Kitabı oku: «Darwin schlägt Kant», sayfa 4
2.4What you see is all there is (WYSIATI-Regel)
Wir haben eine außerordentlich hohe Bereitschaft, uns aus wenigen, oft zufälligen und unvollständigen Informationen eine Geschichte zu zimmern, die subjektiv passt. Dabei leisten uns der Halo-Effekt, der Rückschaufehler und viele weitere verzerrungsanfällige Mechanismen gute Dienste. Die subjektiv passende und angenehme Geschichte glauben wir gerne, halten sie für wahr, und das mit einem hohen Maß an innerer Überzeugung. Unser intuitives System ist darauf ausgerichtet, möglichst schnell eine kohärente Geschichte parat zu haben. Die Kohärenz der Geschichte ist das entscheidende Kriterium. Auf wie vielen Informationen diese Kohärenz beruht, von welcher Qualität diese Informationen sind, welche Informationen fehlen, das alles spielt keine Rolle. Häufig verfügen wir zwar nur über sehr wenige Informationen. Das beeinträchtigt aber nicht unsere Überzeugung, die wir mit einer Geschichte verbinden. Hier spielt nur die höchst subjektiv empfundene Kohärenz der Geschichte eine Rolle. Das ist der Kern der WYSIATI-Regel: Was wir nicht sehen, was wir nicht wissen, das gibt es nicht.
Kahneman beschreibt, dass es nicht auf die Menge oder die Qualität von Informationen ankommt. Wie stark wir von etwas überzeugt sind, hänge vor allem »von der Qualität der Geschichte ab, die wir über das erzählen können, was wir sehen, auch wenn wir nur wenig sehen«. Ist die Geschichte stimmig, dann sind wir restlos überzeugt. Zweifel und mögliche Widersprüche werden unterdrückt, und uns fällt gar nicht auf, dass uns viele wichtige Informationen fehlen. [4, S. 115]
Ein anderes Beispiel für die WYSIATI-Regel ist der Framing-Effekt: Die 90-prozentige Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Operation zu überleben, wirkt beruhigender als die Aussage, dass ein 10-prozentiges Sterberisiko besteht. Dies, obwohl beide Aussagen inhaltlich genau das Gleiche bedeuten.
»In ähnlicher Weise ist Aufschnitt, der als ›90-prozentig fettfrei‹ beschrieben wird, anziehender als ›Aufschnitt mit 10 Prozent Fett‹. Die alternativen Formulierungen sind ganz offenkundig gleichbedeutend, aber eine Person sieht normalerweise nur eine Formulierung und ›nur was man sieht, zählt.‹« [4, S. 115]
Ein anderes Beispiel ist der Basisratenfehler. Er beschreibt, dass wir völlig unabhängig von der zugrunde liegenden statistischen Wahrscheinlichkeit einer Tatsache diese für wahrscheinlich oder unwahrscheinlich halten, je nachdem, ob uns eine um sie herum konstruierte Geschichte subjektiv kohärent erscheint oder nicht. Einer Versuchsgruppe werden zum Beispiel zwei Eigenschaften einer Person präsentiert: sanftmütig und ordentlich. Dann werden die Probanden gefragt, welchen Beruf diese Person wohl habe. Die meisten entscheiden sich in der dargebotenen Auswahl für den Beruf des Bibliothekars und nicht des Landwirts. Denn das Bild eines ordentlichen und sanftmütigen Bibliothekars kreiert eine subjektiv kohärente Geschichte. Statistisch gibt es aber sehr viel mehr männliche Landwirte als Bibliothekare, sodass es ungleich wahrscheinlicher ist, dass eine zufällig ausgewählte Person Landwirt statt Bibliothekar ist. [4, S. 17–18, 115]
2.5Priming
Der Begriff Priming bezeichnet Phänomene, bei denen zufällig – zumeist unbewusst – eine Information aufgenommen wird, die dann später – ebenso zufällig – unsere Urteilsbildung oder unser Verhalten beeinflusst.
In einem Experiment erhielt die Hälfte einer Gruppe von Studenten Wörter, die mit älteren Menschen assoziiert werden. Sie sollten die ungeordneten Wörter durch eine Satzaufgabe ordnen. Dann wurden sie in ein anderes Büro geschickt. Der Fußweg zu diesem Büro war das eigentliche Experiment. Denn nun wurde gemessen, wie schnell sie diese Strecke bewältigten. Die Studenten, die Wörter bearbeitet hatten, die mit Alter zu tun haben (z. B.: vergesslich, grau, Florida oder Falte), bewältigten die Strecke erheblich langsamer als eine Gruppe, die andere Wörter erhalten hatte. Kahneman führt zu diesem Experiment aus: »Der ›Florida-Effekt‹ umfasst zwei Priming-Phasen. Zunächst primt die Menge der Wörter Gedanken an hohes Alter, obwohl das Wort ›alt‹ nie erwähnt wird; anschließend primen diese Gedanken ein Verhalten, langsames Gehen, das mit Betagtheit assoziiert ist. All dies geschieht unbewusst.« [4, S. 73]
Das Ganze funktioniert auch umgekehrt. Das heißt, motorische Aktionen beeinflussen die Tendenz unserer Wahrnehmungen: »In einem Experiment sollten die Versuchspersonen durch neue Kopfhörer Botschaften lauschen. Ihnen wurde gesagt, Zweck des Experiments sei es, die Qualität der Audiogeräte zu testen, und sie sollten ihre Köpfe wiederholt bewegen, um mögliche Klangverzerrungen festzustellen. Die Hälfte der Teilnehmer sollte mit dem Kopf nicken, während die anderen den Kopf schütteln sollten. Die Nachrichten, die ihnen vorgespielt wurden, waren Radiokommentare. Diejenigen, die nickten (eine bejahende Geste), stimmten der Nachricht, die Sie [sic] hörten, im Allgemeinen zu, während diejenigen, die den Kopf schüttelten, sie tendenziell ablehnten. Wieder waren sich die Probanden dessen nicht bewusst, vielmehr bestand nur eine gewohnheitsmäßige Beziehung zwischen einer ablehnenden oder zustimmenden Einstellung und ihrem üblichen mimischen Ausdruck.« [4, S. 74]
In verschiedenen Experimenten wurden Teilnehmer auf das Thema »Geld« geprimt. Sie sollten etwa zunächst Wörter zu einem Geldthema ordnen. Das Priming auf Geld funktioniert aber auch sehr viel subtiler, wie zum Beispiel durch scheinbar zufällig im Hintergrund herumliegendes Monopoly-Geld auf einem Tisch oder den Bildschirmschoner eines Computers, der scheinbar zufällig ein Dollarzeichen zeigt. All diese Stimuli reichten aus, um das Verhalten der entsprechend geprimten Personen zu verändern. Sie hielten zum Beispiel bei einem Experiment doppelt so lange durch wie andere Teilnehmer, zeigten sich auf der anderen Seite aber auch signifikant egoistischer. So waren sie weniger bereit, einem anderen Studenten zu helfen, der die Teilnehmer, als Teil des Experiments, um Hilfe bat. [4, S. 75–76]
2.6Ankereffekte
Studenten wurden aufgefordert, die Zahl aufzuschreiben, bei der ein rotierendes Glücksrad stehen blieb. Das Glücksrad war so eingestellt, dass es nur den Wert 10 oder 65 anzeigen konnte. Dann wurden den Studenten zwei Fragen gestellt: 1. Ist der Prozentsatz afrikanischer Staaten bei den Vereinten Nationen größer oder kleiner als die Zahl, die Sie notiert hatten? 2. Wie hoch schätzen Sie den konkreten Prozentsatz?
Die Zahl auf dem Glücksrad hatte offensichtlich nichts mit den beiden Fragen zu tun. Trotzdem hatte sie einen starken Einfluss auf die Antworten. Die Studenten, die die 10 notiert hatten, schätzten den Prozentsatz im Schnitt auf 25 Prozent. Die Studenten, die die Zahl 65 gesehen hatten, schätzten den Prozentsatz auf 45 Prozent.
Das Beispiel zeigt, dass vor allem unser intuitives System sehr offen dafür ist, beliebige Informationen aus der Umwelt entgegenzunehmen und uns dann an anderer Stelle wieder unterzujubeln.
Ankereffekte können Ergebnis eines – unbewussten – Priming-Effektes sein. Sie können aber auch dem bewussten, kognitiven Prozess entspringen. Dann wird der Anker bewusst berücksichtigt. Interessant ist, dass der Einfluss von Ankereffekten auf unsere Beurteilungen und unser Verhalten vollkommen losgelöst von einem rationalen Zusammenhang ist. [4, S. 152–153] Deswegen werden Ankereffekte intensiv im Rahmen von Verkaufs-, Marketing- und Verhandlungsstrategien eingesetzt.
2.7Wiederholungen
Altbekannt und ein Prinzip, das die Werbung, aber auch die Politik ausgiebig gebraucht, sind Wiederholungen. Aussagen, die wir häufig hören, wirken vertraut. Vertrautheit erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass wir diese Aussage unabhängig von ihrem tatsächlichen Wahrheitsgehalt glauben. Generell weniger glaubwürdig erscheint uns eine Aussage, die wir noch nicht kennen.
Kahneman beschreibt diesen Effekt so: »Wenn man sich nicht an die Quelle einer Aussage erinnern kann und keine Möglichkeit hat, sich auf andere Dinge zu beziehen, die man kennt, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich an die gefühlte Mühelosigkeit des Denkens zu halten.« [4, S. 85]
Vertrautheit ist für unser Denken sehr bequem. Denn wir müssen uns ein Wissen nicht durch geistige Anstrengung erarbeiten, sondern erkennen einen Sachverhalt einfach wieder. Deswegen glauben wir Dinge, die wir schon häufiger gehört haben, leichter.
2.8Kausalitätsillusion
Es gibt sehr viele Befunde, die zeigen, dass die Wahrnehmung von Kausalität, also das Wahrnehmen von Ursache-Wirkungs-Beziehungen, ein sehr frühes Muster ist, das Menschen auf Vorgänge der Außenwelt projizieren. Kahneman schildert das Experiment von Fritz Heider und Mary-Ann Simmel aus dem Jahr 1944:
»Sie stellten einen Film her, der nur eine Minute und vierzig Sekunden lang ist und in dem man ein großes Dreieck, ein kleines Dreieck und einen Kreis sieht, die sich um eine Figur bewegen, die aussieht wie die schematische Ansicht eines Hauses mit einer offenen Tür. Die Betrachter sehen ein aggressives großes Dreieck, das ein kleineres Dreieck drangsaliert, einen verschreckten Kreis, wobei sich der Kreis und das kleine Dreieck verbünden, um den Rüpel zu überwältigen; sie sehen auch viel Gezerre an einer Tür und dann ein explosives Finale. Der Eindruck von Absicht und Emotionalität ist unwiderstehlich; nur Menschen, die an Autismus leiden, erleben dies nicht. Natürlich geschieht dies nur in unserem Kopf. Unser Gehirn ist nicht nur bereit, sondern regelrecht darauf aus, Akteure zu identifizieren, ihnen Persönlichkeitszüge und spezifische Intentionen zuzuschreiben und ihre Handlungen als Ausdruck individueller Neigungen zu interpretieren.
Auch hier sprechen die empirischen Befunde dafür, dass wir mit einer Anlage für intentionale Attributionen geboren werden: Schon Säuglinge unter einem Jahr identifizieren Rüpel und Opfer und erwarten von einem Verfolger, dass er den kürzesten Weg nimmt, um das zu fangen, hinter dem er her ist.« [4, S. 102–103]
Wir sind extrem darauf ausgerichtet, Kausalität und stimmige Geschichten zu konstruieren. Man kann sich leicht vorstellen, warum das sinnvoll ist. In einer Flut möglicher Informationen und Details ist es ein Gebot der Effizienz, nicht jede einzelne Information und jedes einzelne Detail abzuspeichern, sondern nach übergeordneten Mustern zu suchen. In einer kausalen Ordnung, in einer stimmigen Geschichte, in einem erklärenden Muster lassen sich Informationen in ökonomischer Weise verdichten. Neben der Reduzierung von Komplexität vermitteln uns Kausalität und andere identifizierte Muster ein Gefühl von Sinn und Kontrolle. Wir haben Angst, uns in zusammenhanglosen, für uns sinnlosen Informationen und Zufälligkeiten zu verlieren. Deswegen gibt es die starke Tendenz, Informationen und Ereignisse, mit denen wir konfrontiert werden, in ein Muster oder eine runde Geschichte zu zwängen. Wir lieben es, am Schluss etwas Kompaktes, Übersichtliches und Eindeutiges vor uns zu haben, einem Auto gleichend, das in einer Schrottpresse zu einem kompakten Rechteck zusammengedrückt wurde.
Man weiß, dass das Gehirn uns diese Tendenz vorgibt. Ein Drogenspürhund ist auf das Aufspüren von Drogen ausgerichtet. In ähnlicher Weise sucht unsere linke Hirnhälfte immer und überall nach Mustern. Anders als der Drogenspürhund wird sie aber fast immer fündig. Denn sie kann die vermeintlichen Muster selbst konstruieren und die Informationen so auswählen, formen und interpretieren, dass in der subjektiven Perspektive am Schluss alles zusammenpasst. Auch Neurotransmitter wie zum Beispiel Dopamin unterstützen diesen Prozess. So hilft Dopamin, bestimmte Muster zu fokussieren und dieses eine fokussierte Muster gegen konkurrierende Eindrücke (Muster) abzuschotten. Es begünstigt also eher ein Entweder-oder statt eines Sowohl-als-auch.
Unsere gesamte psychologische und biologische Programmierung ist darauf ausgerichtet, der Welt Muster, Regeln und vor allem Kausalität überzustülpen. Manchmal werden sie der Wirklichkeit auch halbwegs gerecht. Oft produzieren sie aber nur heiße Luft und nichts anderes als eine Verzerrung, die zwar mit der Wirklichkeit kaum oder gar nicht übereinstimmt, aber sich gut anfühlt.
2.9Physiognomischer Kurzschluss
Wie wir gesehen haben, ist unser intuitives System darauf ausgelegt, blitzschnell Beurteilungen vorzunehmen. Das gilt auch für unsere Sicht auf andere Menschen. So konnte gezeigt werden, dass ein starkes Kinn mit Dominanz und ein leichtes, selbstbewusstes Lächeln mit Vertrauenswürdigkeit assoziiert werden. Diese biologischen Automatismen sind weit davon entfernt, zu richtigen Urteilen zu führen. Sie prägen uns aber nach wie vor. In Studien konnten Zusammenhänge zwischen den beschriebenen einfachen biologischen Parametern und späterem Wahlerfolg von Politikern nachgewiesen werden.
Dieser Zusammenhang scheint insbesondere bei politisch uninformierten Wählern, die sehr viel fernsehen, deutlich ausgeprägt zu sein. In einer Studie war er bei solchen Personen dreimal so stark entwickelt wie bei Personen, die weniger fernsehen und sich besser informieren. [4, S. 119–120]
2.10Überschätzung geringer Häufigkeiten
Unser intuitives System kann schlecht mit Zahlen, Maßen, Statistik und Wahrscheinlichkeiten umgehen. Dieser Umstand führt zu typischen Beurteilungsfehlern. Kahneman schildert in diesem Zusammenhang ein Beispiel der Statistiker Howard Wainer und Harris L. Zwerling.
Es gibt viele Studien, die sich damit beschäftigten, Merkmale zu identifizieren, die erfolgreiche von weniger erfolgreichen Schulen unterscheiden. »Eines der Ergebnisse dieser Forschungen ist«, so Kahneman, »dass die erfolgreichsten Schulen, im Schnitt, klein sind. In einer Studie an 1662 Schulen in Pennsylvania zum Beispiel waren sechs der fünfzig besten Schulen klein, sodass sie vierfach überrepräsentiert waren. Diese Daten veranlassten die Gates-Stiftung dazu, erhebliche Finanzmittel für die Schaffung kleiner Schulen bereitzustellen, gelegentlich auch durch Aufspaltung großer Schulen in kleinere Einheiten. Mindestens ein halbes Dutzend andere bekannte Institutionen […] schlossen sich dem Projekt an […]. Dies erscheint Ihnen vermutlich intuitiv als sinnvoll. Man kann leicht eine kausale Geschichte konstruieren, die erklärt, wieso kleine Schulen bessere Bildungsergebnisse und daher mehr leistungsstarke Schüler produzieren, nämlich dadurch, dass den Schülern mehr persönliche Aufmerksamkeit und Ermunterung durch die Lehrer zuteilwird, als dies in größeren Schulen möglich wäre. Leider ist diese kausale Analyse müßig, weil die Fakten falsch sind. Wenn die Statistiker, die im Auftrag der Gates-Stiftung tätig waren, nach den Merkmalen der schlechtesten Schulen gefragt hätten, hätten sie festgestellt, dass die schlechtesten Schulen ebenfalls unterdurchschnittlich klein sind. Die Wahrheit ist, dass kleine Schulen im Durchschnitt nicht besser sind; sie sind lediglich variabler.« [4, S. 149–150]
Im Kern geht es um Folgendes: Zufallsbedingte Schwankungen führen in kleineren Stichproben zu erheblich höheren Effekten als in größeren Stichproben. Nehmen wir an, dass im Schnitt einer von 100 Schülern besonders gute mathematische Leistungen erbringt. In der Stadt gibt es eine große Schule mit 500 Schülern, in einem kleinen Dorf auf dem Land eine kleine mit nur 40 Schülern. Ein Elternpaar, beide Mathematikprofessoren, liebt die Natur. Darum zieht es mit seinen vier Kindern aufs Land. Die Kinder sind mathematisch sehr begabt und wurden seit frühester Kindheit stark gefördert. Ihr mathematisches Leistungsvermögen ist außerordentlich. Sie allein katapultieren die Quote für mathematisch besonders starke Schüler in ihrer neuen Schule auf 10 Prozent. Das ist zehnmal mehr als der Durchschnitt im Land. Aber die tolle Quote hat gar nichts mit der Schule zu tun, sondern nur mit der Landliebe der Eltern. In der großen Schule der Stadt wäre der Effekt der vier Kinder lediglich 0,8 Prozent, bliebe also noch unter dem allgemeinen Durchschnitt von 1,0 Prozent.
In einer kleinen Stichprobe führen »zufällige« Faktoren zu extremen Bewertungen. Deswegen gibt es unter den besten Schulen viele kleine – aber eben auch unter den schlechtesten Schulen sind kleine Schulen überrepräsentiert. Statistisch gesehen handelt es sich um ein Artefakt, weil die Stichprobengröße zu klein ist, um eine verlässliche Aussage zu machen.
2.11Der schwarze Schwan und stumme Zeugen
Nassim Nicholas Taleb war ursprünglich Finanzmathematiker. Im Libanon geboren, studierte er in den USA und war an verschiedenen Universitäten als Professor tätig. Im Investmentbanking arbeitete er für verschiedene Firmen an der Wallstreet. 2007 veröffentlichte er ein Buch, in dem er vor den Gefahren der Finanzwirtschaft und den gängigen mathematischen Modellen warnte. Anlagen, die nach seinen Empfehlungen investierten, erwirtschafteten in der Finanzkrise 2008 sehr hohe Gewinne. Taleb versteht sich als ein »skeptischer Empirist« und hat sich mit seinen Büchern und wissenschaftlichen Publikationen weltweit einen Namen gemacht. Stark beachtet und in viele Sprachen übersetzt wurde sein Buch über den »Schwarzen Schwan«. [5]
In diesem Werk setzt sich Taleb damit auseinander, wie anfällig wir dafür sind, insbesondere seltene Ereignisse – die schwarzen Schwäne – vollkommen falsch einzuschätzen. Wir über- oder unterschätzen ihre Häufigkeit, über- oder unterschätzen ihre Wirkungen und produzieren häufig falsche Erklärungen für das Auftreten solcher Ereignisse. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Taleb intensiv mit unserer Tendenz, überall Kausalitäten zu erkennen und vermeintlich stimmige Geschichten zu konstruieren. Wir haben dieses Phänomen bereits als Kausalitätsillusion kennengelernt (Kap. 2.8). Taleb bringt zahlreiche Beispiele für verzerrte Wahrnehmungen, haltlose Kausalitäten und Geschichten, die uns subjektiv einleuchtend und überzeugend erscheinen. Er bezeichnet dieses Phänomen als »Theoretisierungskrankheit«, von der viele Menschen befallen seien. [5, S. 90ff.]
Zu Recht betont er dabei die Rolle der Medien. Denn deren berufsmäßige Bestimmung ist es, am laufenden Band vermeintliche Kausalitäten und stimmige Geschichten zu produzieren. Viele der so verbreiteten Kausalitäten und Geschichten halten einer Prüfung nicht stand. Witzig und gleichzeitig anschaulich ist folgendes Beispiel, das Taleb schildert:
»An einem Tag im Dezember 2003, als Saddam Hussein gefasst worden war, verbreitete Bloomberg News um 13:01 Uhr die folgende Schlagzeile: ›US-Staatsanleihen steigen; Ergreifung von Hussein wird den Terrorismus vielleicht nicht eindämmen.‹
Wenn der Markt sich bewegt, fühlen die Nachrichtenmedien sich immer verpflichtet, den ›Grund‹ dafür zu nennen. Eine halbe Stunde später war eine neue Schlagzeile nötig. Die US-Staatsanleihen waren im Preis gefallen (sie fluktuieren den ganzen Tag über, das war also nichts Besonderes), und Bloomberg News hatte dafür einen neuen Grund: die Ergreifung von Saddam (demselben Saddam). Um 13:31 Uhr kam das nächste Bulletin heraus: ›US-Staatsanleihen fallen; Ergreifung von Hussein steigert Attraktivität riskanter Anlagen.‹
Die gleiche Ergreifung (die Ursache) wurde also als Erklärung für ein Ereignis und sein genaues Gegenteil benutzt. Das kann natürlich nicht sein; die beiden Fakten können nicht miteinander im Zusammenhang stehen […].
Es passiert ständig: Man führt einen Grund an, damit wir die Nachricht schlucken und die Sache konkreter aussieht. Nach der Wahlniederlage eines Kandidaten wird man uns die ›Ursache‹ für die Verärgerung der Wähler liefern. Dafür ist jede erdenkliche Ursache recht. Die Medien bemühen sich aber sehr, den Prozess durch die Heerscharen ihrer Mitarbeiter, die die Fakten überprüfen, ›gründlich‹ zu machen. Sie wollen sich anscheinend mit unendlicher Genauigkeit irren (statt zu akzeptieren, dass sie in etwa recht haben, wie die Verfasser von Fabeln).« [5, S. 101]
Im Zusammenhang mit verzerrenden und oft haltlosen Kausalitäten behandelt Taleb auch das Thema der stummen Zeugen. Stumme Zeugen sind ein Spezialfall der WYSIATI-Regel, wie sie vorangehend dargestellt wurde (Kap. 2.4). Das, was wir nicht wahrnehmen, gibt es im inneren Verarbeitungsprozess nicht. Es kann daher auch nicht angemessen berücksichtigt werden. Diesem Schicksal sind stumme Zeugen nahezu immer ausgesetzt. So werden geschichtliche Epochen stets durch die Überlebenden und in der Regel durch die Sieger bzw. die Mächtigen erklärt. Die Verfolgten, die Unterdrückten, die auf den Schlachtfeldern Dahingemetzelten oder auf andere Art frühzeitig Verstorbenen können sich nicht mehr äußern. Sie geraten in Vergessenheit und sind typische Vertreter der Gattung der stummen Zeugen. Auch in der Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte können selbstverständlich nur die Arten Berücksichtigung finden, die fossile oder zumindest genetische Spuren hinterlassen haben. Diejenigen, die sang- und klanglos ausgestorben sind, ohne für uns Nachfahren irgendwelche Zeugnisse ihrer Existenz zu hinterlassen, kommen in unseren Vorstellungen und den wissenschaftlichen Modellen nicht vor. Es ist, als hätte es sie nie gegeben.
Mit Recht verehren wir große Komponisten und große Autoren. Ihre Größe und den Wert ihrer Werke messen wir meist an anderen Komponisten und anderen Autoren, die uns bekannt sind. Diese Vergleichsgruppe ist aber sehr willkürlich gewählt. Denn es gibt Millionen von Musikern und Millionen von Schriftstellern, deren Werke nie publiziert wurden oder aus anderweitigen Gründen für immer in Vergessenheit geraten sind. Vielleicht sind sie früh verstorben, vielleicht konnten sie ihre musikalischen oder literarischen Fähigkeiten aufgrund ihrer sozialen Situation nicht entfalten. Vielleicht gerieten ihre Werke aus anderen Gründen für immer in Vergessenheit. Noch viel wahrscheinlicher ist es aber, dass sie gar keinen Musikproduzenten oder keinen Verleger gefunden haben. Renommierten Buchverlagen werden jedes Jahr viele Tausend Manuskripte zugeschickt. Die wenigsten davon werden gelesen und fast alle werden abgelehnt. Sie verschwinden für immer in der Versenkung. Es wäre völlig naiv anzunehmen, dass unter den vielen Millionen verhinderten Musikern und Schriftstellern nicht auch etliche große Persönlichkeiten mit hervorragenden Werken waren. Aber wir kennen sie nicht und werden sie niemals kennenlernen. Ja, wir halten sogar gerne die Illusion aufrecht, dass die großen Meister, die uns bekannt geworden sind, deswegen erfolgreich waren, weil sie sich von den vielen Namenlosen entweder in persönlichen Eigenschaften oder in der Qualität ihrer Werke unterscheiden. Taleb weist mit Recht darauf hin, dass neben dem zweifellos nützlichen Talent, über das ein Künstler verfügt, auch jede Menge Glück und Zufälligkeiten dafür entscheidend sind, dass er und seine Fähigkeiten bekannt werden. So, wie Erfolg im Leben fast immer etwas – zumindest auch – mit Glück und Zufall zu tun hat. [5, S. 131ff.]