Kitabı oku: «Darwin schlägt Kant», sayfa 5

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2.12Generalisierung: Der unterschätzte Denkfehler

Ähnlich wie Kahneman gelingt es Taleb, uns auf oft witzige und manchmal provokante Weise vielfältige Verzerrungen unserer Wahrnehmung und unseres Denkens vor Augen zu führen. Er ist selbst aber auch ein gutes Beispiel für ein anderes Phänomen, das bei den Verzerrungstendenzen unseres Denkens bislang kaum berücksichtigt wurde. Es handelt sich um die Tendenz zur Generalisierung und Verabsolutierung von Prinzipien (Ordnungen, Regeln, Theorien, Erklärungen u. a.), die wir entdeckt zu haben glauben. Das Phänomen der Generalisierung ist die dritte Stufe im später noch vorgestellten RSG-Modell (Registrieren, Subjektivieren, Generalisieren; vgl. Kap. 5). Aufgrund der vielfältigen kausalen Erklärungen und stimmigen Geschichten, die wir haltlos in bestimmte Ereignisse hineinprojizieren, hegt Taleb ein tiefes Misstrauen gegenüber allen kausalen Annahmen und plausibel wirkenden Erklärungen. Damit überspannt er seinen Ansatz. Der hat zwar in vielen Bereichen seine Berechtigung, wird aber dann zum Problem, wenn er zu stark ausgeweitet und generalisiert wird. So übersieht oder diskreditiert Taleb Kausalitäten auch dort, wo sie ihre Berechtigung haben. Hierzu lassen sich in seinem Buch zahlreiche Beispiele finden. Eines davon betrifft die Ausrottung von Tier-, Pflanzen- und früheren Menschenarten. Taleb verweist auf den Umstand, dass fast alle Arten, die je auf unserem Planeten gelebt haben, irgendwann auch wieder ausgestorben sind. Das ist vielen Menschen nicht bewusst, weil es sich auch bei diesen vielen Arten um stumme Zeugen handelt. Wir übersehen, dass die in der Gegenwart anzutreffende Artenvielfalt nur einen kleinen Bruchteil all jener Arten ausmacht, die im Lauf der Erdgeschichte ausgestorben sind. Das Überleben einer Art ist also fast immer eine höchst temporäre Angelegenheit und das Aussterben der absolute Normalfall. So weit, so gut. Taleb sagt dazu:

»Nahezu 99,5 Prozent der Arten, die die Erde irgendwann einmal bevölkerten, sind heute ausgestorben – eine Zahl, die die Forscher im Laufe der Jahre immer weiter erhöht haben. Das Leben ist viel zerbrechlicher, als wir gedacht haben. Das heißt aber nicht, dass wir uns wegen des Aussterbeprozesses, der um uns herum abläuft, schuldig fühlen müssten. Und auch nicht, dass wir etwas unternehmen sollten, um ihn aufzuhalten. Die Arten sind schon gekommen und wieder verschwunden, bevor wir angefangen haben, die Umwelt zu verschmutzen. Es besteht keine Notwendigkeit, uns für jede bedrohte Art moralisch verantwortlich zu fühlen.« [5, S. 141]

Dieser Einschätzung liegt ein Denkfehler zugrunde. Taleb begeht ihn, weil er durch die Generalisierung seiner Entdeckung der stummen Zeugen und der entsprechenden Skepsis gegenüber Kausalität eine zutreffende Kausalität völlig übersieht. Deswegen ist seine Beurteilung, dass wir uns wegen des Aussterbens vieler Arten nicht zu große Sorgen machen sollten, schlicht falsch. Denn bei dieser Frage ist der entscheidende Punkt in der Tat die Kausalität, also die Frage, wer für das Aussterben einer Art verantwortlich ist. Das allgemeine, abstrakte Argument vom Aussterben der meisten Arten kann nur auf diejenigen relativierend zutreffen, für die der Mensch nicht verantwortlich ist. Die abstrakte und von uns häufig unterschätzte Dimension des Aussterbens relativiert aber selbstverständlich in keiner Weise die Verantwortung, die wir für die von uns verursachte Ausrottung der Arten tragen.

Man kann das durch zwei kleine Beispiele verdeutlichen. Nehmen wir an, wir verweisen darauf, dass das menschliche Leben – zumindest bislang – immer begrenzt ist und alle Menschen irgendwann sterben. Analog zur Argumentation von Taleb könnte man nun sagen, dass es unter diesem Aspekt völlig übertrieben sei, sich wegen der Ermordung einzelner Menschen Sorgen zu machen. Irgendwann müsse doch sowieso jeder Mensch sterben. Einen Mörder speziell zu bestrafen und überhaupt so ein Riesentheater um einen einzelnen Todesfall zu machen, sei vor diesem Hintergrund völlig unangemessen. Auch können die nationalsozialistischen Verbrechen bei der Ermordung jüdischer Menschen in keiner Weise dadurch relativiert werden, dass in der Menschheitsgeschichte unendlich viel mehr Menschen an schrecklichen Krankheiten verstorben sind.

Es gibt zwar gute Gründe, vielen Kausalitäten, Erklärungen und scheinbar stimmigen Geschichten zu misstrauen. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch viele sinnvolle Kausalitäten, fundierte stimmige Geschichten und tragfähige Erklärungen gibt. So ist die Kausalität bei der Beurteilung der Vernichtung von Tier- und Pflanzenarten ein zentraler Punkt. Denn ob diese Tier- und Pflanzenarten durch den Einschlag eines Meteoriten oder durch menschliches Handeln zu Tode kommen, macht im Hinblick auf Schuld und Verantwortung einen entscheidenden Unterschied. Das, was der Mensch verursacht, liegt in seinem konkreten Verantwortungsbereich. Dieser Verantwortung hat er sich zu stellen und ihr gerecht zu werden – abseits abstrakter theoretischer Überlegungen.

Das Gleiche gilt übrigens auch für den Klimawandel. Denn bei diesem Thema argumentieren populistische Kritiker genauso, wie Taleb es tut. Weil es in der Erdgeschichte schon immer gewaltige Schwankungen des Klimas gegeben habe, sei das Geschrei um den Klimawandel ebenso verfehlt wie das Ergreifen bestimmter Maßnahmen. Das Beispiel zeigt uns aber zweierlei. Die Tendenz zur Generalisierung und Verabsolutierung ist ein bislang wenig beachteter Verzerrungsmechanismus unseres Denkens. Zu Unrecht. Denn er kann zu absurden Beurteilungen und Handlungen führen. Das Beispiel gibt uns auch einen ersten Hinweis darauf, dass auch der naturwissenschaftliche Ansatz keineswegs dagegen gefeit ist, den allgemeinen menschlichen Verzerrungsmechanismen und Beurteilungsfehlern zu unterliegen. Dessen sind sich viele Vertreter des empirischen naturwissenschaftlichen Ansatzes nicht bewusst. Beide Themen werden uns noch an verschiedenen Stellen dieses Buches wiederbegegnen.

2.13Vermeidung kognitiver Dissonanz

Die Vermeidung kognitiver Dissonanz ist ein lange bekanntes Phänomen. Unsere Meinungen, unsere Überzeugungen und unsere gefühlten Wahrheiten formen einen subjektiven Wahrnehmungsfilter. Dieser Filter hat großen Einfluss darauf, welche Informationen wir aufnehmen und wie wir mit diesen Informationen umgehen. Es besteht eine starke Tendenz, Informationen, die den eigenen Meinungen, Überzeugungen und gefühlten Wahrheiten widersprechen, entweder gar nicht zur Kenntnis zu nehmen oder sie so umzuformen, dass kein Widerspruch zur subjektiven Wirklichkeit entsteht. Praktisch werden dadurch Informationen, die eine schon bestehende Meinung bestätigen, gerne und bevorzugt registriert. Widersprechende Informationen mag man nicht. Sie werden bewusst übergangen, oder sie werden weggefiltert, bevor sie das Bewusstsein erreichen können. Dieser Selektionsprozess stärkt und zementiert eigene Meinungen, auch wenn sie falsch sind.

Man hört gerne den Rednern zu, die die eigene Meinung bestärken, dasselbe gilt für Filme oder etwa Presseberichte. Ebenso fühlen wir uns in den Umgebungen wohl, in denen Meinungen und Überzeugungen vorherrschen, die den eigenen entsprechen. Andere Meinungen und widersprüchliche Informationen werden von vornherein weniger wahrgenommen, aber auch bewusst umgangen, weil man sie gar nicht hören oder sehen will. Insbesondere bei politischen, weltanschaulichen oder religiösen Themen werden andere Meinungen häufig so verformt und umgedeutet, dass die eigenen Überzeugungen von Anfang an dagegen immunisiert werden. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass man den Vertretern anderer Meinungen einen falschen Glauben, eine völlig absurde politische Überzeugung oder unehrenhafte Motive unterstellt. Damit wird den Argumenten dieser Personen von vornherein jegliche Berechtigung abgesprochen. Eine Auseinandersetzung mit deren Argumenten erübrigt sich damit.

2.14Hereinspaziert: A little something for everybody

Wir konstruieren gerne subjektiv stimmige und runde Geschichten. Dazu biegen wir Informationen so zurecht, dass sie zu einer solchen stimmigen Geschichte werden, einer Geschichte, die uns sympathisch ist oder die perfekt zu unseren Vorannahmen passt. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt, wenn man offene Aussagen präsentiert bekommt, die viel Interpretationsspielraum lassen. Hierzu gibt es zahlreiche psychologische Untersuchungen. Phineas Taylor Barnum war Zirkusdirektor und Politiker. 1842 eröffnete er in New York das »American Museum«, ein zu seiner Zeit sehr bekanntes Kuriositätenkabinett. Barnum war geschäftstüchtig und verstand es, seine Sensationen in der Öffentlichkeit anzupreisen. Er präsentierte alles, was irgendwie interessant erschien (»a little something for everybody«) und publikumswirksam inszeniert werden konnte. Dem Prinzip, wonach für jeden etwas dabei sein sollte, folgten auch die verschiedenen Wahrsager und Horoskope, die Barnum seinen Besuchern anbot. Neben seiner Tätigkeit als Politiker zog er mit Wanderzirkussen durchs Land, nachdem das Museumsgebäude 1865 und 1868 zweimal abgebrannt war.

Das eingangs beschriebene Phänomen wird gemäß dem Motto »a little something for everybody« als Barnum-Effekt oder alternativ auch als Forer-Effekt bezeichnet, weil der amerikanische Psychologe Bertram R. Forer hierzu ein berühmtes Experiment durchführte. Forer hatte seinen Studenten 1948 die vermeintliche Auswertung eines Persönlichkeitstests ausgehändigt, den sie zuvor ausgefüllt hatten. Die Studenten wurden dann gefragt, wie zutreffend sie die Beschreibung ihrer Persönlichkeit in der jeweiligen Auswertung empfanden. Die Studenten fühlten sich durch die Ergebnisse des Tests sehr gut in ihrer Persönlichkeit getroffen. Dementsprechend waren sie auch stark überzeugt davon, dass der Test, den sie ausgefüllt hatten, hervorragend geeignet sei, die Persönlichkeit von Menschen zu erfassen. Was sie nicht wussten: Alle hatten dieselbe Auswertung erhalten. Zudem hatte der Auswertungstext nichts mit den Fragen zu tun, die die Testpersonen zuvor beantwortet hatten. Der Text war eine willkürliche Zusammenstellung von Aussagen aus einem Horoskop, das Forer sich zuvor an einem Kiosk besorgt hatte. [6; 7]

Was stand denn nun im Auswertungstext? Wikipedia hat es so übersetzt: »Sie sind auf die Zuneigung und Bewunderung anderer angewiesen, neigen aber dennoch zu Selbstkritik. Ihre Persönlichkeit weist einige Schwächen auf, die Sie aber im Allgemeinen ausgleichen können. Beträchtliche Fähigkeiten lassen Sie brachliegen, statt sie zu Ihrem Vorteil zu nutzen. Äußerlich diszipliniert und selbstbeherrscht, neigen Sie dazu, sich innerlich ängstlich und unsicher zu fühlen. Mitunter zweifeln Sie stark an der Richtigkeit Ihres Tuns und Ihrer Entscheidungen. Sie bevorzugen ein gewisses Maß an Abwechslung und Veränderung und sind unzufrieden, wenn Sie von Verboten und Beschränkungen eingeengt werden. Sie sind stolz auf Ihr unabhängiges Denken und nehmen anderer Leute Aussagen nicht unbewiesen hin. Doch finden Sie es unklug, sich anderen allzu bereitwillig zu öffnen. Manchmal verhalten Sie sich extrovertiert, leutselig und aufgeschlossen, dann aber auch wieder introvertiert, skeptisch und zurückhaltend. Manche Ihrer Erwartungen sind ziemlich unrealistisch.« [8]

Es gibt weitere ähnliche Experimente, die zu den gleichen Ergebnissen führten. Mehrheitlich waren die Versuchspersonen von den Horoskopen, die mit ihnen gar nichts zu tun hatten, begeistert und staunten, wie gut ihre Persönlichkeit erfasst worden war.

Neulich gab eine Beraterin auf einem esoterischen Fernsehkanal einer Anruferin folgende Weisheit mit auf den Weg: »Du erreichst dein Ziel auf jeden Fall, denn der Weg ist das Ziel.« Auch wenn der Satz ein logisches Paradoxon ist, klingt er ermutigend. Die Anruferin freute sich jedenfalls über die aufbauenden Worte. Wir hören eben gerne das, was wir hören wollen.

2.15Radikaler Konstruktivismus und Grenzen der Kommunikation

Den Radikalen Konstruktivismus könnte man auch gut im Kapitel über die generellen erkenntnistheoretischen Limitationen einordnen. Ich stelle ihn aber unter den psychologischen Mechanismen dar, weil er einen wichtigen Aspekt der Kommunikation aufgreift, über den wir uns häufig nicht ausreichend im Klaren sind. So überschätzen wir systematisch das Ausmaß eines gemeinsamen Verständnisses von Inhalten, die kommuniziert werden. Diese Überschätzung erfolgt aufgrund psychologischer und sozialer Gepflogenheiten, die etwas anderes nahelegen.

Im Radikalen Konstruktivismus wird der Begriff der Wirklichkeit anders gebraucht als im vorliegenden Buch. Für ihn ist Wirklichkeit immer ein subjektives Konzept. Jeder Mensch habe seine eigene Wirklichkeit, die Ergebnis der individuellen Erfahrungen und Prägungen dieses Menschen sei. Jeder Mensch lebe damit in einer eigenen Wirklichkeitsblase. Das Erkennen einer irgendwie außerhalb dieser subjektiven Wirklichkeit liegenden Wahrheit sei demnach unmöglich.

Prägenden Einfluss auf den Radikalen Konstruktivismus hatte Jean Piaget. Piaget ist allgemein durch sein Modell kindlicher Entwicklungsstufen bekannt. Ein wichtiges Element in seinen Arbeiten sind die Begriffe Konstrukt und Schema, die er in einem klassisch konstruktivistischen Sinn gebraucht. So sind Schemata internalisierte Denkmuster, die das Kind durch die Interaktion mit der Umwelt anhand eigener Erfahrungen aufbaut. Das Kind lernt und konstruiert demnach seine eigene subjektive Wirklichkeit durch Assimilation und Akkommodation. Assimilation bedeutet, dass das Kind ein Phänomen wahrnimmt und es dann mit den in seinem Gedächtnis gespeicherten Inhalten vergleicht. Wird bei diesem Abgleich etwas gefunden, das dem Phänomen ähnlich ist, dann wird angenommen, dass es sich um ein identisches Phänomen handelt. Findet sich beim Abgleich nichts Ähnliches, dann wird ein neuer Begriff gebildet. Häufig hat dieser Begriff dann etwas mit einem Detail zu tun, das bereits in der Ausgangssituation vorhanden war, aber zunächst übersehen wurde. Die Bildung eines neuen Begriffs führt zur Veränderung oder Erweiterung der Schemata (Akkommodation).

Ernst von Glasersfeld, dessen Werk durch Piaget beeinflusst ist, sieht in den Mechanismen der Assimilation und der Akkommodation universelle Elemente. Sie sind nicht nur in der Entwicklung des Menschen von Bedeutung, sondern generell für die Wirklichkeitskonstruktion des Menschen gültig.

Gegenüber dem Begriff der Wirklichkeit, der in der Sicht der Radikalen Konstruktivisten subjektiver Natur ist, wird der Begriff der Realität abgegrenzt. Dabei wird Realität aber nicht als eine abseits der Wirklichkeit existierende objektive Wahrheit verstanden. Realität ist vielmehr eine Quelle von Störungen, die bei der Assimilation und Akkommodation zu Widersprüchen führt. Ein solcher Widerspruch kann zum Beispiel sein, dass man bemerkt, dass etwas, das man als identisch angesehen hat, doch von der eigenen Kategorie verschieden ist. Solche Störungen kommen zum Beispiel regelmäßig in Kommunikationen vor. Ohnehin ist Kommunikation keine Möglichkeit, Informationen, das heißt eigene Wirklichkeiten, an eine andere Person zu übermitteln. Denn gemäß dem Radikalen Konstruktivismus ist es unmöglich, eine andere als die eigene Wirklichkeit tatsächlich nachzuvollziehen. Möglich ist lediglich, dass durch die Konfrontation mit den Informationen über eine andere subjektive Wirklichkeit, also durch Kommunikation, ein eigener Prozess angestoßen wird, der in der inneren subjektiven Wirklichkeit dann etwas Ähnliches produziert. Man kann diesen Vorgang mit Übersetzungen vergleichen. Auch sehr gute Übersetzungen können nie das Gleiche wie der Ursprung sein. Sie sind immer etwas anderes und im besten Falle dem Ursprung sehr ähnlich. Denn jede Sprache konstruiert wieder eine subjektive Wirklichkeit, der man sich in einer anderen Sprache bestenfalls annähern kann. [9; 10]

2.16Kommunikation wird überschätzt

Sie wissen bereits, dass ich die radikale Position nicht teile, wonach wir keinerlei Aussage zu der Existenz oder Qualität einer außerhalb unserer subjektiven Wirklichkeit liegenden objektiven Wirklichkeit machen können. Gleichwohl berührt der Konstruktivismus einen sehr wesentlichen Punkt, der einen engen Bezug zum Thema dieses Buches hat. Wir überschätzen die Passgenauigkeit der durch Kommunikation vermittelten Inhalte enorm. Denn es ist in der Tat eine Quadratur des Kreises, durch Kommunikation in der subjektiven Repräsentanz der jeweils Beteiligten annähernd gleiche Inhalte vermitteln zu können. Wir geben uns schnell mit dem oberflächlichen Gefühl zufrieden, dass man sich verstanden hat. Das ist aber oft eine Illusion. So ist es auch kein Zufall, dass nicht selten das Ausmaß an Differenzen und das Gefühl, sich nicht zu verstehen, in dem Maße wächst, in dem Menschen einander besser kennenlernen. Denn bei genauem Hinsehen fallen einem viele feine Abweichungen dort auf, wo man bei grober Betrachtung Gemeinsamkeit und ein gemeinsames Verständnis verbucht hat.

In vielen Bereichen der Gesellschaft müssen Experten durch Personen kontrolliert werden, die selbst keine Experten im jeweiligen Fachgebiet sind. Krankenkassen sollen den Sinn und die Verhältnismäßigkeit ärztlicher Behandlungen beurteilen, Politiker, ob Atomkraftwerke sicher sind, die Finanzaufsicht soll Banken kontrollieren und Medikamenten-Zulassungsbehörden sollen einschätzen, ob Studien zu einem Medikament aussagekräftig sind oder nicht. Es gibt zahllose weitere Beispiele. Angesichts der Spezialisierung und Überspezialisierung unserer Zeit und der damit verbundenen Risiken gewinnt die Kontrolle dieser Prozesse und Risiken immer weiter an Bedeutung.

Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang sind Sozialarbeiter und Juristen, die Berichte über den Verlauf von Therapien von Straftätern beurteilen sollen. Juristen und Sozialarbeiter sind für den Straftäter nach seiner Entlassung verantwortlich. Sie müssen sich daher ein Bild davon verschaffen, welches Risiko beim Straftäter vorliegt und ob etwa eine durchgeführte Therapie sachgerecht und erfolgreich verläuft. Für diese Beurteilung sind sie auf Berichte von Therapeuten angewiesen. Damit stehen sie vor dem typischen Kontrollproblem, Experteninformationen beurteilen zu müssen. Können sie die relevanten Informationen aus dem Bericht herauslesen? Können sie erkennen, wenn in der Therapie ein Problem vorliegt, das durch den Therapeuten nicht erkannt oder verschleiert wird?

Unsere Forschungsgruppe hat einmal in einer Studie überprüft, welche Informationen die Kontrolleure aus diesen für sie fachfremden Berichten aufnehmen. Wir legten verschiedenen Juristen und Sozialarbeitern dieselben Therapieberichte zur Prüfung vor. Das Ergebnis war ernüchternd. Selbst bei scheinbar eindeutigen Aussagen kam es zu höchst unterschiedlichen Interpretationen des gelesenen Inhalts. Das betraf nicht nur komplizierte Dinge, sondern auch scheinbar einfache Fragen wie etwa: Enthält der Bericht die Information, wann die Therapie begonnen wurde? Die eine Hälfte der Leser sagte ja, die andere Hälfte nein – wohlgemerkt beim selben Bericht.

Wir stellten fest, dass es für fachfremde – das heißt mit der spezialisierten Expertensprache nicht vertraute – Fachpersonen (es waren ja keine Laien) schlicht unmöglich war, zu erkennen, ob eine Information über den Therapiebeginn vorhanden war oder nicht. Denn es stellte sich die Frage, wie genau der Therapiebeginn zu definieren ist. Ist der Therapiebeginn die erste Therapiestunde? Ist der Therapiebeginn eine vorausgehende Abklärung der Therapiefähigkeit? Ist der Therapiebeginn der Zeitpunkt, an dem eine juristische Verfügung über die Anordnung der Therapie ausgestellt ist? Ist der Therapiebeginn der Zeitpunkt, an dem diese Verfügung rechtskräftig ist? Ist der Therapiebeginn die fünfte Stunde, weil erst danach definitiv entschieden wird, ob die Therapie bei einem bestimmten Therapeuten wirklich Sinn macht?

Selbst diese überaus banale Information generiert eine Fülle von Unklarheiten und Missverständnissen, wenn man mit dem Alltag der Therapiedurchführungen nicht vertraut ist. Und da reden wir noch nicht über komplizierte Inhalte wie die Diagnose, die Änderung einer Diagnose, die Bestimmung des Risikos des Täters oder fachliche Beschreibungen des Therapieverlaufs. Wenn nicht einmal eine so einfache Frage wie die zum Therapiebeginn zuverlässig beantwortet werden konnte, wie soll es da gelingen, die wirklich wichtigen Inhalte an die verantwortlichen Fachpersonen zu vermitteln?

Es gibt Strategien, mit dieser Grundproblematik umzugehen, die im Kern bei jeder Kommunikation besteht. Sie sind aber alles andere als ein Selbstläufer. Generell darf man zufrieden sein, wenn es zu Annäherungen im Sinne von Ähnlichkeiten anstelle von den Sinn verzerrenden Diskrepanzen kommt.

Bei den von uns untersuchten Sozialarbeitern und Juristen handelte es sich um besonders qualifizierte Fachpersonen, die darüber hinaus sehr viel Wissen rund um das Thema »Therapie von Straftätern« hatten. Dennoch kam es zu diesen Problemen. Das zeigt, wie groß der Spielraum zu subjektiv geprägten eigenen Wirklichkeiten ist, wenn man verschiedenen Personen genau dieselbe Information vorlegt.

Generell würde man staunen, wie viele Abweichungen sich ergeben, wenn man wie in dem konkreten Beispiel überprüfen würde, was genau bei den Rezipienten einer Information konkret ankommt. Wenn man also die Personen, die eine Dokumentation anschauen, einem Vortrag zuhören oder an einer Besprechung teilnehmen, nachher standardisiert und konkret nach den Inhalten befragt, würden eklatante Abweichungen und viele eigene Wirklichkeitskonstruktionen zum Vorschein kommen. Dies, obwohl man in der Regel nach einer Besprechung von einem gemeinsamen Verständnis aller Teilnehmenden ausgeht. Das Ausmaß dessen, was in solchen Informationen vermittelt und einem einheitlichen Verständnis zugeführt werden kann, ist aber ausgesprochen begrenzt.

Deswegen ist es überaus berechtigt, auf die Macht der subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen hinzuweisen. Sie erzeugen zwischen unterschiedlichen Personen bestenfalls Ähnlichkeiten, nie aber das wirklich gleiche Verständnis. Ich bin aber optimistischer als die Radikalen Konstruktivisten. Denn in einer Kommunikation kann die Ähnlichkeit so weit kultiviert werden, dass sie in vielen praktischen Fragen ein ausreichend gemeinsames Verständnis hervorbringt. Würde ich daran nicht glauben, würde ich dieses Buch nicht schreiben, und dann hätten vermutlich auch die Radikalen Konstruktivisten keine Bücher geschrieben. Aber man soll keinesfalls die Hindernisse unterschätzen, die einem gemeinsamen Verständnis durch subjektive Wirklichkeitskonstruktionen entgegenstehen. Wenn ein gemeinsames Verständnis eines Inhalts wichtig ist, sollte man kontrollieren bzw. nachfragen und nicht dem oberflächlichen Gefühl trauen, dass alle das Gleiche verstanden haben. Ähnlich wie bei den typischen psychologischen Verzerrungen bin ich aber auch hier davon überzeugt, dass die Kenntnis dieses Phänomens hilft, den tatsächlichen Grad an gemeinsamem Verständnis verbessern zu können.

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