Kitabı oku: «Darwin schlägt Kant», sayfa 3

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1.3Trotz aller Bedenken: Denken lohnt sich!

Halten wir hier einfach einmal fest, dass es umstritten ist, ob es synthetische Urteile a priori geben kann oder nicht. Die meisten Autoren gehen aber – in Übereinstimmung mit Kant – davon aus, dass prinzipiell Erkenntnisse über Wirklichkeit nicht nur durch die Auswertung von Erfahrungen möglich sind, sondern – etwas zugespitzt ausgedrückt – auch durch reines Denken.

Ich teile diese Auffassung. So bin ich davon überzeugt, dass durch Gedankenexperimente oder durch die freie Variation im Sinne der Phänomenologie (vgl. Kap. 7.3) nicht nur eine Reproduktion bestehender Regeln oder eine haltlose Spekulation generiert werden können. Gerade Kant selbst ist ein Beispiel dafür, welch bahnbrechende Erkenntnisse durch Gedankenexperimente hervorgebracht werden können. Denn seine Untersuchungen im Zusammenhang mit synthetischen Urteilen a priori sind nichts anderes als das. Auch Einstein nutzte Gedankenexperimente sehr intensiv. Einige seiner Ergebnisse wurden sehr viel später durch Experimente bestätigt, andere widerlegt. Richtig ist aber der Einwand, dass zum Beispiel Gedankenexperimente nicht empirisch überprüfbar sind, sofern sie sich nicht auf theoretisch überprüfbare Schlussfolgerungen beziehen. Das mag ein Nachteil sein. Aber bei näherem Hinsehen erkennt man, dass viele wichtige Fortschritte in der Wissenschaft nicht durch Experimente, sondern zunächst durch Gedankenexperimente erreicht wurden. Manchmal konnten sie erst viele Jahre später – a posteriori – experimentell bestätigt wurden. Ohnehin ist es so, dass die experimentellen Methoden der Empirie häufig überschätzt werden (vgl. Kap. 6).

Auch hier darf noch einmal auf Kant verwiesen werden. Er demonstrierte am Beispiel der Physik – übertragen gilt das für jede Naturwissenschaft –, dass experimentelle Methoden keineswegs mit Empirie gleichzusetzen sind. Patzig schreibt dazu: »Der Physiker, wie jeder Naturwissenschaftler, muß von einer bestimmten Hypothese ausgehen, und seine Experimente müssen Antworten auf gezielt formulierte Fragen liefern.« [3, S. 15]

Bei Kant klingt das so: »Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf.« [2, S. XIII]

Die Vernunft erkennt Kant zufolge in der Natur also nur das, »was sie selbst nach ihrem Entwurfe« in die Natur hineingetragen hat. »Diese Aussage«, so Patzig, »räumt der Spontanität der Vernunft bei der wissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklichkeit eine führende, ja ausschließliche Rolle ein.« [3, S. 15]

Neben der Vorstrukturierung durch Hypothesenbildung gibt es einen weiteren Nachteil von naturwissenschaftlichen Experimenten: Immer wird durch ein Experiment die Komplexität der wirklichen Verhältnisse drastisch reduziert. Häufig führt das auf dem Papier und in PowerPoint-Präsentationen zu schön darstellbaren Ergebnissen, die aber leider zu Verzerrungen und falschen Schlussfolgerungen führen. Das ist ein gravierender Einwand gegen experimentelle Methodik. Wir werden uns mit den vielfältigen praktischen Konsequenzen dieser Problematik noch genauer beschäftigen. Genau das ist aber ein großer Vorteil von Gedankenexperimenten. Denn sie sind weit weniger auf die Reduzierung von Komplexität angewiesen.

Die Strukturregeln unseres Erkenntnisvermögens laden zwar zu Verzerrungen ein und sind mit zahlreichen Limitationen verbunden. Aber wenn man die Prinzipien und die Fallstricke kennt, lässt sich dessen Potenzial besser nutzen. Und dieses Potenzial ist trotz aller Einschränkungen groß. Denn die Strukturprinzipien unseres Verstandes eröffnen ein Spektrum von unendlich vielen möglichen Gedanken und Kombinationen von Gedanken. Dass dadurch – zumindest manchmal – nicht nur eine quantitative Aussage gemacht ist, sondern auch qualitativ – ähnlich dem oft zitierten Quantensprung – eine über die ursprünglich engen Grenzen hinausweisende Erkenntnis möglich sein soll, scheint mir eine plausible Annahme zu sein. Warum soll etwas Unendliches von vornherein begrenzt, also qualitativ endlich sein?

1.4Zusammenfassung erkenntnistheoretischer Grenzen

Unsere Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten sind durch viele Vorstrukturierungen geprägt, bevor sie überhaupt in Gang gesetzt werden. Ich habe diese Grundeinstellungen vorangehend mit einem Betriebssystem verglichen. Es gibt nur dieses eine Betriebssystem, das den Rahmen vorgibt. So wie ein Computer durch sein Betriebssystem begrenzt wird, gehen mit dem menschlichen Gehirn bestimmte Dinge und andere gehen nicht. Diese Grundeinstellungen sind die harten Grenzen unserer Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit. Psychologische Mechanismen spielen hier noch keine Rolle. Gerade sie sind es aber, die im vorliegenden Buch im Zentrum stehen. Dazu zählt z. B. unser Hang, Beurteilungen, Prinzipien, allgemein verbreitete oder subjektiv höchst naheliegende und vertraute Meinungen zu verabsolutierten und als allgemeingültig anzusehen. Notwendige Differenzierungen und das Sowohl-als-auch bleiben auf der Strecke. Das hat kleine oder große Katastrophen zur Folge. Damit verwandt sind all die bequemen, naheliegenden und sowohl bei einzelnen Menschen als auch bei ganzen Gesellschaften verbreiteten typischen psychologischen Urteilsfehler. Bei ihnen geht es oft darum, der gefühlten Wahrheit den Vorzug gegenüber der Wahrheit zu geben, die durch das Potenzial der eigenen Vernunft eigentlich erkannt werden könnte. Die Konsequenzen für die Praxis sind ähnlich verheerend.

Bei diesen psychologischen Mechanismen lässt sich eine Verbindung zu philosophischen Erkenntnistheorien erkennen. Auch dort und somit schon in der Grundstruktur unseres Erkenntnisprozesses angelegt ist die Tendenz, Erkenntnisse über die Welt mit eigenen Projektionen in diese Welt zu verwechseln. So ist das, was der Mensch als vermeintliche Wahrheit in der Welt erkennt, oft nichts anderes als das, was und wie er selber denkt. Die vermeintliche Wirklichkeit gleicht dann einem Spiegel, in dem einem die eigene Person in neuem Gewand entgegentritt. Der Mensch sieht in dem, was er in der Welt erkennt, nur sich selbst, geht aber davon aus, dass er Eigenschaften der Dinge dieser Welt erkennt. Dass wir darauf hereinfallen, ist aber nicht zwangsläufig. Denn wir haben gute Gründe anzunehmen, dass den Erscheinungen ein »Ding an sich« zugrunde liegt, auch wenn es uns in einem objektiven Sinne stets verborgen bleiben muss.

Zugespitzt formuliert: Dass uns ein Auto von A nach B bringt, dass wir mit absoluter Zuverlässigkeit prognostizieren können, dass ein Apfel, der sich vom Baum löst, nicht zum Himmel steigt, sondern zu Boden fällt, spricht dafür, dass vieles, was die Vernunft erkennt, in der Praxis gut funktioniert und seine Nützlichkeit für den Umgang mit der Welt, in der wir leben, unter Beweis stellt.

Es wird noch davon die Rede sein, dass sowohl die Aufklärung als auch die Vernunft als ihr zentrales Instrument immer wieder stark kritisiert und in ihrem Nutzen infrage gestellt wurden. Nun ist aber unsere Vernunft – zum Beispiel basierend auf unseren Sinneswahrnehmungen – das einzige Instrument, das uns gegeben ist, um Dinge zu erkennen, einzuordnen, zu verstehen und Urteile zu bilden. Etwas anderes haben wir nicht. Sie ist trotz ihrer naturgegebenen Limitationen und Schwachstellen auch gar nicht so schlecht und hat in der Menschheitsgeschichte doch einiges Brauchbares hervorgebracht. Wir haben also guten Grund, uns ihrer mit einigem Zutrauen in ihre Fähigkeiten zu bedienen.

Mit diesem Buch ist die Hoffnung verbunden, dass die Leser für sich aus der Lektüre einen praktischen Nutzen für den Umgang mit eigenen Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten generieren können. Damit ist mein tiefer Glaube verbunden, dass wir mit all unseren erkenntnistheoretischen Limitationen und den Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten wirklich sehr viel erreichen und verbessern können. Dafür ist es nützlich, wenn uns die wichtigsten Fallstricke bekannt sind und wir sie umgehen können – vielleicht nicht immer, aber zumindest ab und zu.

2Allgemeine psychologische Schwachstellen der menschlichen Vernunft

Die Psychologie hat eine Fülle von Schwächen unseres Wahrnehmungsapparates und unseres Urteilsvermögens herausgearbeitet, die zu systematischen Verzerrungen und Fehlbeurteilungen führen. Es handelt sich um Fehlerquellen, die aus der Art und Weise resultieren, wie unsere Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeiten psychologisch konstruiert sind. Es sind gewissermaßen Konstruktionsmängel, die durch die Evolution bis heute noch nicht beseitigt wurden. Genau genommen sind es aus Sicht der Evolution aber gar keine Mängel, sondern bewusst in Kauf genommene Schwächen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

All diese archaischen Programme und Mechanismen stecken nach wie vor in uns. Manche von ihnen sind in unserer modernen Zeit nicht mehr so wichtig wie vor 500 000 Jahren oder sogar nachteilig. Vielleicht wird die Evolution noch das ein oder andere verändern, an unsere heutigen Lebensgewohnheiten anpassen und damit optimieren. Da »denkt« die Evolution aber in sehr, sehr langen Zeiträumen. Es kommt hinzu, dass die hier angesprochenen Probleme aus Sicht der Evolution keine Priorität genießen. Denn die Fortpflanzungsfähigkeit wird kaum dadurch beeinträchtigt, dass man von unsinnigen Meinungen über sich und die Welt überzeugt ist. Aus Sicht der Evolution ist oft sogar das Gegenteil der Fall. Das werde ich später noch vertieft darlegen.

Einem breiten Publikum sind psychologische Konstruktionsschwächen unserer Wahrnehmung und unseres Urteilsvermögens durch die Bücher des Psychologen Daniel Kahneman bekannt geworden. [4] Daniel Kahneman wurde 1934 in Tel Aviv geboren und lehrte an den Universitäten von Jerusalem, British Columbia, Berkeley und Princeton. 2002 wurde er zusammen mit Vernon L. Smith mit dem Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet. Es spricht einiges dafür, seine Bücher zur Pflichtlektüre in Schulen zu machen. Denn es ist gut zu wissen, womit wir zu rechnen haben, wenn wir unsere Sinneswahrnehmung und unser Urteilsvermögen gebrauchen. Immerhin benutzen wir beides jeden Tag ausgiebig. Es wäre ja auch gut zu wissen, dass die Bremsen des Autos, mit dem wir täglich fahren, bei Nässe sehr schlecht funktionieren und der Tacho die Geschwindigkeit stets zwanzig Prozent unterschätzt. Aber wer liest schon gerne Gebrauchsanweisungen?

Kahneman unterscheidet zwischen einem schnellen und einem langsamen System. Das schnelle System könnte man grob mit unserer spontanen Intuition, das langsame System mit rationalem Denken bezeichnen. Intuition führt zu leichten, subjektiv angenehmen Beurteilungsprozessen (Kahneman spricht von »kognitiver Leichtigkeit«). Das rationale System ist schwerfälliger und wird subjektiv als anstrengender erlebt.

Anders als wir selbst annehmen, basiert die Mehrzahl unserer Urteile auf dem schnellen intuitiven System oder wird durch dieses System zumindest maßgeblich beeinflusst – häufig sogar verzerrt. Der Vorteil des schnellen Systems ist – wie der Name schon sagt – seine Geschwindigkeit. Hier geht es nicht um Details, nicht um Genauigkeit. Im Gegenteil besteht das Prinzip gerade darin, viele Informationen wegzulassen, nicht zu analysieren, dafür aber sehr rasch zu urteilen. Demgegenüber hat das vernunftgeprägte Denken zumindest theoretisch den Vorteil, eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren zu analysieren und so zu genaueren Urteilen zu kommen. Der Preis dafür: Es braucht mehr Zeit und führt oft nicht zu eindeutigen Antworten. Hinzu kommt, dass auch das rationale System alles andere als »objektiv« arbeitet, sondern ebenfalls zu Verzerrungen und Fehlleistungen neigt. Es hat aber wiederum den Vorteil, dass es – zumindest potenziell – eine auf Einsicht basierende, größere Distanz zu subjektiven Verzerrungen entwickeln kann. Erinnern wir uns an das Beispiel der zwei Urzeitmenschen. Schematische, verzerrte und letztlich falsche Beurteilungen können je nach Situation und Ziel ein großer evolutionärer Vorteil sein.

Dass die Meinungen, die sich Menschen bilden, und die Art und Weise, wie sie handeln, primär das Resultat vernünftiger Überlegungen sind, wurde nicht erst durch die Forschungen Kahnemans und vieler seiner Kollegen erschüttert. Schon Arthur Schopenhauer leitete eine Wende gegenüber der in der Philosophie lange Zeit vorherrschenden Meinung ein, der Mensch sei ein vorwiegend durch die Vernunft gesteuertes Wesen. Schopenhauer sah nicht die Vernunft, sondern die Triebe – wir würden heute vielleicht eher von Affekten sprechen – als entscheidende Kraft an, die unsere Gedanken, Sehnsüchte und Handlungen prägt. Später sprach Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, von der archaischen Triebstruktur im Es, die weitgehend unbewusst ist. Das Ich als Vermittler zur Realität – unterstützt durch das Über-Ich (die Gewissensinstanz) – steht hier auf schwachen Füßen und ist nicht Herr im eigenen Haus.

Sowohl Schopenhauer als auch Freud kamen zu ihren Kenntnissen aufgrund genauer Beobachtung von Menschen und deren Verhalten – und das unabhängig von den in jener Zeit vorherrschenden Dogmen und Idealisierungen des Menschen und seiner Natur. Schopenhauer gab seinen Lesern einen praktischen Rat mit auf den Weg: Man solle versuchen, die unvernünftigen Triebe möglichst mit dem Verstand zu kontrollieren. Friedrich Nietzsche kehrte das später um. Er sah in den gängigen Idealen von Enthaltsamkeit, Askese, Liebe und Mitmenschlichkeit verlogenes Pathos, das es über Bord zu werfen gelte. Anstatt auf diese Werte setzte er auf den Willen zur Macht, der auf der egoistischen Selbstbehauptung beruht. Wir werden hierauf noch zu sprechen kommen (Kap. 9.4).

Es ist jedenfalls das große Verdienst der experimentellen Wahrnehmungspsychologie, neben einer allgemeinen Skepsis gegenüber Wahrnehmung und Urteilsvermögen spezifische Konstruktionsschwächen – quasi in ihrer Mechanik – herausgearbeitet zu haben.

Nachfolgend werden einige Beispiele für typische Verzerrungen unserer Wahrnehmung und unserer Beurteilungen dargestellt.

2.1Schläger und Ball

Es handelt sich um ein klassisches, von Kahneman angeführtes Experiment, um die Arbeitsweise des intuitiven Systems zu demonstrieren. Es arbeitet schnell und schaltet sich unwillkürlich im Hintergrund ein. Das Ergebnis wird uns subjektiv auf angenehme Weise dargeboten, es fühlt sich leicht an.

Ein Schläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 Euro. Der Schläger kostet einen Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball?

Viele Menschen, denen man diese Frage stellt, antworten: 10 Cent. Das ist natürlich falsch. Denn wenn der Ball 10 Cent kostet und der Schläger einen Euro mehr, dann kostet der Schläger 1,10 Euro. Beides zusammen würde dann zusammen 1,20 Euro kosten.

Richtig ist: Der Ball kostet 5 Cent. Um das zu erkennen bzw. nachzuvollziehen, braucht es unser analytisches Denken. Sie merken vielleicht, dass man das Ergebnis nicht so bequem bekommt wie die erste Lösung. Analytisches Nachdenken (nach Kahneman System 2) wird subjektiv als mühsamer empfunden. [4, S. 61]

2.2Rückschaufehler

Wir tendieren dazu, Ereignisse als zwangsläufige Folge von Gründen zu interpretieren, die dem Ereignis aber erst im Nachhinein in dieser Weise zugeordnet werden. Das ist vergleichbar mit jemanden, der uns, nachdem die Lottozahlen gezogen wurden, die Gründe dafür erklärt, dass es so und gar nicht anders kommen musste.

Der Rückschaufehler führt zu einem Fehlurteil. Denn die Zwangsläufigkeit, die er suggeriert, ist eine Illusion. Sie zeigt aber, wie gerne wir abschließende Kausalketten mit einem klaren Ergebnis haben. Psychologisch ist das attraktiv. Wir fühlen uns kompetent, Dinge durchschauen und verstehen zu können. Das reduziert Unsicherheit. Wir haben im Gegenteil das Gefühl, in einer berechenbaren Umwelt zu leben, in der man nicht von Ereignissen überrascht wird. Denn wir wissen, was warum geschehen ist.

Das Phänomen lässt sich häufig bei Sportereignissen beobachten. Ein Fußballspiel wurde gewonnen oder verloren. Jemand wurde überraschend Weltmeister oder gerade nicht. Sofort erklären uns Experten, warum es genau so kommen musste, wie es kam. Überlegene sportliche Technik, mentale Stärke, der richtige Trainer, mannschaftliche Geschlossenheit und viele andere Gründe werden in einer differenzierten Analyse angeführt. Nun muss das eine oder andere gar nicht falsch sein. Oft ist aber die suggerierte Zwangsläufigkeit falsch. Denn fast immer handelt es sich im Sport nicht um ein vollständig determiniertes Ereignis. Das heißt, es gibt vor dem Ereignis meist keine 100-prozentige Wahrscheinlichkeit für einen Sieg oder eine Niederlage. Die Siegeswahrscheinlichkeit ist vor dem Ereignis vielleicht 90 Prozent oder 40 Prozent oder nur 0,2 Prozent. Häufig werden Zufälligkeiten oder die Tagesform ausschlaggebend sein oder das Ergebnis entspricht schlicht der statistischen Wahrscheinlichkeit für eine Niederlage oder einen Sieg. Besteht eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, dann sind Sieg bzw. Niederlage bei beiden Mannschaften gleich wahrscheinlich. Bei einem Sieg würden uns im Nachhinein aber klare Gründe für diesen Sieg präsentiert, die sich völlig von denen unterscheiden, die im umgekehrten Fall als Gründe für die Niederlage vertreten würden.

Der Rückschaufehler spielt eine große Rolle bei der Prognose zukünftiger Ereignisse und insbesondere bei der Einschätzung von Risiken. Wird z. B. ein Risiko, das 1 Prozent beträgt, zutreffend als gering bezeichnet, dann bedeutet das, dass sich dieses Risiko in 100 Fällen einmal realisiert und 99 Mal nicht. Kommt es aber dann zu diesem Fall, dann wird dieser nicht zu den 99 Fällen, die gut gegangen sind, in Beziehung gesetzt. In der Logik des Rückschaufehlers heißt es, die Einschätzung war falsch. Denn, wenn das Risiko tatsächlich gering war, dann hätte es ja nicht zu diesem Fall kommen dürfen.

Kahneman demonstriert den Rückschaufehler anhand von Prognoseeinschätzungen bei Ärzten, Finanzberatern, Trainern, Topmanagern, Sozialarbeitern, Diplomaten, Politikern. Demnach neigen wir dazu, »Entscheidungsträger für gute Entscheidungen, die einen negativen Ausgang nehmen, zu tadeln und für erfolgreiche Maßnahmen, die erst im Nachhinein naheliegend erscheinen, nicht genug zu loben.« [4, S. 252] Allgemein sei es so, dass Rückschaufehler zu einer erhöhten Scheu vor Risiken – insbesondere bei Entscheidungsträgern – führten. Allerdings »bringen sie unverantwortlichen Hasardeuren auch unverdiente Belohnungen, wie etwa einem General oder einem Unternehmer, die ein aberwitziges Risiko eingingen, das sich auszahlte. Führungspersonen, die Glück haben, werden nicht dafür bestraft, dass sie zu hohe Risiken eingegangen sind.« [4, S. 253]

Der Rückschaufehler begegnet uns in der Politik, in der Wissenschaft, aber auch in unserem täglichen Leben an vielen Stellen. Die Kontrollfrage, die man sich stets selbst stellen kann, lautet: Wären vor dem Ereignis, ohne Kenntnis des Ausgangs des Ereignisses, die gleichen Argumente in der gleichen Weise angeführt worden?

2.3Halo-Effekt

Der Halo-Effekt ist ein Klassiker der Psychologie. Wenn wir glauben, eine Eigenschaft einer Person oder einer Sache erkannt zu haben, dann besteht die starke Tendenz, dieser Person oder Sache weitere ähnliche Eigenschaften zuzuordnen, ohne dass es hierfür eine Grundlage gibt. Für dieses weitverbreitete Phänomen gibt es zahlreiche Beispiele. Wenn eine Person in einem bestimmten Bereich eine gute Leistung bringt, dann werden ihr auch in anderen Bereichen überdurchschnittliche Kompetenzen zugetraut. Wirkt eine Person sympathisch auf uns, dann vermuten wir eine Fülle weiterer positiver Eigenschaften bei ihr. Von einem Politiker, der unser Vertrauen genießt, nehmen wir an, dass er ein ausgeglichenes Familienleben hat und von bestimmten Sexualpraktiken Abstand hält, die wir selber unangemessen finden. Man ist überrascht, wenn man erfährt, dass ein als seriös geltender Finanzminister sadomasochistische Sexualpraktiken auslebt.

Häufig hat der Halo-Effekt auch eine absichtsvoll finalistische Qualität. Das heißt, ein bestimmtes Ergebnis, eine bestimmte Sichtweise auf eine Person oder auf eine Sache ist uns angenehm. Dann werden wir bereitwillig nach Aufhängern suchen, die uns dieses Bild bestätigen. Man kann das bisweilen im Urlaub beobachten. Die meisten Menschen wollen ein positives Urlaubserlebnis. Sie stellen dann in der Ferne plötzlich eine Fülle von Dingen fest, die besser sind als zu Hause (die Menschen sind viel freundlicher, hilfsbereiter, das Essen schmeckt besser, es herrscht allgemein eine größere Zufriedenheit, der Zusammenhalt zwischen den hiesigen Familien ist besser etc.). Es gibt im Übrigen auch das Gegenteil, das einem subjektiv bestätigt, dass zu Hause alles besser ist. Auch hier wird es – wie bei den vorangegangenen Beispielen – häufig so sein, dass insgesamt eigentlich ein gemischtes Bild vorliegt, das aber einseitig interpretiert wird.

Es sei an dieser Stelle schon festgehalten, dass für uns gemischte Bilder, also Sichtweisen, die Ambivalentes zutage fördern, generell unbequem sind. Der Halo-Effekt ist daher Ausdruck eines Bedürfnisses nach eindimensionaler Klarheit, die keine Verwirrung auslöst. Wir wollen klare, einfache, eindeutige, lineare und einheitliche Verhältnisse haben. Wir bevorzugen klare Polaritäten (schwarz/weiß, Freund/Feind, gut/schlecht). Eigentlich wissen wir, dass es häufig komplizierter ist. Unsere Sehnsucht ist aber auf klare Polarität gerichtet. Diese Sehnsucht wird in Politik, Werbung und der Wirtschaft ausgiebig bedient. Man kann sich hier wiederum vorstellen, dass die Tendenz zu klaren, linear harmonisierten Beurteilungen evolutionär Vorteile hatte. Die Wirklichkeit differenziert erfassen? Nein, denn Geschwindigkeit und Klarheit sind wichtiger als der Inhalt. Das ist der Sinn der Generalisierungstendenz des Halo-Effekts. Homogene Beurteilungen bieten eine bessere Grundlage dafür, rasch und eindeutig zu handeln, als differenzierte Sichtweisen, deren Einzelaspekte nicht alle in der gleichen Richtung angeordnet sind. Wie beim paranoiden Urzeitmenschen begünstigt die Evolution falsche Sichtweisen, wenn dafür ein Gewinn in der Handlungskompetenz erreicht werden kann (rasches und eindeutiges Handeln).

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9783280090916
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