Kitabı oku: «Kirchliches Arbeitsrecht in Europa», sayfa 5

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a) Relevante Grundrechtspositionen kirchlicher Arbeitnehmer

Insbesondere im Zusammenhang mit der Personalauswahl und bei der Kündigung aufgrund eines Loyalitätsobliegenheitsverstoßes kann es zum Konflikt mit den aus der EMRK folgenden Grundrechten der kirchlichen Arbeitnehmer kommen. Die größte Relevanz kommt insofern dem Schutz des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK und der individuellen Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK zu. Zur Wahrung eines angemessenen Darstellungsumfangs wird nachfolgend auf die Erörterung der in diesem Zusammenhang durchaus auch bedeutsamen Gewährleistungen der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK), des Rechts auf Eheschließung (Art 12 EMRK) sowie des Diskriminierungsverbots (Art. 14 EMRK) verzichtet.102

aa) Der Schutz des Privat- und Familienlebens, Art. 8 EMRK

Infolge seines weitreichenden Schutzbereichs kann Art. 8 EMRK als das ganz zentrale Grundrecht zum Schutz insbesondere auch von Arbeitnehmern angesehen werden. Neben dem Schutz des Einzelnen vor staatlichen Eingriffen beinhaltet es auch die Gewährleistungspflicht (positive obligation)103 eines Konventionsstaates, die Rechte eines Arbeitnehmers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens gegenüber seinem Arbeitgeber zu schützen.104 Dabei wird der große Anwendungsbereich insbesondere des Rechts auf Achtung des Privatlebens bereits durch seine Auffangfunktion deutlich.105 Eine Definition des Begriffs hat der EGMR allerdings nicht vorgenommen, da dies weder möglich noch notwendig sei.106 Anknüpfungspunkt der Garantie ist jedenfalls die Autonomie des Individuums und sein Recht auf Selbstbestimmung.107 Demzufolge ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR jedenfalls auch der innere Bereich der Persönlichkeitssphäre bis hin zum Sexualleben und der sexuellen Orientierung geschützt.108 Auch der Begriff des Familienlebens ist weit zu verstehen: Über die eheliche Verbindung hinaus sind auch nichteheliche Lebensgemeinschaften vom Schutzbereich erfasst.109 Besteht eine derartige Verbindung, werden die Familienmitglieder darin geschützt, ihr Leben miteinander zu führen und persönlichen Kontakt zueinander halten zu können.110

Insofern wird bereits durch einen kurzen Aufriss des Schutzumfangs von Art. 8 EMRK deutlich, dass nachteilige Maßnahmen gegenüber einem kirchlichen Arbeitnehmer aufgrund dessen sexueller Orientierung, wegen einer außer- oder unehelichen Beziehung oder einer Wiederheirat nach Scheidung den Schutzbereich von Art. 8 EMRK verletzen können.111

bb) Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Art. 9 EMRK

Eine große Bedeutung für kirchliche Arbeitsverhältnisse erlangt freilich auch die individuelle Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK. Sie schützt die innere Überzeugung einer Person und das Annehmen einer Religion (forum internum), deren Bekenntnis bzw. Ausübung nach außen (forum externum), als auch die negative Religionsfreiheit.112 Insofern weist die Gewährleistung ganz erhebliche Übereinstimmungen mit dem Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1, 2 GG auf.113 Demnach kann auch weitestgehend auf das entsprechende deutsche Grundrechtsverständnis zurückgegriffen werden, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter anderem infolge ihrer im Grundgesetz vorbehaltlosen Gewährleistung meist ein höherer Stellenwert als durch den EGMR beigemessen wird.114

Wie im Rahmen von Art. 8 EMRK verpflichtet auch die Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK den Staat zu positivem Schutz.115 Dementsprechend ist die Anwendbarkeit von Art. 9 EMRK eröffnet, sofern ein kirchlicher Arbeitnehmer arbeitsrechtlichen Sanktionen aufgrund seines Kirchenaustritts oder wegen des Werbens für eine andere Religionsgemeinschaft ausgesetzt ist.116 Dies gilt freilich auch, wenn einem Bewerber aus den gleichen Gründen eine Einstellung versagt wird.

b) Die durch Art. 9 EMRK vermittelte Rechtsposition der Kirchen

Die konventionsrechtliche Etablierung einer Rechtsposition der Kirchen im Sinne einer korporativen Religionsfreiheit findet in Art. 9 EMRK ihren einzigen denkbaren Anknüpfungspunkt. Dabei ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, dass die Stellung der Kirchen in den einzelnen Rechtsordnungen der Konventionsstaaten erheblich divergiert und bereits aus diesem Grund eine umfassende, vereinheitlichende Regelung ihres grundrechtlichen Status zugleich das institutionelle Verhältnis von Staat und Kirche beeinflusst hätte.117 Infolgedessen fällt bereits bei einer nur oberflächlichen Betrachtung der Gewährleistung des Art. 9 EMRK118 auf, dass dessen Wortlaut keine explizite Garantie korporativer Religionsfreiheit enthält.119 Dennoch hat bereits die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) anerkannt, dass auch eine Religionsgemeinschaft eigene Rechte aus der Gewährleistung im Zusammenspiel mit Art. 34 EMRK geltend machen kann.120 Trotz jener Zuerkennung einer Klagebefugnis (sog. „victim-Status“) sowie einer eigenen Grundrechtsfähigkeit war aber für lange Zeit unklar, ob und in welcher Form ein kirchliches Selbstbestimmungsrecht vom kollektiven Aspekt der konventionsrechtlichen Religionsfreiheit umfasst ist.121

Spätestens122 durch die wegweisende Entscheidung in der Sache Hasan und Chaush/Bulgarien hat der EGMR aber die grundlegende Autonomie von Religionsgemeinschaften gegenüber staatlichen Eingriffen anerkannt.123 Diese Ergänzung der Gewährleistung um ein korporatives Element entspricht auch der einhelligen Auffassung im Schrifttum.124 Nach Ansicht des EGMR begründe das Recht auf Religionsfreiheit die legitime Erwartung, „dass die Religionsgemeinschaft friedlich und frei von willkürlicher staatlicher Einmischung operieren dürfe“.125 Dies folge auch aus einer Auslegung des Grundrechts im Lichte der Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 EMRK.126 Ferner findet sich in den einschlägigen Urteilen die elementare Feststellung, dass die Autonomie von Religionsgemeinschaften unverzichtbar sei für das Ziel der Konvention, den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft zu sichern und diese daher zum Wesensgehalt von Art. 9 EMRK gehöre.127 Dennoch legte der EGMR den Schutzbereich – wohl auch infolge der individualrechtlichen Konzeption der Gewährleistung – zunächst eher eng aus und beschränkte ihn auf einen Kernbereich kirchlicher Angelegenheiten. Entsprechend habe das Selbstbestimmungsrecht vor allen Dingen etwa das Recht der Religionsgemeinschaften zur Folge, ihr Führungspersonal und ihre Geistlichen eigenständig zu berufen, sowie eigene Wahlen abzuhalten.128 Erst in jüngerer Zeit anerkannte der EGMR im Zusammenhang der Überprüfung von Judikaten deutscher Gerichte zum kirchlichen Arbeitsrecht, dass ebenso auch die Freiheit der Kirchen, ihre dienst- und arbeitsrechtlichen Angelegenheiten selbstbestimmt an den eigenen Glaubensüberzeugungen auszurichten, von Art. 9 EMRK umfasst sei.129 Damit hat der EGMR den wesentlichen Schritt vollzogen, damit auch ein Recht auf ein spezifisch kirchliches Arbeitsrecht seine Grundlage in der Menschenrechtskonvention finden kann.

Dennoch ist der einhelligen Meinung in der Literatur darin zuzustimmen, dass Art. 9 EMRK keinen dem deutschen kirchlichen Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV entsprechenden Standard zu vermitteln in der Lage ist.130 Dies folgt schon aus der durch die Konstruktion des Art. 9 EMRK vermittelten Akzentuierung des Individualrechts und der kasuistischen Herangehensweise des EGMR, sodass ein wie von Art. 137 Abs. 3 WRV gewährtes, verlässliches dogmatisches Fundament wohl niemals wird etabliert werden können. Diese Defizite lassen sich auch nicht durch die Argumentation kompensieren, der EGMR müsse sich am deutschen „Maximalstandard“ hinsichtlich der kirchlichen Selbstbestimmung orientieren.131 In Anbetracht dieses Befunds ist die spezifische „Herausforderung“ des deutschen kirchlichen Arbeitsrechts durch die EMRK zu erblicken, welche infolge ihres geringeren Schutzumfangs hinsichtlich der institutionellen Rechtsstellung der Kirchen allenfalls eine Beschränkung deren Freiheiten im Arbeitsrecht – keinesfalls aber eine Erweiterung – herbeiführen kann.

c) Die Abwägung der betroffenen Grundrechtspositionen

Zur Klärung der zulässigen Reichweite von kirchenarbeitsrechtlichen Besonderheiten nach den Maßstäben der Menschenrechtskonvention ist eine Abwägung der Rechte der betroffenen Arbeitnehmer mit den Rechten der Kirchen als Arbeitgeber vorzunehmen.132 Da die Rechtfertigungserfordernisse der sich gegenüberstehenden Gewährleistungen von kirchlichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Wesentlichen kongruieren, genügt nachfolgend eine verallgemeinernde Darstellung, in deren Rahmen die einzelnen, sich gleichenden Prüfungspunkte zusammengefasst werden.133

aa) Die Eingriffsrechtfertigung

Ein Eingriff in den Schutzbereich der Art. 8 bis 11 EMRK kann nach deren jeweiligem in materieller Hinsicht ähnlichen Absatz 2 gerechtfertigt sein, wenn die Einschränkung gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz bestimmter enumerativ aufgezählter Rechtsgüter notwendig ist. Dabei ist das formale Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage nicht eng zu verstehen, da insoweit ein Gesetz im materiellen Sinne gemeint ist und somit auch Richter- und Gewohnheitsrecht als ausreichend erachtet werden.134 Auch der weitere Prüfungsschritt der Einschränkung zum Schutz eines bestimmten Rechtsguts stellt in der Rechtsprechungspraxis infolge der semantischen Offenheit der möglichen Eingriffsziele kein besonderes Hindernis dar;135 dies kann als gewisse Betonung der Eigenverantwortlichkeit der Konventionsstaaten verstanden werden.136 So wird etwa der in Art. 9 Abs. 2 EMRK genannte Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer als Generalklausel für sämtliche gesetzlich eingeräumten Rechte Dritter verstanden.137 Dies können etwa die Grundrechte kirchlicher Arbeitnehmer sein.138 Dieser Ansatz weicht erheblich von der Konzeption des Schrankenvorbehalts des „für alle geltenden Gesetzes“ im Rahmen des deutschen kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV ab.139

Das zentrale Prüfungskriterium für die Rechtmäßigkeit des Eingriffs ist vielmehr im Erfordernis der „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ zu erblicken. Daraus leitet der EGMR insbesondere eine Verhältnismäßigkeitskontrolle des Eingriffs ab, die sich in einem umfassenden Abwägungsvorgang niederschlägt.140 Da aber die einzelnen nationalen Ansichten innerhalb der EU über die Notwendigkeiten in einer demokratischen Gesellschaft differieren können, besteht zugunsten der Mitgliedstaaten in Abhängigkeit des betroffenen Lebensbereichs und Grundrechts ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) hinsichtlich der Gewichtung der entgegenstehenden Interessen, der sich konkret in einer Reduzierung der Kontrolldichte innerhalb der Abwägung durch den EGMR niederschlägt. Ist in Anwendung dessen im Einzelfall eine niedrigere Kontrolldichte maßgeblich, erhöht sich auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit der Rechtmäßigkeit des Eingriffs.

bb) Margin of appreciation – Einschränkung der Kontrolldichte

Die in ständiger Rechtsprechung anerkannte margin of appreciation141 ist eines der wesentlichen Prinzipien, das der EGMR bei der Interpretation der EMRK anwendet.142 Dies ermöglicht insbesondere eine Berücksichtigung der aus den langen Rechtstraditionen der einzelnen Konventionsstaaten stammenden nationalen Besonderheiten. Darin kommt zum Ausdruck, dass eine vollständige Homogenisierung aller Rechtsverhältnisse innerhalb der Konventionsstaaten vielfach mit deren verschiedenartigen historischen, kulturellen und sozialen Prämissen in Konflikt geraten würde und eine derartige radikale Vereinheitlichung die gesellschaftliche und politische Akzeptanz einer gesamteuropäischen Einigung unterminieren könnte. Entsprechend erachtet der EGMR die staatlichen Entscheidungsträger aufgrund deren unmittelbaren und kontinuierlichen Kontakts mit den elementaren Kräften ihrer Länder unter bestimmten Voraussetzungen in der besseren Position, um den genauen Inhalt der Gewährleistungen zu bestimmen.143 Dass auch der Europarat einen solchen „Puffer“ als essentiell für die langfristige Erhaltung seines supranationalen Projekts ansieht, kommt auch durch das Zusatzprotokoll XV zur EMRK vom 24. Juni 2013 zum Ausdruck, das die Doktrin der margin of appreciation der Präambel hinzufügt.144 Mit Inkrafttreten145 des Protokolls wird ihre normative Anerkennung erfolgen, infolgedessen ihr in Zukunft eine noch höhere Relevanz zukommen sollte. Jedenfalls sollte der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum spätestens damit aufgrund dieses ausdrücklichen Bekenntnisses nicht mehr lediglich als „Lippenbekenntnis“146 einzuschätzen sein.

Zur Bestimmung des Umfangs dieses Spielraums und der damit verknüpften, vom EGMR im Einzelfall praktizierten Kontrolldichte, sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen.147 Dabei ist unter anderem erheblich, welche Grundrechtsgewährleistung im Einzelfall tangiert ist. Eine höhere Kontrolldichte folgt danach insbesondere bei besonders bedeutsamen Grundrechtspositionen im Zusammenhang mit Art. 8 EMRK, die eine hohe Relevanz für die Existenz oder Identität einer Person haben.148 Dieser Aspekt kommt auch im kirchlichen Arbeitsrecht zum Tragen, wenn etwa arbeitsrechtliche Sanktionen aufgrund der praktizierten Homosexualität eines Mitarbeiters erfolgen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die entsprechenden Urteile des EGMR einen Eingriff von staatlichen Autoritäten in den Schutzbereich der Gewährleistung hatten und kein mehrpoliges Grundrechtsverhältnis zugrunde lag.

Auf der anderen Seiten verringert sich die Kontrolldichte insbesondere dann, wenn kein einheitlicher europäischer Standard (common ground) bei der Beurteilung einer bestimmten Rechtsfrage gegeben ist.149 Danach sinkt die Kontrolldichte in umso größerem Umfang, je heterogener eine bestimmte Angelegenheit durch die einzelnen Mitgliedstaaten rechtlich behandelt wird. Entscheidend ist somit, dass sich die maßgebliche Rechtstradition im betreffenden Staat von den anderen Konventionsstaaten in ausschlaggebender Weise unterscheidet.150 Der Rechtsvergleichung kommt somit für die Beurteilung dieser Frage eine besondere rechtspraktische Bedeutung zu.151

Auf dieser Grundlage kann ohne Weiteres festgestellt werden, dass den Konventionsstaaten ein weiter Ermessensspielraum bei religiösen Fragen und insbesondere im Hinblick auf das Staatskirchenrecht – das prototypisch für die nationale Diversität in Europa ist – zukommt.152 Insbesondere die Abwägung eines Rechtsguts mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ist unmittelbar mit den staatskirchenrechtlichen Grundentscheidungen einer Rechtsordnung verknüpft, die wiederum auf der spezifischen nationalen historischen Prägung und einer ausdifferenzierten Rechtezuordnung basiert.153 Da das kirchliche Selbstbestimmungsrecht auch der wesentliche Anknüpfungspunkt für ein kirchliches Arbeitsrecht ist, dürfte insbesondere in diesem Bereich eine besondere Zurückhaltung angebracht sein.154 Darüber hinaus ist auch im Speziellen von Bedeutung, ob und inwieweit die nationalen rechtlichen Ausgestaltungen auf dem Gebiet des kirchlichen Arbeitsrechts in Europa divergieren und sich insofern ggf. unterschiedliche Rechtstraditionen ausmachen lassen. Dies wird sich noch im weiteren Verlaufe des (exemplarischen) Vergleichs der deutschen, österreichischen, englischen und französischen Rechtsordnung innerhalb dieser Arbeit herausstellen. Ohne Berücksichtigung dieser konkreten Beurteilungsgrundlage verneinen allerdings verschiedene Stimmen innerhalb der Literatur einen besonderen Beurteilungsspielraum des EGMR bezüglich des kirchlichen Arbeitsrechts wegen des Entgegenstehens wichtiger Individualrechte.155 Dabei spricht vieles dafür, dass diese Auffassung den Aspekt der nationalen Besonderheiten unzulässigerweise übergeht.

Für einen weiten Beurteilungsspielraum staatlicher Gerichte im Zusammenhang des kirchlichen Arbeitsrechts lässt sich darüber hinaus ein weiteres Kriterium anführen. Eine geringere Kontrolldichte der Abwägungsentscheidung ist auch in den Fällen der Prüfung staatlicher Gewährleistungspflichten zu nennen, die im Rahmen mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse betroffen sind.156 Daraus folgt in Abgrenzung zu einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle eher eine „Vertretbarkeitskontrolle“, die der einzelstaatlichen Gewichtungsbeurteilung größere Freiheit einräumt. Dies lässt sich auch aus dem Günstigkeitsprinzip des Art. 53 EMRK ableiten, nach dem keine Regelung der EMRK dahingehend ausgelegt werden darf, dass sie eine in einem nationalen Gesetz festgelegte Grundfreiheit mindert.157 Bedauerlicherweise scheint dem EGMR aber insofern eher das Selbstverständnis einer „Superrevisionsinstanz“158 zu eigen zu sein, da er dazu neigt, auch in mehrpoligen Rechtsverhältnissen das Schema einer umfassenden Abwägungsprüfung wie bei einer bipolaren Rechtsverletzung anzuwenden.159 Diese Tatsache ist äußerst kritisch zu beurteilen.

2. Gemeinschaftsrecht

Eine unmittelbare staatskirchenrechtliche Kompetenz der EU besteht – wie bereits erwähnt – nicht. Insbesondere die in jüngerer Vergangenheit verabschiedete Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist aber geeignet, Auswirkungen auf das nationale kirchliche Arbeitsrecht zu entfalten. Daneben stellt im europäischen Sekundärrecht die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG die für die kirchlichen Arbeitgeber mit großem Abstand folgenreichste Regelung dar. Insbesondere in diesem Zusammenhang bedürfen schließlich auch die im Primärrecht enthaltenen Aussagen über den Status der Kirchen in der EU nach Art. 17 AEUV einer kurzen Analyse.

a) Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Die Transformation der EU von einer Union gemeinsamer Wirtschaftspolitik hin zu einer Grundrechtsgemeinschaft160 findet ihren bisherigen Höhepunkt durch die im Rahmen des Vertrags von Lissabon in Kraft getretene Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV erkennt die EU die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Grundrechte-Charta niedergelegt sind und bestimmt deren Gleichrangigkeit mit den Verträgen. Die GRCh hat infolgedessen den Rang von Primärrecht und geht sämtlichem europäischem Sekundärrecht vor.161

Der Anwendungsbereich der GRCh bezieht sich für die Mitgliedstaaten nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh ausschließlich auf die Durchführung des EU-Rechts.162 Daraus folgt, dass die GRCh auch im innerstaatlichen Bereich rechtliche Wirkung entfaltet, sofern staatliche Institutionen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts umsetzen oder nationales Recht anwenden, das auf Europarecht beruht. Es kommt zu einer „mittelbaren Horizontalwirkung“ der Grundrechte, die durch die Verpflichtung des Staates – etwa ein Gericht – Rechtsfolgen in Privatrechtsverhältnissen entfaltet.163 Dementsprechend ist die GRCh auch auf sämtliches Sekundärrecht und die entsprechenden Umsetzungsakte anwendbar, die das kirchliche Arbeitsrecht erfassen.164 Dies gilt insbesondere für das im Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG normierte Antidiskriminierungsrecht.165 Dabei kommt dem in Art. 21 GRCh geregelten allgemeinen Diskriminierungsverbot besondere Bedeutung zu.

Aus dem limitierten Anwendungsbereich von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh folgt, dass der materielle Gehalt von nationalen kirchenarbeitsrechtlich relevanten Rechtsnormen, die keinen Bezug zum Unionsrecht aufweisen, auf nationaler Ebene nicht an der Grundrechtecharta zu messen ist. Dies gilt etwa für die Auslegung der „sozialen Rechtfertigung“ nach § 1 KSchG und des „wichtigen Grundes“ gemäß § 626 BGB.166 Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum umfassenden Anwendungsbereich der EMRK. Auch die individuelle Rechtsdurchsetzung auf Grundlage der GRCh ist eingeschränkt. Eine Grundrechtsbeschwerde zum EuGH – entsprechend der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK zum EGMR – existiert nicht. Eine prozedurale Durchsetzung der EU-Grundrechte ist im Wesentlichen nur dann möglich, wenn ein nationales Gericht eine Vorlagefrage i.S.v. Art. 267 AEUV an den EuGH richtet.167 In materieller Hinsicht ist das Verständnis der GRCh maßgeblich durch die EMRK geprägt, die als gesamteuropäischer Mindeststandard Grundlage für die Charta der Grundrechte der EU ist.168 So haben nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh die Rechte der Charta, die denjenigen der EMRK entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der Konvention verliehen wird. Zudem wird in Abs. 5 der Präambel der GRCh auch die Rechtsprechung des EGMR als mitkonstituierendes Element des Inhalts der Unionsgrundrechte genannt. Insofern kann hinsichtlich der EMRK und GRCh eine „Parallelität der Grundrechtsordnungen“169 konstatiert werden. In concreto kommt dies durch eine erhebliche inhaltliche Konvergenz verschiedener Grundrechte zum Ausdruck: Art. 8 EMRK ist die Basis für die Gewährleistung der Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 7 GRCh.170 Auch der Schutz der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 GRCh entspricht im Wesentlichen Art. 9 EMRK.171 Daher vermag es nicht zu überraschen, dass auch in Art. 10 GRCh angesichts der Vielzahl der unterschiedlichen Staatskirchensysteme innerhalb der EU keine ausdrückliche Verankerung eines kirchlichen Selbstbestimmungsrechts vorgenommen wurde.172 Die auf dieser eher unzureichenden Grundlage gewährleistete Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts orientiert sich daher an den vorangegangen Ausführungen zu Art. 9 EMRK. In Anbetracht dessen kann der GRCh ein Schutz kirchlicher Autonomie nach deutschem Vorbild nicht entnommen werden.173 Zwar ist auch im Hinblick auf die Unionsgrundrechte der Schutz des Mindeststandards nach Art. 53 GRCh174 zu beachten, nach dem die europäischen Grundrechte nicht in einer Weise ausgelegt werden dürfen, dass der einzelstaatliche Grundrechtsschutz geschmälert wird (negative Abschirmung). In mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen ist dies freilich wenig hilfreich, da der Schutz der kirchlichen Selbstbestimmung nach deutschem Recht dem Anwendungsvorrang des konfligierenden Grundrechts aus der GRCh ausgesetzt wäre.175 Eine abweichende Beurteilung kann jedoch aus Art. 17 Abs. 1 AEUV folgen, dessen rechtlicher Gehalt nachfolgend noch erörtert wird.

Abschließend bleibt jedenfalls festzustellen, dass durch die Parallelität von EMRK und GRCh mittelbar die Rechtsprechung des EGMR zum kirchlichen Arbeitsrecht, die wesentlich auf Art. 8, 9 EMRK beruht, auch im Zusammenhang mit der Effektuierung der entsprechenden Rechte aus der GRCh Relevanz entfalten wird. Dabei wird aber vor allen Dingen in langfristiger Perspektive kein vollständiger Auslegungsgleichlauf durch die beiden Rechtsprechungsorgane aus Straßburg und Luxemburg zu erwarten sein.176 Zwar fungiert die EMRK als Auslegungshilfe, der EuGH wird aber künftig autonom Rechtsfortbildung im Bereich der EU-Grundrechte betreiben und von diesen erfasste Sachverhalte eigenständig bewerten. Damit wird er als supranationale Rechtsprechungsinstanz für das kirchliche Arbeitsrecht erheblich an Bedeutung gewinnen. Beunruhigend mag da aus kirchlicher Sicht erscheinen, dass der EuGH bislang kein der margin of appreciation entsprechendes Konzept zur Berücksichtigung nationaler Rechtstraditionen entwickelt hat.177

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