufgeregt redend in Richtung Marktplatz.
16. Ein Rossknecht aus Hinterneukirchen (zu erkennen an der Art, wie er seine Peitsche am Gürtel festgemacht hatte und an seinem Hut). Er kaufte Würstl. Zwei Paar.
17. Eine Bäuerin in Unterpfaffinger Kleidung.
18. Vier weitere Riedinger Gendarmen, panisch rennend.
19. Der Riedinger Doktor, ebenfalls rennend.
20. Zwei der Riedinger Gendarmen, die den ersten Riedinger Gendarmen trugen. Er blutete, denn in seinem Hals steckte ein langer Metallstab. Er schrie wie eine Sau auf der Schlachtbank.
21. Der Doktor hinterher.
22. Der Hund.
23. Ein Mann in einer mir unbekannten Kleidung, vielleicht aus Russlach. Er kaufte drei Paar Würstl.24. Ein anderer Mann im gleichen Gewand. Ebenfalls Würstl kaufend. Oder war es der Mann von zuvor noch einmal?
25. Die restlichen Riedinger Gendarmen, die einen Mann mit einem Sack über dem Kopf, an den Händen gefesselt mit zusammengebundenen Beinen mit sich führten. Der Gefangene hatte nackte Beine. Ein Ärmel seines weißen Wollpullovers und der Sack über seinem Kopf waren blutig.
26. Die Unterpfaffingerin. Sie nahm sich ein Paar Würstl mit.
27. Lange niemand.
28. Der Doktor mit blutigem Kittel. Er kaufte vierzehn Paar Würstl.
Die Metzgerin räumte ihren leergekauften Stand in den Laden, St. Jakob schlug dreiviertel eins und ich machte mich auf den Weg zur Schwarzbäuerin und ihrem Wagen.