Kitabı oku: «Neubayern», sayfa 4

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Die Himmelskreuzler


Bericht von Joseph Kiener. Fortsetzung

In der Messe direkt nach unserem Goaßweg-Ausflug war die ganze Saillerbagage von Benno da. Der Alois, die Lisi, die Mimi, die Mutter und der Vater. Alle Knechte und Mägde waren da. Nur die Oma fehlte, aber die lag schon lange in der Sterbekammer. Und der Benno selbst war natürlich auch nicht dabei.

Nach der Kirche ging ich mit den anderen Männern zum Frühschoppen. Ich setzte mich neben den Saillerbauern und fragte ihn nach seinem Sohn.

»Jetzt kommt noch so ein Depp und scheißt sich wegen dem Viechfieber ein. Keiner von uns hat es! Und jetzt schleich dich. Wallermaul. Und nimm deine Bratzen von den Buben!«

Wallermaul. Das riss ein paar Wunden auf. »Wer ist schiacher als ein Gaul? Der Wallermaul, der Wallermaul«, »Du bist noch greisliger als deine Karpfen« oder »Da hat deine Mutter dich als Kleinkind in den Weiher fallen lassen und statt dir einen Waller raus geholt und aufgezogen.«

In der Schulzeit war ich wegen meines Aussehens, aber auch wegen der Fischzucht meiner Familie Wallermaul genannt worden. Lange hatte es mich nicht wirklich gestört. Es war ein Spitzname wie viele andere auch. Batzen, Hosenloch, Schneckerl. Dachte ich. Erst als ich mich wie die anderen Buben für Mädchen zu interessieren begann, wurden der Name und mein damit einhergehendes Aussehen zum Problem für mich. Während die anderen alle möglichen Lieb- und Freundschaften hatten, wurde ich vom Sonderling zum vollkommenen Außenseiter. Und selbst als die Sache mit meiner Familie passierte, der Selbstmord vom Knecht, das Feuer und alles und ich alleine da stand, wurden die Sprüche der Oberpfaffinger nicht besser. Eher schlimmer. Denn ich war jetzt noch alleiner. Ohne Eltern und vor allem ohne den Bruder, der mich als einziger Seppi genannt hatte und nie auf meinem Aussehen herumgeritten hatte, obwohl er immer, im Gegensatz zu mir, so schneidig gewesen ist. Er hat sich auch nie für mich geschämt oder vor seinen Freunden Witze über mich gemacht. Wie die anderen. »Dieser Wurm ist für unser Wallermaul. Friss!« Der Bruder hatte mich mit auf den Waldplatz zum Biersaufen und Schwammerlfressen genommen. Zuschauen, wie die anderen an der Elsi herumfummelten. Träumen, dass ich das auch eines Tages darf. Als der Bruder tot war, hörte es natürlich auf und ich durfte nicht mehr mit. Irgendwann hatte ich mich an das Alleinsein und die Witze und Sprüche gewöhnt und das Geschäft der Eltern weitergeführt, mich zusammengerissen und einfach weitergelebt. Aber mit den Scheißoberpfaffingern hatte ich seitdem nichts mehr zu tun. Einmal die Woche zum Wirt und sonntags in die Kirche, genügten mir als menschlicher Umgang. Oder auch nicht. Ich dachte nicht darüber nach.

Später an diesem Vormittag ging ich ins Badehaus und legte mich eine halbe Stunde ins heiße Wasser. Von der Elsi bekam ich frische Wäsche und etwas später vom Schwarzbauern, vom Saillerbauern und vom Traublinger ein paar aufs Maul. Der Hansi hatte wahrscheinlich von unserem nächtlichen Ausflug erzählt. Erst das heiße Bad und jetzt musste mir die Elsi mit einem nassen kalten Lappen die Lippe kühlen. Das frische Hemd war voller Blut. Elsi war sehr rücksichtsvoll und zart und ich lag trotz der schmerzenden Lippe gerne zwischen ihren Brüsten.

»Der Benno ist weg«, sagte ich.

»Ich weiß«, sagte sie.

»Der Schwarzhansi und ich haben ihn heute Nacht gesucht.«

Auch das wusste sie.

»Ist der nach München?«

Elsi stand auf und kam kurze Zeit später mit einer Salbe zurück. Die tupfte sie mir sehr vorsichtig auf die Wunde. Nach der Prügelei fühlten sich meine Lippen noch wallerhafter an als jemals zuvor.

»Ist der nach München gebracht worden, habe ich dich gefragt?«

»…«

»Der Schwarzbub scheißt sich in die Hose, weil er nicht weiß, was mit seinem Freund ist. Ist der in München?«

»Ich kann dir dazu nichts sagen.«

»Du tust doch immer so gescheit, was ist mit dem Saillerbuben, Elsi?«

»Ich weiß genauso wenig wie du, Kiener. Ich versteh ehrlich gesagt nicht, was dich das kümmert. Seit wann bist du mit den Buben so eng?«

»Du hättest den Schwarzbuben sehen sollen. Der hat geheult wie ein Kleinkind. Der Sailler ist sein bester Freund. Ich möchte nur wissen, was da los ist und wo der Bub gelandet ist.«

»Das würdest du eh nicht verstehen, Kiener. Was schert dich der Bub? Geh zurück zu deinen Fischen, bunker dein Geld, leg dich in die Sonne und spiel an dir rum, wie sonst auch immer und vergiss die Buben.«

Elsi war nicht zu bremsen. Das alte Sich-in-Rage-Reden: »Das wissen eh alle Frauen im Dorf. Was meinst du, was da geredet wird? Der Wallermaul liegt im Gras am Weiher und schaut sich die Mägde vom Schwarzhof und vom Saillerhof und vom Traublinger an. Wie sie in den Zulauf hüpfen. Und spielt an sich rum. Und jetzt heißt es sogar, dass du die beiden Buben an dir rumspielen lässt. Wie der Wimmer damals mit seinem Lehrbuben? Das fragen sich die Bauernweiber in Oberpfaffing. Hat der Wallermaul den Sailler verschwinden lassen, damit er nichts erzählt? Das reden die Weiber beim Waschen und deshalb hast du eine auf dein großes Wallermaul bekommen von den Männern. Und wo die Watschn herkommt, da wartet noch viel mehr auf dich, Kiener. Die sind in Alarmbereitschaft, seit du mit dem Schwarzbuben auf dem Wachten warst. Der Fischdandler muss bluten, sagen die, erst der Sailler, dann der Schwarz, wer ist der nächste? Der Fischdandler muss bluten!«

So schnell ging das also.

»Ich wollte nichts von dem Buben. Der ist zu mir gekommen. Ich habe neulich zum ersten Mal mit dem Schwarz geredet.« Ich bekam es mit der Angst. »Ich habe mich nur gefragt, was mit dem los ist. Was es mit diesem Teufel auf sich hat und ob das alles vielleicht etwas miteinander zu tun hat. Ich bin halt neugierig und habe mir Sorgen gemacht. Und der Schwarzbub hat mich angefleht, dass ich ihm helfe, seinen Freund zu finden. Ich bin nicht so kaltherzig wie die anderen in Oberpfaffing, was meinst du denn? Was würdest du denn machen, wenn der dich gefragt hätte?«

»Und das alles haben der Schandi und der Amtsdepp von Oberpfaffing mitbekommen und jetzt denkt das ganze Dorf, dass du ein Kinderficker bist.«

»Ich bin aber keiner!«

»Aber irgendwem taugst du nicht. Mit deinem Nachgedenke.«

»Ich denke nicht nach.«

»Das denkst du nur.«

So war das also. Die Dörfler dachten, dass ich, weil ich so ein schräger, hässlicher Hund bin und keine Frau abbekommen habe, mich an die Dorfbuben heranmachte. Erst das Wallermaul, dann der einzige Freund tot, jetzt auch noch ein Schwein.

»Kiener, ich glaube, du musst zum Engel und mit dem Engel reden. Der kann dir das alles erklären. Und dann kannst du das alles regeln. Mit dem Buben.« Elsi wirkte erschöpft. Die Rage war wieder verraucht. »Der Engel kann dir weiterhelfen. Mit dem Benno und deinem Leben und allem, versprochen.«

»Ein Engel? Ich bin noch nicht mal mit dem Teufel fertig.«

»Geh zum Engel. Ich sag dem Hansi, dass er sich solange um deine Fische kümmert. Das ist ja nicht gerade eine schwierige Arbeit. Das ist dann sein Beitrag zur Suche, oder?«

»Jetzt ohne Schmarrn? Ich soll zu einem Engel und der Bub, den ich angeblich schände, kümmert sich um meine Fische. Zum Glück habe ich keine Aale.«

Elsi schaute sich um, im Badhaus war niemand mehr. Sie drehte sich und hob ihre Bluse. Leider nicht sehr weit. In ihrem Unterrocksaum auf dem Rücken (der für ein Wallermaul wie mich schon mehr war, als ich jemals von Elsi zu sehen erhofft hatte) steckte ein Zettel. Den zog sie heraus und gab sie mir. In Schwarz stand darauf: Russlach. Doben. Hinterwald. Nur die drei Worte. Daneben hatte jemand ein Symbol gezeichnet, das aussah wie das seltsame Wollreh auf dem Wappen im Königsmonument in Rieding. Ein sitzendes oder ein sich aufbäumendes Wollreh. Elsi zog ihre Bluse wieder nach unten. Sie nickte mir zu und sagte noch einmal: »Geh zum Engel, Kiener. Das ist der Weg. Zeig ihn niemandem.«

Ich nickte zurück. Sie küsste mich auf die Wange. Ich stand auf. Sie auch. Ich nickte noch einmal und ging hinaus. Von der Dorfmatratze in einem leeren dampfigen Badhaus einen mitleidigen Kuss auf die Wange zu bekommen, war nicht gerade ein Zeichen, dass aus dem Wallermaul ein begehrter Junggeselle geworden war. Trotzdem. Ein Wallermaul nimmt, was es bekommen kann.

Ich holte einen Sack mit Kleidung aus meiner Hütte und steckte mein ganzes Geld (immerhin 342 Gulden) in mein Stiefeltuch. Ich spürte damals schon, dass ich nicht mehr zurückkommen würde, nach Oberpfaffing. Auch wenn ich es mir nicht eingestanden hätte. Deshalb nahm ich alle Andenken an meine Familie mit, die ich nach dem Feuer noch hatte. Das war mir fast das Wichtigste in meinem Leben. Die Haube der Mutter, »Tollo«, der aus Fetzen gebastelte Perchtl, den sich der Bruder und ich geteilt hatten, ein Heiligenbildchen aus dem Gebetbuch der Oma und das Foto der Familie, das wir in Rieding hatten machen lassen. Nur wenige Tage bevor das Schlimme passiert war. Mit der Mutter, dem Vater, dem Bruder, der Großmutter und sogar dem Knecht, dessen Gesicht ich aber aus dem Foto gekratzt hatte. Der verfluchte Selbstmörder. Wenigstens hatte er das Feuer auch nicht überlebt. Und wenigstens hatte er kein Grab auf dem Gottesacker bekommen, sondern war irgendwo verscharrt worden. Ganz besonders wichtig war es mir, die Sammlungen meines Bruders mitzunehmen. Er hatte oft an der Pfaffl gesessen, wie ich heute und ins Wasser geschaut. Dabei hatte er oft seltsame Gegenstände und Dinge gefunden. Sachen über die wir uns gemeinsam gewundert oder sogar gegruselt hatten, weil wir sie nicht verstanden: Eine ganze Sammlung gezackter Metallstücke, auf deren glatter Seite mal deutlich mal undeutlich das Wort ›Imperial‹ zu lesen war. Nur ein Metallstück der Sammlung war anders. Darauf stand sehr deutlich zu lesen: Schneider. Vielleicht die Werkzeuge eines Schneiders? Zum Stoffanritzen. Wir hatten es nie herausgefunden. Und dann natürlich die Supersolzettel. Alle neun, die mir noch geblieben waren. Ich nahm mir vor, bald damit zu beginnen darauf zu zeichnen. Das hätte dem Bruder bestimmt gefallen.

Seit die Geschichte mit dem Benno und dem Schwarzbuben bei mir angekommen war, fiel es mir immer schwerer, nicht an den Bruder zu denken. Ich konnte gut verstehen, dass man seinen besten Freund brauchte und dass man alles dafür tut, um ihn zu finden. Ich wollte dem Schwarzbuben helfen. Ich musste ihm helfen. Was wäre geworden, wenn mir einer der Scheiß-Oberpfaffinger, die um unseren brennenden Hof herumgestanden waren und zugeschaut hatten, wie alles in sich zusammengestürzt ist, dabei geholfen hätte, die Türe aufzubrechen, damit die Familie rausgekommen wäre. Eine Art Kiener wenn da gewesen wäre und die Türe mit geöffnet hätte ... Ich musste dieser Retter für den Schwarzbuben sein, es half nichts. Von den Oberpfaffingern würde es keiner sein. Das hatte ich schon beim Feuer am Kienerhof erlebt. Und dem Bruder hätte es auch gefallen.

An diesem Tag schaffte ich es bis nach Egenkofen. Das lag hinter Schoham, weiter an der Pfaffl entlang. Egenkofen war ein Ort, den wir Oberpfaffinger und die meisten anderen aus unserer Gegend sonst eher mieden. Die Egenkofener galten als verschroben. Sie hatten einen Brauch, der dem Rest von uns Pfaffltalern ein bisschen Angst machte: Das Himmelskreuzeln. Ich wusste damals nicht, was genau darunter zu verstehen war. Aber mir war klar, dass es etwas seltsames sein musste.

Als ich im Dorf ankam, war es früher Abend und ich kehrte beim Wirt ein. Dort gab es ein kaltes Essen und ein Strohlager, in dem ich die Nacht verbringen konnte. In der Gaststube waren außer mir noch drei Männer. Jeder saß alleine an einem Tisch vor seinem Bier und schwieg. Es war kalt, ungemütlich und still. Ich trank ein Bier und aß ein Schweinefleisch. Später im Strohlager war nur noch ein weiterer Gast. Der Wieder. Ein uralter Mann, der die ganze Nacht über gurgelnde Geräusche machte. Ich konnte kaum schlafen. Noch schlimmer wurde es, als er zwischendurch gar keine Geräusche mehr machte. Dann dachte ich jedesmal, er sei gestorben, stand auf und fühlte seinen Puls.

Am Morgen war der Wieder fort.

Ich wollte mich schnell auf den Weg nach Russlach machen. Der Wirt bot mir noch Kaffee und ein Musbrot an. Ich nahm nur das Brot und trank eine wässrige Milch dazu. Ich wollte möglichst rasch wieder aus dem Dorf sein. Weiter nach Russlach. Aber etwas versperrte mir den Weg. Eine Art Prozession. Ungefähr dreißig Männer liefen langsam in einer langen Reihe hintereinander her. Alle blickten wie gebannt nach oben. Alle murmelten ein monotones Gebet. An der Spitze der Prozession lief ein Ministrant. Er trug eine Stange, die fast dreimal so lang war wie er selbst. Daran hing, wie an einer Angel, ein Kreuz. Etwa fünf bayerische Fuß lang und ebenso breit. Jedoch nicht mit einem Ende nach unten zeigend, sondern das Kreuz hing waagerecht. Es streckte quasi alle Viere von sich. Der Ministrant hatte ein Rohr oder eine Pfeife in seinem Mund stecken, die, wenn er hineinblies, ein rauschendes Geräusch machte. Als einer der Männer aus der Prozession direkt an mir vorüberging, konnte ich sein gemurmeltes Gebet hören: »Heiliges Himmelskreuz, kehre zu uns zurück und gib uns deinen Segen. Heiliges Himmelskreuz, wir beten, um deine Wiederkehr und deinen Segen für unser Dorf. Heiliges Himmelskreuz, erbarme dich unser …«

Neben mir tauchte der Wirt des Egenkofener Gasthauses auf. Ich schaute ihn an. Und er erklärte mir das Egenkofener Himmelskreuzeln.

Früher, als er, der Wirt, noch ein Kind war, erzählte er, ging es den Egenkofenern gut. Sie waren damals die reichste Gemeinde im Pfaffltal. Die Kühe gaben die fetteste Milch, die Felder hatten das beste Getreide. Egenkofen war bekannt für seinen sahnigen Käse und die Bäuerinnen kamen kaum mit dem Käsen hinterher, so schnell wurde er ihnen damals auf dem Riedinger Markt aus der Hand gerissen, so der Wirt. Der Egenkofener war allen Feinschmeckern und Käsefreunden in Rieding ein Begriff. Die Leute aus dem Dorf glaubten damals, dass das mit dem Himmelskreuz zusammenhing. Einem mystischen Kreuz, das jeden Sonntag und jeden Mittwoch über dem Dorf auftauchte. Wie eine göttliche Erscheinung. Der Wirt erzählte, dass er sich noch gut daran erinnern konnte, obwohl er damals noch ein Kind gewesen sei. Es war ein schwebendes Kreuz, das sonntags von hinter den Bergen im Osten kam, sich langsam über das Dorf bewegte und im Westen hinter den anderen Bergen wieder verschwand. Mittwochs in die entgegengesetzte Richtung. Die Kinder freuten sich jedesmal und jubelten schon, wenn man das leise Rauschen des nahenden Kreuzes ganz leise zu hören begann. Egenkofener Neugeborene wurden nur getauft, während sich das Himmelskreuz über dem Dorf befand. Für die Dörfler war das Kreuz ein Zeichen dafür, dass sie vom Herrgott besonders gesegnet waren. Wenn das Kreuz einmal nicht zu sehen war, wegen zu starker Wolken, galt das als böses Omen.

Dann, eines Tages, blieb das Himmelskreuz aus. Und mit ihm ging der Wohlstand Egenkofens. Keine fette Milch mehr und drei Missernten in Folge. Obwohl das Wetter in diesen Jahren weder besonders gut, noch besonders schlecht war. In Rieding lachten die Leute schon über die plötzlich so armen Egenkofener und man musste die Milch zum Käsen bald in Russlach kaufen, weil die Egenkofener zu mager war.

Seitdem versuchten die Egenkofener verzweifelt, das Himmelskreuz und damit verbunden das Glück zurück zu beschwören. Jeden Tag drei Mal ging eine Prozession bestehend aus allen Egenkofener Männern durch das Dorf und folgte einem an einer Stange schwebenden Kreuz. Dazu murmelte man Gebete und Formeln.

Doch das Kreuz war nie wieder zurückgekommen.

Ich war froh, als die Prozession vorbeigezogen war und ich weiter konnte. Egenkofen war ein trauriger Ort. Schon Oberpfaffing war alles andere als fröhlich. Aber gegen das hier strahlten wir das reine Glück aus.


Das Andreasfeuer


Bericht von Joseph Kiener. Fortsetzung

Bis mittags schaffte ich es fast bis nach Russlach. Vor Betreten des Ortes wollte ich mich noch waschen und frische Kleidung anziehen. Ich ging also vom Weg ab immer dem Rauschen der Pfaffl nach. Ein Wildwechsel führte durch das Unterholz bis ans Ufer. Dort konnte ich mich säubern. Das Wasser war sehr kalt. Barfuß ging ich durch den seichten Bach und hoffte, so den Weg abzukürzen. An einer Furt sah es so aus, als würde ein Pfad vom Ufer in den Wald und dann weiter in Richtung Straße führen. Ein großer moosiger Baumstamm lag quer über den Fluss und ich glaubte, einen Einstieg am runtergetretenen Gras am Bachufer und dem abgerissenen Moos zu erkennen. Vielleicht wieder nur ein Wildwechsel. Aber ich kam zurück ins Trockene, raus aus dem eiskalten Wasser. Nach wenigen Fuß durch Farn und feuchtes Gras öffnete sich eine Lichtung, auf der ich etwas sah, das ich vorher noch nicht gesehen hatte: Ein ungefähr zweimannhoher Pfahl steckte im Boden. Offensichtlich hatte er in der Mitte eines großen Feuers gestanden, denn rings um den Stamm lag noch verkohltes Holz und der Pfosten selbst war ebenfalls rußig schwarz. Die Feuerstelle musste schon uralt sein, denn es roch nicht verbrannt und die Regengüsse und der Schnee vieler Monate oder sogar Jahre hatten von Kohle und Asche kaum noch etwas übrig gelassen. Außerdem war die Feuerstelle bereits stark mit Gras und Farnen eingewachsen und an manchen Stellen vom Gebüsch vollkommen verdeckt. Ich begann langsam um den Pfahl herumzugehen. Auf der anderen Seite sah ich den Wildwechsel, der tiefer in den Wald und hoffentlich wieder auf die Russlacher Straße führte. Vorsichtig schlich ich weiter um die ehemalige Feuerstelle herum. Die verkohlten Stücke sahen seltsam aus. Regelmäßig. Nicht wie Äste mit Rinde und kleinen Zweiglein, eher wie Knochen. Und dann lag da auf einmal ein zerbrochener Schädel. Und noch einer. Und ein dritter. Ich ging schneller. Nur vorbei. Ein vierter Schädel. Ich rannte. Stolperte. Rannte weiter. Bis ich wieder die Straße sah. Ich zitterte vor Angst. »Russlach, Doben, Hinterwald. Russlach, Doben, Hinterwald. Russlach, Doben, Hinterwald …«, sagte ich mir vor, um mich zu beruhigen.

In meiner Vorstellung war Russlach immer so ähnlich wie Rieding gewesen. Viel größer als Oberpfaffing. Mehr wie eine Stadt als ein Dorf. Ein Marktplatz, ein Brunnen, ein großes Amtshaus. Als ich aber bleich und noch immer zitternd in den Ort rannte, kam es mir erst kurz so vor, als sei ich zurück in Oberpfaffing. Oder in einer noch mickrigeren Version von Oberpfaffing. Nur vier oder fünf Ortshäuser an einer schlammigen Straße, eher eine Kapelle als eine Kirche, kein Kramer, kein Bäcker und kein Wirt. Die Häuser waren schmutzig und schon lange nicht mehr geweißelt, die Türen hingen schief in den Angeln und die Viecher schrien hungrig. Die Pfaffl war durch den Regen in den Bergen sehr stark angeschwollen und rauschte laut und kalt durch den Ort. Auf der Straße war kein Mensch. Und man roch auch nicht das übliche Ofenfeuer, das sonst nach einem Regen, gerade im Frühjahr, in der Luft hing. Alles war kalt und leer. Wo waren alle hin? Meine Angst wurde nicht kleiner durch die fehlenden Russlacher. Lange konnten die noch nicht weg sein. Sonst würden die Viecher noch lauter brüllen. Aber warum brannten keine Herdfeuer? Mir war unwohl.

Neben der Kirche sah ich das Amtshaus. Oder vielmehr die Amtshütte. Ich schob die Türe auf und betrat den kalten Raum. Das vertraute Bild einer Amtsstube: Ein Schreibtisch, das fotografische Portrait des Königs, das in allen Amtsstuben hing, Stempel, ein ordentlich unter den Tisch geschobener Stuhl, Siegellack und die dazugehörigen Siegel im verglasten und abgesperrten Kasten, die Brotzeit sauber verpackt im Brotzeitpapier auf der Fensterbank, der leere Huthaken: Eine Amtsstube halt. Ich rief vorsichtig »He«, eine Kuh schrie etwas lauter als vorher. Sonst nichts.

Langsam erholte ich mich etwas von meinem Schrecken im Wald und merkte, dass ich hungrig war. Die Brotzeit roch gut und der Amtmann war nicht da. Nach München würde der mich schon nicht schicken deswegen. Ich nahm das Brot, schloss die Türe hinter mir und setzte mich vor die Kirche. Es begann zu regnen und ich hatte Heimweh nach Oberpfaffing. Wer hätte das gedacht. Heimweh nach einem Ort, wo man mich gerade erst verhauen hatte.

Die Viecher wurden wieder stiller und auch die Geräusche der Pfaffl schienen in den Hintergrund zu treten. Ich kaute das Brot, aß die Wurst und den Käse und lauschte.

Ganz weit entfernt glaubte ich etwas zu hören. Menschliche Geräusche. Rufen oder eine Feier. Wie Kirchweih oder ein Osterfeuer. Ich stand auf und drehte mich im Kreis um herauszufinden, von wo die Geräusche kamen. Aber da war wieder nur Stille.

Ich stand auf und ging in Richtung Hang. Plötzlich glaubte ich wieder die Geräusche zu hören. Vielleicht war es sogar Gesang. Ich ging weiter. In einem Stall, an dem ich vorbeikam, schrien die Kühe. Je größer die Entfernung zu den Ställen wurde, desto lauter hörte ich jetzt das Gesinge. Oder doch Gerufe? Schließlich war ich nah am Ufer der Pfaffl und blickte auf die andere Uferseite. Dort war eine große Viehweide und dahinter der Wald am ansteigenden Berghang. Auf der Wiese, direkt am Waldrand, sah ich die Ursache der Geräusche: Etwa dreißig oder vierzig Menschen, Männer, Frauen und einige Kinder rauften. So sah es zumindest auf den ersten Blick aus. Eine Schlägerei. Das gab es bei uns nicht gerade selten. Aber eher im Wirtshaus oder auf einer Dult. Vielleicht war es auch nur eine Art Dorfritual. Ein symbolisches Sich-Ausraufen. Ernst konnte es nicht sein, dafür sah es zu lustig aus. Ich musste fast lachen, als ich dabei zusah. Einige lagen bereits wie erschöpft auf dem Boden. Andere rangen noch weiter miteinander.

Ich ging noch näher ans Ufer. Dort stand ein Schober. Ich wollte auf das Dach klettern, um die Rauferei besser sehen zu können. Es sah von hier schon so lustig aus. Ich fand keinen Tritt, um schnell auf das Dach zu gelangen. Also ging ich nach vorne, zur offenen Seite des Schobers, um mir eine Leiter oder einen Hocker oder irgendetwas zum Hochklettern zu besorgen und blickte im Inneren des Unterstands in eine Unzahl ängstlicher Kinderaugen. Zwanzig oder dreißig Kinder saßen im Heu des Schobers und beobachteten angsterfüllt die andere Seite des Baches. Schmutzige, abgerissene Dorfkinder mit panisch aufgerissenen Augen. Die Kleineren hingen an den Größeren. Das Jüngste noch ein Säugling, das Älteste vielleicht dreizehn.

Ich verstand nicht und blickte von den Kindern wieder auf die andere Seite des Flusses. Wenn das hier die Dorfkinder waren, was waren dann das da drüben für Kinder? Ich ging noch näher ans Ufer und zwickte meine Augen zusammen. Ich stand schon fast im Wasser. Das waren gar keine Kinder da auf der anderen Seite. Das waren nur kleine Menschen. Und jetzt sah ich auch, dass ausschließlich die Großen mit den Kleinen rauften. Keine Großen untereinander. Und es war auch kein einfaches Balgen. Da war Blut. Fast alle der Kleineren lagen inzwischen auf dem Boden. Ich schaute wieder zu den Kindern. Dann wieder zurück ans andere Ufer.

Das waren Perchtln. Die Russlacher kämpften mit Perchtln. Die Sagenfiguren. Perchtllauf, Perchtlmannderl, Perchtltraditionen. Die Bringer des Viechfiebers und anderer Hexereien. Der Grund, warum sich Kinder nachts vor Angst in den Schlaf weinten und ich im Egenkofener Schober so schlecht geschlafen hatte. Der Grund, warum die Kinder in Oberpfaffing nicht auf den Wachten durften. Die Feinde des heiligen Andreas von Rieding. Der Grund für den Andreaskult, den der Holderer und seine Heimatwahrer verbieten wollten. »Das sind Perchtln«, sagte ich zu den Kindern im Schober. Die größte, die Dreizehnjährige nickte.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Jetzt liefen die letzten drei Perchtln, die noch stehen konnten, in den Wald, verfolgt von einigen Russlachern. Andere Dörfler kümmerten sich um die drei auf dem Boden liegenden Ihrigen. Die schienen nur verletzt zu sein, denn sie bewegten sich, setzten sich auf und lachten sogar. Wieder andere begannen die auf dem Boden liegenden Perchtln zusammenzuziehen und zu einem Haufen zu stapeln. Vor wenigen Augenblicken war noch gekämpft worden und jetzt war alles schon wieder vorüber.

»Jetzt machen wir das Andreasfeuer«, sagte das Mädchen.

Wie auf ein Kommando standen die Kinder auf und gingen zurück ins Dorf. Unterhalb der Kirche war ein Steg über die Pfaffl. Ich folgte den Kindern. Deren Stimmung wurde langsam fröhlicher. Einige Erwachsene kamen uns entgegen und lachten. Sie hatten leichte Verletzungen im Gesicht und an den Armen und Beinen. Aus dem Dorf kam uns ein Trupp Greise hinterher, auf einem Handkarren ein Bierfass und ein totes Schwein. Als wir den Steg überquert hatten, waren die Russlacher auf der Viehweide bereits dabei, einen großen Baumstamm aufzustellen und die Kadaver darum herum aufzuschichten. Es sah aus wie die verkohlten Überreste im Wald. Mich gruselte.

Ich, wie fast jedes Kind hier in der Gegend, hatte schon so viele Schauergeschichten über die Perchtln gehört, so viele Perchtlläufe mitgemacht, aber als Erwachsener natürlich nicht mehr daran geglaubt. Wenn es die Perchtln also wirklich gab und nicht alles bloß eine Geschichte war, was bedeutete das für alles andere? War Andreas von Rieding doch ein echter Heiliger? Und die Kirche, der Holderer und die Amtmänner lagen falsch. Warum versuchten der Holderer, seine Wahrer und die Amtmänner trotzdem alle Spuren des Andreasglaubens auszulöschen? Wenn doch alles stimmte und gar kein Aberglaube war. Waren die Andreaspfähle und -kapellen nicht echter als die Kirchen und Wegkreuze mit der Mutter Gottes und dem heiligen Christophorus.

Ich ging langsam mit den Kindern auf den großen Pfahl mit den Leichen zu. Eltern umarmten ihre Kinder, andere Erwachsene brachten Holz und verteilten es auf, neben und unter den Toten. Irgendwo wurde ein Kohlehaufen angezündet, das Schwein abgeladen und das Fass angezapft. Ich ging langsam aber zielstrebig immer weiter auf den Scheiterhaufen zu. Als ich davor stand, traute ich mich erst nicht, mir die toten Perchtln anzusehen. Oben auf dem Haufen lag ein weiblicher Perchtl. Klein wie ein achtjähriges Kind, schwarze Haare und ledrig-braune, runzelige Haut. Die Nase war stark gekrümmt und die Augen wirkten wie zornig zusammengekniffen. Aber vielleicht war es doch keine Frau und ich tappte wieder in die Holdererfalle, weil ich mir einen bartlosen Mann einfach nicht vorstellen konnte. Alle anderen toten Perchtln hatten auch keine Bärte. Vielleicht hatten sie einfach keine. Ihre Kleidung war, ähnlich der unseren, einfach. Hosen, Wollhemden, Filzhüte. Was mir bei einem der Perchtln auffiel, waren seine farbenprächtigen Schuhe. Weiß mit bunten Seiten. Fast leuchtend. Plötzlich verstand ich, was der Saillerbub mit »von selber rot« gemeint hatte. So musste die Farbe gewesen sein, die Benno auf dem Wachten gesehen hatte. Aber bevor ich mir die Schuhe genauer ansehen konnte, kam einer der Russlacher, schob mich beiseite, goss Spiritus oder etwas Ähnliches über den Scheiterhaufen und zündete ihn mit einer Fackel an. Schlagartig wurde es sehr heiß und ich torkelte zurück.

Ich schaute in das Feuer und sah den Toten beim Verbrennen zu. Gesichter, die sich immer mehr verzerrten, Körperfett, das zischte und sprudelte, Finger, die sich zu Klauen krümmten, der anfangs fast angenehme Geruch von Gebratenem, der einem erst das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und einem dann aber die Kotze in die Kehle trieb, sobald man daran dachte, wessen Fleisch da briet. Später roch es nur noch verbrannt und die Körper der Toten verkohlten mehr und mehr. Ein Geruch, vertraut und beängstigend. Ein Geruch, den ich kannte. Untrennbar mit der Katastrophe verbunden, bei der ich meine ganze Familie verloren hatte.

Neben mir stand ein Mann, der im Vergleich zu allen anderen, die auf der Viehweide waren, sehr sauber war. Seine Kleidung wirkte städtisch und sein Schnurrbart war ordentlich gestutzt. Wahrscheinlich der Amtmann von Russlach, dessen Brotzeit ich gegessen hatte. Fast hatte ich ein schlechtes Gewissen. Er schaute mich an. Er wirkte wie ein Schulbub, der bei einem Streich erwischt worden war. Seine Anwesenheit schien ihm peinlich zu sein. Er schaute mich an, zuckte mit den Schultern und ging zurück ins Dorf.

Die Kirchenglocke begann zu läuten. Der Himmel riss auf und plötzlich war alles wieder gut. Der Spanferkelduft war stärker als der Gestank der verkohlenden Perchtln, das Bier floss und die Kinder tanzten. Einer der Dörfler spielte auf seiner Ziehharmonika. Das Perchtlschlachten war nicht viel länger als eine halbe Stunde her.

Ein Russlacher hatte mir ein Bier gegeben. Ich trank und ging damit über die nachmittägliche Weide in Richtung Wald. Dorthin, wo ich die überlebenden Perchtln hatte verschwinden sehen. Ich konnte mich trotz der brennenden Leichen eines stillen Glücksgefühls nicht erwehren. Die Sonne, die Wärme, die Musik, die tanzenden Kinder, die Berge, der leichte Biersuri. Obwohl ich nichts getan hatte, als dem Kampf vom anderen Pfafflufer aus zuzusehen, fühlte ich mich den Russlachern sehr nah. Ich pfiff und setzte mich auf einen umgefallenen Baum am Waldrand. Die Kinder begannen jetzt sogar in einer Pfafflgumpe zu baden und spritzen sich gegenseitig kreischend mit dem eiskalten Wasser an. Von der Angst in ihren Augen war nichts mehr zu sehen.

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