Kitabı oku: «Darwin schlägt Kant», sayfa 2

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Menschliche Psychologie und menschliche Vernunft

Zwar hat Kant recht: Die Vernunft ist die entscheidende Fähigkeit des Menschen, um die Wirklichkeit zu erkennen und ein autonomes Leben zu führen. Das Beispiel des Urzeitmenschen zeigt aber, dass die menschliche Vernunft zweischneidig ist. Sie hat ein immenses Potenzial, ist jedoch auf der anderen Seite aus guten evolutionären Gründen mit vielfältigen Schwachpunkten ausgestattet. Diese beiden Seiten bestimmen die Chancen und die Risiken, die mit ihr verbunden sind. Dabei bewegt sie sich nicht in einem luftleeren Raum. Sie ist eingebunden in die psychologische Grundstruktur und damit Teil der allgemeinen menschlichen Natur. Diese menschliche Natur bewegt sich selbst zwischen zwei entgegengesetzten Polen. An dem einen Pol verfügt sie über ein großes Potenzial für Kooperation und die Gestaltung tragfähiger Beziehungen. Auf der anderen Seite findet sich eine grenzenlose egoistische Dynamik, die in diesem Buch als »egoistische Selbstbehauptung« bzw. »Wille zur Macht« bezeichnet wird. Auch diese beiden Pole der allgemeinen menschlichen Natur sind Ergebnis evolutionärer Prägungen. Sie entspringen also nicht unseren Wünschen und unseren Idealvorstellungen darüber, wie die menschliche Natur sein sollte. Aus der Perspektive der Evolution haben diese beiden Seiten ebenso einen Sinn wie die zwei entgegengesetzten Seiten der menschlichen Vernunft. Der Sinn erschließt sich aus einer evolutionären Entwicklung, die sich über Hunderttausende von Jahren vollzogen hat. Aber sind diese Baupläne, die sich in unvorstellbar langen Zeiträumen entwickelt haben, für den modernen Menschen noch sinnvoll? Stimmen die grundlegenden Konstruktionselemente der allgemeinen menschlichen Psychologie und der menschlichen Vernunft in der heutigen Zeit noch? Stimmt das Verhältnis zwischen Chancen und Risiken für das Leben in unserer heutigen Welt, die sich fundamental vom Umfeld der Urzeitmenschen unterscheidet? Jedenfalls sind die Risiken beträchtlich. Diese Risiken sind Folge der Prägungen, die uns die Evolution aus einst guten Gründen in unsere psychologische Grundstruktur und unsere Vernunft über Hunderttausende von Jahren eingebrannt hat.

Das, was ich hier einleitend mit wenigen Worten skizziere, ist der Leitgedanke dieses Buches. Die beiden entgegengesetzten Pole der menschlichen Natur im Allgemeinen und der menschlichen Vernunft im Speziellen haben vielfältige Wirkungen. Sie erklären individuelle menschliche Verhaltensweisen ebenso wie gesellschaftliche, wissenschaftliche, geschichtliche oder politische Phänomene.

Dieses Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil steht die Analyse der allgemeinen menschlichen Natur und insbesondere der menschlichen Vernunft im Vordergrund. Im Verlauf dieses ersten Teils werde ich ein übergeordnetes Erklärungsmodell präsentieren, das die vielfältigen, evolutionär geprägten Schwachstellen und Fehlerquellen der menschlichen Vernunft und damit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit abbildet. Es handelt sich um das RSG-Modell (Registrieren-Subjektivieren-Generalisieren), auf das ich auch im zweiten Teil des Buches immer wieder Bezug nehmen werde (Kap. 5). Ebenfalls noch im ersten Teil stelle ich auch eine praktische Vorgehensweise vor, die den Schwachstellen und Fehlerquellen der menschlichen Vernunft Rechnung trägt. Es ist die pragmatisch-phänomenologische Vorgehensweise (vgl. Kap. 7).

Die grundlegenden Konstruktionsbedingungen der menschlichen Natur und vor allem der menschlichen Vernunft finden sich in allen Bereichen, die mit Menschen und menschlichen Aktivitäten zu tun haben. Das ist der Fokus des zweiten Teils dieses Buches. Hier werden die Folgen dieser Bedingungen – und die damit verbundenen Chancen und Risiken – anhand verschiedener Beispiele in Gesellschaft, Geschichte, Politik, Wissenschaft oder Ökonomie dargelegt. In den Blick geraten dabei so unterschiedliche Facetten dieses Themas wie die menschliche Tendenz, Regeln, Gesetze und Normen bis zur Absurdität zu generalisieren. Es lassen sich aus dieser Perspektive aber gleichfalls Fehlleistungen in der Wissenschaft, in der modernen Informationsgesellschaft oder in der Ökonomie zeigen. Am Schluss des zweiten Teils nimmt das aktuelle Thema des Populismus einen breiten Raum ein. Grob gesagt, lassen sich die Empfänglichkeit für Populismus und populistische Propagandamethoden auf die Mechanismen des RSG-Modells zurückführen. Das gilt für die individuelle Empfänglichkeit vieler Menschen für populistische Agitation. Das gilt aber auch für klar benennbare gesellschaftliche Schwachstellen in westlichen Demokratien. Diese Schwachstellen schaffen ein Klima, in dem populistische Agitation gut gedeihen kann.

Grundlage der folgenden Analyse ist, dass wir zunächst einmal genau die konkreten Schwachstellen der menschlichen Vernunft in den Blick nehmen. Diese Schwachstellen begegnen uns auf drei verschiedenen Ebenen.

Ebene 1: Grundlegende erkenntnistheoretische Grenzen unseres Denkens

Denken und Wahrnehmung bewegen sich in einer vorgegebenen Struktur. Diese Struktur ist mit einem Betriebssystem vergleichbar, ohne das die »Maschine« gar nicht laufen würde. Das Betriebssystem als solches nehmen wir gar nicht wahr. Es ist ein Raster, das wir in alles und jedes automatisch hineinprojizieren. Da wir ohne Betriebssystem gar nichts wahrnehmen und denken können, ist es allgegenwärtig, ohne dass es uns bewusst ist. Mit diesen erkenntnistheoretischen Grenzen hat sich die Philosophie ausgiebig beschäftigt.

Ebene 2: Allgemeine psychologische Schwachstellen der menschlichen Vernunft

Wenn die erkenntnistheoretischen Grenzen dem Betriebssystem entsprechen, dann sind die allgemeinen psychologischen Schwachstellen mit den vielen unterschiedlichen Programmen verbunden, die den operativen Betrieb unserer Wahrnehmung und unseres Denkens gewährleisten. Sie sind vorab installiert. Hier hat uns die Evolution allerdings zahlreiche »Bugs« eingebaut.

Ebene 3: Persönlichkeitsprofile mit individuell akzentuierten Schwachstellen der menschlichen Vernunft

Die Schwachstellen der ersten beiden Ebenen betreffen mehr oder weniger alle Menschen. Manche Menschen können damit besser umgehen, andere schlechter. Selbstverständlich bin ich der Überzeugung, dass es sehr nützlich ist, die Schwachstellen genau zu kennen, um den mit ihnen verbundenen Risiken möglichst aus dem Wege zu gehen. Die dritte Ebene geht aber über den Umgang mit den Schwachstellen hinaus. Denn Menschen haben höchst unterschiedliche Charaktereigenschaften. Es gibt zahlreiche Persönlichkeitsprofile, durch die jene Schwachstellen der menschlichen Vernunft auf individueller Ebene drastisch verschärft werden.

Teil 1: Begrenzungen und Schwachstellen menschlichen Denkens und Handelns

1Erkenntnistheoretische Grenzen der menschlichen Vernunft
1.1Grünes Blatt und roter Ball, alles Täuschung oder was?

Will man Grenzen und Schwachstellen der menschlichen Urteilsfähigkeit untersuchen, kommt man nicht an der philosophischen Erkenntnistheorie vorbei. Denn wie erwähnt betrifft sie gewissermaßen das Betriebssystem unseres Denkens. Im Zentrum steht die Frage, was man überhaupt mit dem menschlichen Verstand erkennen kann und wo prinzipielle, also theoretische Grenzen liegen. Hier muss noch einmal Immanuel Kant erwähnt werden. Die Ideen Kants sind keine leichte Kost, aber ich hoffe, die Leserinnen und Leser lassen sich nicht abschrecken. Wem dieser philosophische Einstieg aber zu abstrakt ist, der kann dieses Kapitel auch problemlos überschlagen und gleich mit den »Apps«, also der operativen Programmierung unserer Vernunft, fortfahren.

Bevor wir uns im Zusammenhang mit dem »Betriebssystem« mit synthetischen und analytischen Urteilen und anderen Ideen Kants beschäftigen, möchte ich mit einem praktischen Beispiel beginnen. Es verdeutlicht das prinzipielle Problem, um das es Kant und anderen Philosophen geht: Wenn wir ein grünes Blatt oder einen roten Ball sehen, dann sagen wir: Das Blatt ist grün oder der Ball ist rot. So empfinden wir es auch. Das Grün empfinden wir als eine Eigenschaft des Blattes und das Rot als eine Eigenschaft des Balls. Für uns sind es ein grünes Blatt und ein roter Ball. Aber sind diese Farben, die wir wahrnehmen, wirklich Eigenschaften des Blattes und des Balls?

Philosophisch gesprochen: Hat das »Ding an sich«, also das, was wir als Blatt, und das, was wir als Ball wahrnehmen, wirklich diese Farbeigenschaften? Ist das Blatt auch dann grün, wenn wir nicht hinschauen? Ist der Ball auch dann rot, wenn wir ihn nicht ansehen? Sind die grüne und die rote Farbe also Eigenschaften, die etwas über den tatsächlichen Charakter der beiden Dinge aussagen? Oder entstehen die grüne und die rote Farbe durch die Art, wie wir sehen, und sind eigentlich Eigenschaften, die mehr über uns als über das Blatt und den Ball aussagen? Dass sich die Farben, die wir den Dingen zuordnen, mit anderen Augen ganz anders darstellen, kann man sich leicht am Beispiel der Bienen verdeutlichen. Bienen können im Gegensatz zu uns ultraviolettes Licht sehen. Rot hingegen existiert für sie nicht. Was für uns rot ist, ist für die Biene schwarz. Aber dafür sehen Bienen prachtvolle Farbmuster, die wir nicht erkennen können und bei denen wir nur eine einzige Farbe sehen.

Physikalisch ist es so: Unsere Farbwahrnehmung beruht auf der Wahrnehmung von Licht. Licht ist eine elektromagnetische Strahlung. Es kommt in verschiedenen Wellenlängen vor. Je nachdem, mit welcher Wellenlänge das Licht auf unsere Netzhaut trifft, werden sogenannte Farbrezeptoren aktiviert. Diese Farbrezeptoren lösen bei uns eine Farbwahrnehmung aus. Die Farben entstehen also in unserem Kopf und sind ein subjektiver Eindruck. Hat das Licht eine Wellenlänge zwischen 490 und 570 Nanometer, dann löst das bei uns die Wahrnehmung der Farbe Grün aus. Trifft Licht mit einer Wellenlänge zwischen 640 und 780 Nanometer auf unsere Netzhaut, dann wird damit der Schalter für »Rot« gedrückt und wir »sehen« rot.

Das Blatt ist in unseren Augen deswegen grün, weil es selber gar nicht grün ist. Was meine ich damit? Das Blatt kann die Wellenlängen schlucken (absorbieren), die Rot oder Blau entsprechen. Einzig die Wellenlänge zwischen 490 und 570 Nanometer kann das Blatt nicht verarbeiten. Sie wird abgewiesen und damit reflektiert. Wenn wir also das Blatt ansehen, dann trifft dieses reflektierte Licht auf unsere Netzhaut und wir sehen »grün«. Genauso ist es beim Ball. Er ist in unseren Augen deswegen rot, weil er das Licht im Wellenspektrum von Rot reflektiert. Man könnte sagen, wir ordnen dem »Ding an sich« genau die Farbe als Eigenschaft zu, die am allerwenigsten mit dem eigentlichen Charakter des »Dings an sich« zu tun hat. Denn es ist ja die Farbe, die das »Ding an sich« von sich abweist und zurück in die Umwelt reflektiert.

Man kennt das Prinzip der Farbwahrnehmung aus dem Physikunterricht. Es ist ein gutes Beispiel für eine fundamentale Frage, die weit über Farben und Sinneswahrnehmungen hinausgeht. Was können wir tatsächlich von uns selbst und von der Welt, in der wir leben, erkennen? Können wir unseren Sinnen und unserer Vernunft vertrauen oder spielen uns beide ein Theater vor, das mit der »wirklichen Welt« wenig oder gar nichts zu tun hat? Viele Philosophen haben über die Erkenntnismöglichkeiten und deren Grenzen nachgedacht, die mit unseren Sinneswahrnehmungen und unserer Vernunft verbunden sind. Bis in unsere Gegenwart prägend ist das Werk Immanuel Kants.

Kant rückte die Gesetzmäßigkeiten der Vernunft und ihren Zusammenhang mit den Erkenntnismöglichkeiten der Wirklichkeit ins Zentrum seiner Metaphysik. Die Metaphysik ist der Zweig der Philosophie, der sich mit den Dingen beschäftigt, die »hinter« den Dingen stehen bzw. zu vermuten sind. Die Metaphysik sucht also nach den großen und letzten Wahrheiten. Kant zog es bei dieser Suche nicht hinaus in die Welt. Vielmehr machte er das Instrumentarium, mit dem wir die Welt zu erkennen glauben, selbst zum Forschungsgegenstand. Er kehrte also erst einmal vor der eigenen Haustür und beschäftigte sich mit der menschlichen Vernunft und den menschlichen Wahrnehmungen. »Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten«. [2, S. XVI]

»A priori« ist ein Terminus, der bei Kant häufig vorkommt. Er meint damit ein Wissen, das unabhängig von konkreten Erfahrungen besteht. Also ein Wissen, das es schon »vorher« gibt, bevor wir irgendeine Sinneswahrnehmung oder Erfahrung einleiten. Kant hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit man von einer »Erkenntnis a priori« sprechen kann. Doch dazu später mehr.

Jedenfalls bringt Kant mit seinem Zitat Folgendes auf den Punkt: Wir haben es mit den Erscheinungen der Dinge zu tun, nicht aber mit den Dingen an sich. Wir sehen den roten Ball so, wie er auf unserer Netzhaut erscheint. Wir wissen aber nicht, wie er aussieht, wenn wir nicht hinschauen. Die Erscheinungen, so wie sie sich uns darbieten, so wie sie in unserem Bewusstsein stattfinden, sind nach den Regeln unseres eigenen Erkenntnisvermögens aufgebaut. Das heißt, sie spiegeln in hohem Maße die Regeln unserer eigenen Wahrnehmung und Vernunft wider. Manche Autoren greifen diesen Gedanken auf und sagen: Das »Ding an sich« gibt es doch dann gar nicht. Denn das »Ding an sich« wäre die wahre Identität hinter der Erscheinung, so wie sie unabhängig von einem Beobachter existiert. Wir kennen aber nichts anderes als diese Erscheinungen, die in unserem Kopf entstehen. Alles das, was wir wahrnehmen, sei daher eine Art Illusion, die wir selbst produzieren. Das glaube ich nicht. Auch Kant meinte, dass es »ungereimt« sei, anzunehmen, »daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint«. [2, S. XXVII] Ein anderes Argument für die Existenz des »Dings an sich« sei »der moralische Vernunftglaube, der, auf das Bewusstsein der Pflicht gestützt, von hier zum Unbedingten, das heißt zu Gott, Freiheit und Unsterblichkeit aufsteigt«. [3, S. 17]

1.2Kant und seine synthetischen Urteile a priori

Wie kann man nun aber wissen, welcher Teil unserer Wirklichkeitswahrnehmung nur eine Folge der Struktur unseres Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögens ist und welcher Teil unabhängig davon tatsächlich existiert? Kant unterscheidet analytische von synthetischen Urteilen. Analytische Urteile sind solche, die sich zwingend aus der Logik einer Aussage ergeben. Patzig definiert das so: »Ein Satz ist analytisch in einer Sprache S, wenn über seine Wahrheit entschieden werden kann allein aufgrund der Bedeutungsregeln von S und der Gesetze der Logik.« [3, S. 23] Ein einfaches Beispiel dafür ist der Satz: Alle Schimmel sind weiß. Aufgrund der Definition von Schimmel (Schimmel = weißes Pferd) folgt logisch, dass der Satz wahr ist. Denn er heißt im Grunde nichts anderes als: Alle weißen Pferde sind weiße Pferde. Demgegenüber sind synthetische Urteile solche, bei denen der Wahrheitsgehalt nicht anhand solcher immanent vorhandenen logischen Regeln entschieden werden kann. Kant spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Erweiterungsurteil.

Er unterscheidet ferner zwischen Urteilen a priori und a posteriori. A priori sind Urteile, für deren Beurteilung nicht auf Erfahrungen zurückgegriffen werden muss. Also Dinge, die man einfach weiß, weil man sie weiß. A posteriori sind Urteile, zu deren Begründung explizit Erfahrungen verwendet werden müssen. Also Dinge, die sich belegen lassen, wenn wir etwas beobachten oder ausprobieren.

Demzufolge gelten folgende Zusammenhänge: Analytische Urteile sind immer a priori, weil die Beurteilungskriterien dieser Urteile bereits immanent vorliegen und nicht erst nachträglich anhand einer Beweisführung – zum Beispiel experimentell – ermittelt werden müssen. Daraus folgt zwingend: Es kann keine analytischen Urteile a posteriori geben (denn für die braucht es ja Beweise). Hingegen ist die Mehrheit aller synthetischen Urteile zwingend a posteriori. Denn sie werden ja meist anhand von Erfahrungen (z. B. durch Experimente) belegt. Bei einem Experiment handelt es sich um nichts anderes als um die Bestätigung oder das Verwerfen einer zuvor aufgestellten Hypothese anhand von konkreten Erfahrungen.

Strittig ist die Frage, ob es auch synthetische Urteile a priori geben kann. Das wären Aussagen, die nicht allein aufgrund von logischen Gesetzen oder Sprachdefinitionen (weißer Schimmel) beurteilt werden können. »Andererseits darf aber auch Erfahrung zu ihrer Begründung oder Ablehnung nicht ausreichen, weil sie schlechthin allgemeingültig und notwendig zu sein beanspruchen.« [3, S. 24] Kant sah die Existenz solcher Urteile, die nicht nur einen Begriff analytisch zergliedern und näher bestimmen, sondern unsere Erkenntnisse wirklich erweitern, als bewiesen an.

Was kompliziert klingt, ist praktisch eine wichtige Frage. Wenn synthetische Urteile a priori nicht möglich wären, dann gäbe es eine einfache Zweiteilung. Über die Wirklichkeit können wir dann nur etwas aus der Erfahrung wissen, also letztlich mit empirischen Methoden (z. B. Experimente). Alles andere (z. B. freies Nachdenken oder Philosophieren) wäre dann nichts anderes als das Reproduzieren von Regeln und Implikationen, die vorher schon von uns selbst angelegt waren. Es wäre also in gewisser Weise ein formales Kreisen um sich selber. Erkenntnis der Wirklichkeit wäre über diesen Weg nicht möglich.

Kant vertrat eine andere Meinung. Nehmen wir uns noch einen Augenblick Zeit, um seine Argumentation besser zu verstehen. Sie kommt – reichlich verdichtetet – in folgendem Satz zum Ausdruck: »[…] auf solche Weise sind synthetische Urteile a priori möglich, wenn wir […] sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.« [2, S. 197]

Wie bitte? Kant sagt mit diesem Satz, dass es Bedingungen gibt, die uns überhaupt erst die Möglichkeit verschaffen, eine Erfahrung zu machen. Sie sind aber gleichzeitig auch Bedingungen der Gegenstände, die wir durch Erfahrung erkennen können. Es handelt sich um Bedingungen, die allgemein und notwendig sind, nicht aber aus der Erfahrung stammen. Es geht somit um die Form, in der uns Gegenstände gegeben werden. Gegeben werden uns Gegenstände durch unsere Sinnesorgane. Demnach gibt es eine Wahrnehmung von Gegenständen, bevor das Denken einsetzt und diesem Gegenstand einen Begriff zuordnet. Kant spricht davon, dass unsere Sinne durch Gegenstände affiziert werden können und uns diese Gegenstände dann in der Form gegeben werden, die Kant Anschauung nennt. Anschauung ist die Art, wie uns Gegenstände durch unsere Sinneswahrnehmungen unmittelbar gegeben werden können. Der Begriff »Gegeben-Werden« soll zum Ausdruck bringen, dass es sich um einen spontanen passiven Vorgang handelt. Er läuft also automatisch und unbewusst ab. Es muss nicht aktiv – zum Beispiel durch gedankliche Verarbeitung – etwas getan werden. Kant sagt es so: »[…] vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.« [2, S. 33]

Nach Kant sind der Raum und die Zeit reine Formen der Anschauung. Damit ist gemeint, dass diese uns über die Sinne gegebenen Kategorien als Eigenschaften auch für die Gegenstände objektive Gültigkeit haben – unabhängig von unserer Wahrnehmung und unserem Bewusstsein.

Aufbauend auf diesem Grundgedanken untersuchte Kant, wie unser Verstand funktioniert, wenn er die sinnliche Wahrnehmung eines Gegenstandes weiterverarbeitet. Elementar für diesen Verarbeitungsprozess sind Urteile, mit denen irgendetwas über den Gegenstand ausgesagt wird. Eine Systematik der Form dieser Urteile legte Kant in einer Tafel dar, in der er aus reinen Urteilsformen eine Liste reiner Verstandesbegriffe (Kategorien) ableitete. Die Tafel gilt nicht als vollständig und muss heute zum Teil in ihren Zuordnungen revidiert werden. Wichtig ist aber der Grundgedanke: Nach Kant gibt es Funktionskategorien unseres Verstandes, die für uns die Vorstellung einer objektiven Außenwelt konstituieren, also qualitativ, quantitativ, relational oder modal bestimmte Kategorien wie Einheit, Negation, Kausalität, Notwendigkeit etc. Die reinen Verstandesbegriffe, die Kant postulierte, leitete er aus der Tatsache ab, dass wir ein eigenes Identitätserleben haben. Demnach nehmen wir uns als ein Wesen war, das sich seiner Existenz selbst bewusst ist. Darum müssen wir uns zwingend von einer unabhängig von uns bestehenden Welt unterscheiden. Denn Identität kann nur in der Abgrenzung von etwas anderem geschaffen werden.

Das Element der »sinnlichen Affizierung« (die automatisch ablaufende Wahrnehmung von Gegenständen, bevor das Denken einsetzt) hat in den Überlegungen von Kant eine Schlüsselstellung. Denn es ist das Tor zum Erkennen objektiv gültiger Kategorien, die unabhängig von unserem Bewusstsein existieren. Genau dieser Punkt ist allerdings auch sehr umstritten. Denn er entwertet alle Erkenntnismöglichkeiten des Bewusstseins abseits der sinnlichen Affizierung.

Dieser Streitpunkt knüpft an die Kontroverse von Rationalisten und Empiristen an, die sich später und bis heute zum Beispiel in der Rezeption des Positivismus fortsetzt. Ich will bereits an dieser Stelle feststellen, dass ich die Möglichkeiten zur Generierung wirklichkeitsnaher Erkenntnisse durch reine, im Bewusstsein erzeugte Ideen ebenfalls stärker gewichte, als Kant dies tat. Dementsprechend stimme ich auch keinesfalls der Meinung strikter Empiristen zu, nach der reine Empirie der einzig wissenschaftlich legitimierte Weg für objektiv gültige Erkenntnisse ist. Hierauf werde ich später noch genauer eingehen (Kap. 7.4 und 12.16).

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732 s. 5 illüstrasyon
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9783280090916
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