Kitabı oku: «Darwin schlägt Kant», sayfa 7

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4Vernunft und Evolution

Bereits am Anfang dieses Buches wurden die zentralen evolutionären Prägungen skizziert. Ich habe auf den Irrtum hingewiesen, dass der Zweck der Vernunft darin bestehe, die Wirklichkeit zutreffend zu erkennen. Wir haben in den Beispielen typischer psychologischer Verzerrungen eine Reihe konkreter Schwachstellen und Fehlerquellen der menschlichen Vernunft kennengelernt. Verschiedentlich erfolgte der Hinweis auf den evolutionären Sinn dieser Mechanismen (z. B. Halo-Effekt, Kap. 2.3). Aus einer aufklärerischen vernunftorientierten und humanistischen Perspektive sind diese Mechanismen ein Ärgernis und von hoher praktischer Relevanz. Um dieses Ärgernis noch besser zu verstehen, lohnt es sich, nun noch einmal genauer nach seinen Entstehungsbedingungen und seinem Sinn zu fragen. Denn es steht die Frage im Raum: Warum sind wir so und nicht anders konstruiert?

4.1Instinktverhalten: Stereotyp, aber oft effektiv

Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Ausgangspunkt unserer Entwicklung. Ein Großteil der im Tierreich vorgenommenen Bewertungen und darauf gründenden Handlungen hat mit Instinktverhalten zu tun. Instinktverhalten bedeutet: Durch einen Schlüsselreiz wird ein weitgehend automatisiertes Verhalten ausgelöst. Schildkröten, die aus dem Ei schlüpfen, laufen umgehend in Richtung Meer. Katzen jagen einer Maus hinterher, wenn sie eine solche sehen. Einem Hund kann man bestimmte Verhaltensweisen durch Belohnung und Bestrafung antrainieren. Auch das vorwiegend durch Instinkte geprägte Verhalten von Tieren lässt eine gewisse Variabilität zu. So spielen zum Beispiel aktuelle Bedürfnisse, Hunger, Durst, die Nähe zu Artverwandten, bestimmte Stimmungen oder viele andere Aspekte eine Rolle dafür, wie ein konkretes Verhalten aussieht. Auch ist nicht jedes Tier gleich, sondern sein Verhalten unterscheidet sich im Vergleich zu Artgenossen aufgrund individueller Charaktereigenschaften. Jeder, der schon einmal mit Hunden oder Pferden zu tun hatte, weiß um diese Individualität eines spezifischen Charakters. Generell lässt sich aber sagen, dass ein wesentlicher Teil des Verhaltens von Tieren den stereotypen Mustern des Instinktverhaltens folgt.

Wenn wir uns im Wald einem Reh nähern, dann wird es in aller Regel davonlaufen. Das Verhalten entspricht einem Instinkt und wird stereotyp ausgelöst. Es müsste ein großer Aufwand betrieben werden, um dieses Instinktverhalten bei bestimmten Individuen – zum Beispiel durch gezieltes Verhaltenstraining – zu überlernen.

Die Ausgangslage ist: Mensch in Sicht, in Hör- oder Riechweite, das heißt: weglaufen. Das Reh prüft nicht, mit welcher Motivation sich der Mensch nähert oder ob er vielleicht sogar etwas Nützliches bewirken kann. Eine differenzierte Erfassung der Situation des sich nähernden Menschen entfällt. Vielleicht verpasst das Reh mit diesem stereotypen Verhalten manchmal auch eine Chance. Vielleicht war es ein Mensch, der Rehe mag, der wiedergekommen wäre und Futter gebracht hätte.

Dieses konstruierte Beispiel zeigt ein wichtiges Grundprinzip instinktorientierten, stereotypen Verhaltens. Ein Verhalten wird schnell – ohne zu überlegen – und mit einer klaren Richtung (weglaufen) ausgelöst. Das ist der Vorteil. Die Nachteile liegen in der Generalisierung und dem Automatismus. Könnten Situationen differenzierter bewertet werden, dann könnte dies Grundlage für eine Differenzierung im Handeln sein. Manchmal wäre vielleicht genau das gegenteilige Verhalten nützlich, weil mit der Begegnung eine Chance verbunden ist. Oft könnte aber auch einfach nur Energie gespart werden, weil die Situation eigentlich völlig ungefährlich ist.

Es ist klar, warum sich die Evolution hier nicht auf Experimente einlässt, sondern stereotype und automatisierte Beurteilungen und Handlungen bevorzugt. Der Preis für eine Fehlbeurteilung wäre zu hoch. Zudem können stereotype und automatisierte Handlungen gewisse Effizienzvorteile haben. Es wird keine Energie in aufwendige Analysen investiert, für die das Gehirn hart arbeiten müsste: ein entscheidender Punkt, wenn zum Beispiel Wasser oder Nahrung begrenzt sind. Die Begrenztheit von Ressourcen ist ohnehin ein wichtiger Grund für Generalisierung und Automatisierung. Dort, wo Nahrung knapp ist, ist es sinnvoll, sofort loszulaufen und jede Beute zu nehmen, die man kriegen kann – oder ohne Verzögerung wegzulaufen, wenn man selbst eine Beute sein könnte. So ist es auch bei unserem Urzeitmenschen, der in paranoider Stereotypie hinter jedem Rascheln einen Löwen vermutet. Er liegt sehr oft falsch. Aber er hat aus evolutionärer Sicht deutliche Überlebensvorteile.

Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass Entscheidungs- und Verhaltensstereotypien aus evolutionärer Sicht ein unglaubliches Erfolgsmodell sind. Das gilt in besonderer Weise, wenn sie in Zusammenhang mit körperlichen Anpassungen stehen, die sich durch die Evolution entwickelt haben. Häufig sind sie von großer Effizienz und stellen eine perfekte Adaption an die vorherrschenden Lebensbedingungen dar. Die in der trockenen Namibwüste lebenden Schwimmfußgeckos laufen Sanddünen hinauf, damit dort an ihrem Körper Tautropfen des Küstennebels anhaften, die sie dann zur Wasseraufnahme z. B. von den Augen ablecken. Unzählige beeindruckende Beispiele perfekter Anpassung könnten hier aufgezählt werden.

Der Nachteil stereotyper Muster zeigt sich aber nicht zuletzt im Aussterben vieler Tierarten, die sich nicht schnell genug an veränderte Lebensbedingungen anpassen konnten. Zugegeben fehlt einem angesichts komplett zerstörter Lebensräume bisweilen die Fantasie, wie eine Anpassung heute überhaupt noch aussehen könnte. Aber diese Seite der Evolution macht klar, dass manchmal eine Differenzierung der Entscheidung und des Verhaltens sehr vorteilhaft sein könnte. Schafe sind für Wölfe eine attraktive Beute. Ihr Instinkt leitet die Wölfe, wenn sie ein Schaf aus einer Schafherde reißen. Genau dieses Verhalten bedroht aber das Überleben des Wolfes selber, wenn er wegen dieses – für ihn völlig natürlichen – Verhaltens gejagt wird.

Die Evolution hat dem Umstand durchaus Rechnung getragen, dass rasche Variation und Differenzierung der Entscheidungs- und Verhaltensmuster Vorteile haben kann. So nimmt der stereotype Teil von Instinkthandlungen bei höher entwickelten Tierarten (z. B. Affen) tendenziell gegenüber einem Zuwachs an Variationsmöglichkeiten und Individualität ab. Der menschliche Verstand stellt in dieser Entwicklung zweifellos einen Quantensprung dar. Falsch ist aber die Annahme, dass der Mensch das einzige Lebewesen sei, das denken könne und ein Bewusstsein seiner selbst habe. Diese lange Zeit vorherrschende Einschätzung ist Ausdruck einer Selbstüberschätzung des Homo sapiens, die in den letzten Jahren immer weiter entkräftet wurde. Denn viele Tiere sind zu erstaunlichen Intelligenzleistungen in der Lage. Das Spektrum reicht von Primaten bis hin zu Rabenvögeln und Papageien. Sie lösen eigenständig Probleme, können planen, können soziale Beziehungen einschätzen und erinnern, haben ein Bewusstsein, verwenden Werkzeuge, die sie teilweise sogar über Generationen weiterentwickeln (z. B. neukaledonische Krähe), und haben viele andere Fähigkeiten, die man lange nur dem Menschen zuordnete. Intelligenz ist also keineswegs eine Erfindung der Evolution, die erst mit der Menschheitsentwicklung begann. Die Evolution hat bei sehr vielen Lebensformen ein Mischungsverhältnis zwischen stereotypen Instinkthandlungen und eigenständigem, flexiblem Denken entwickelt. Beim Menschen hat die Evolution zwar den Verstand stark ausgebaut. Aber auch bei ihm bleibt es eine Mischung aus beiden Elementen.

4.2Investition in Vernunft: Ein evolutionäres Projekt mit Chancen und Risiken

Dass die Evolution in einen leistungsfähigeren Verstand und in ein ausgeprägtes Bewusstsein investiert hat, war ein gewagtes Unterfangen mit Risiken. Denn einerseits steigt der Energiebedarf und andererseits erhöhen sich die Fehlermöglichkeiten. Durch die Möglichkeit zur Variation und zur Abweichung von stereotypen Beurteilungen und Handlungsmustern wurden zwar neue Entwicklungsmöglichkeiten geschaffen. Gleichzeitig entstanden aber auch viele neue Möglichkeiten für fatale Fehlbeurteilungen und falsche Handlungen. Das haben wir bei unseren beiden Urmenschen gesehen. Es kommt hinzu, dass ein ausgeprägtes Bewusstsein und ein differenzierteres Gefühlsspektrum Quelle vieler weiterer evolutionärer Nachteile sein können. Was, wenn der Mensch mit seinem Bewusstsein die Gefahr des Todes stärker empfindet und deswegen zu übertriebener Passivität neigt? Was, wenn der ausgestaltete Verstand zu mehr offenen Fragen, Verunsicherung, Einsamkeit und Orientierungslosigkeit führt?

Jedenfalls gilt, dass die Investitionen in Vernunft und eine stärkere Variabilität von Urteilen und Handlungen nicht nur mit Chancen – z. B. für Anpassungsfähigkeit, Kooperation, Entwicklung von Werkzeugen etc. – verbunden sind. Sie gehen auch mit Risiken evolutionärer Nachteile einher. Die sind deswegen kritisch, weil der Mensch besonders darauf angewiesen ist, seinen durch das Gehirn gesteigerten Energiebedarf dauerhaft decken zu können. Nun, wir wissen, dass die Geschichte vorderhand gut ausgegangen ist. Bislang ist der Mensch evolutionär sehr erfolgreich. Er hat sich eine Position erarbeitet, durch die er keine natürlichen Feinde in Gestalt anderer Reproduktions- oder Nahrungskonkurrenten mehr hat. Oder sagen wir es anders. Er hat die Mittel, all diese natürlichen Konkurrenten zu vernichten. Es ist übrigens bei dieser Ausgangslage auch klar, dass der einzige existenzgefährdende Konkurrent des Menschen ein anderer Mensch ist. Wir werden auf diesen Punkt später zurückkommen.

An dieser Stelle geht es vor allem darum zu zeigen, dass die Evolution am Anfang der beschriebenen Entwicklung gut beraten war, ihr seit Jahrmillionen verwendetes Erfolgsprinzip nicht gänzlich über Bord zu werfen. Im Gegenteil wurde viel von dem bewährten Prinzip in die neue Konstruktion eingebaut. Wahrnehmungen und Beurteilungen sind kein Selbstzweck. Sie sind die Grundlage für darauf aufbauende Handlungen. Das ist ihre Funktion und deswegen lautet das zentrale Prinzip: besser falsch, dafür aber schnell und/oder eindeutig.

Absoluten Vorrang hat die Verhinderung fataler Konsequenzen (Tod) und damit Sensitivität vor Spezifität. Sensitivität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass möglichst alle lebensbedrohlichen Situationen erkannt werden, auch wenn das bedeutet, dass viele Situationen fälschlicherweise als lebensbedrohlich eingeschätzt werden (Verlust von Spezifität). Deswegen sind die Geschwindigkeit der Beurteilung und ihre Eindeutigkeit als Grundlage für eine Handlung entscheidend. Die Weiterentwicklung des Verstandes steht im Dienst dieser klassischen evolutionären Ausrichtung. Keine Rede also davon, dass die Vernunft dazu da ist, die Phänomene der Welt möglichst genau und richtig zu erkennen, sie durchschauen und erklären zu können. Vielmehr gilt das erwähnte zentrale Prinzip, dass sich in der Evolution seit Jahrmillionen bewährt hat: besser falsch, dafür aber schnell und/oder eindeutig. Um schnell und/oder eindeutig zu entscheiden und zu handeln, sind die Reduktion von Komplexität, Generalisierung und Automatisierung sehr nützliche Mechanismen. Wir haben genau diese Elemente in Form psychologischer Urteilsfehler kennengelernt.

So wird uns der Mechanismus der Automatisierung zum Beispiel beim Priming deutlich vor Augen geführt. Beim Priming speist unser intuitives System zuvor unbewusst aufgenommene Informationen – ungefragt – in unsere bewussten Beurteilungsprozesse ein oder lässt sie direkt ohne Umwege ins Verhalten einfließen.

Aus Sicht der Evolution kann man sich einen Reim darauf machen, warum diese Automatisierung einmal sinnvoll gewesen sein könnte. Beim Priming wird eine Information aus der Außenwelt (z. B. in den vorangehend dargestellten Experimenten irgendeine Zahl, das Thema »Geld«, das Thema »Altwerden«) in einen zeitlich darauffolgenden Entscheidungsprozess eingebunden. Ähnlich wie beim Halo-Effekt findet auch hier ein Prozess der Angleichung statt. Unser Wahrnehmungssystem geht davon aus, dass zeitlich eng aufeinanderfolgende Dinge etwas miteinander zu tun haben, statt völlig unabhängig voneinander zu sein. In der Tat dürfte es bei einem eher homogenen Lebensraum, zum Beispiel beim Leben in der Savanne oder in einem Wald, eher so sein, dass Dinge, die in naher zeitlicher Abfolge stattfinden, etwas miteinander zu tun haben bzw. in die gleiche Richtung weisen. Dass nicht alle Details im Bewusstsein registriert und aufgenommen werden, ist eine Frage der Ökonomie. Die meisten Wahrnehmungen werden ständig weggefiltert, um die Möglichkeiten unserer Informationsverarbeitung nicht zu überfordern.

Nun dürfte es aus Sicht der Evolution eine Frage gewesen sein, ob die unterhalb der Bewusstseinsschwelle registrierten Informationen komplett verloren gehen oder auf einem subtilen Weg nicht doch – stereotyp, automatisiert und auf gut Glück – wieder in Beurteilungsprozesse und Verhaltensweisen einfließen sollen. Man kann sich gute Gründe dafür vorstellen, warum die Evolution das so eingerichtet hat – und zwar vor allem dann, wenn die Information in enger zeitlicher Nähe zu einer Beurteilung oder einem Verhalten steht. Auch hier wird es durch diesen Mechanismus oft zu verzerrten oder falschen Beurteilungen und unsinnigen Verhaltensweisen kommen. Aber darauf kommt es gar nicht an. Denn es geht nur darum, in einigen wenigen Fällen fatale Konsequenzen zu verhindern, weil eine entscheidende Information verpasst wurde.

Die Mechanismen der Reduktion von Komplexität und der Generalisierung lassen sich in nahezu allen psychologischen Urteilsfehlern nachweisen. So führt zum Beispiel der Halo-Effekt gleichermaßen zur Generalisierung (einer Beurteilung) und zur Reduzierung von Komplexität (Vermeidung von Heterogenität). Der Rückschaufehler entspricht der Reduzierung von Komplexität.

Alle diese Mechanismen haben auf subjektiver Ebene eine Fülle positiver Wirkungen. Sie vermitteln das Gefühl, die Welt zu verstehen und dadurch Kontrolle über die Umwelt zu haben. Es findet damit eine Immunisierung gegenüber den Gefahren statt, die mit der Weiterentwicklung des Verstandes und des Bewusstsein verbunden sind. Der stark weiterentwickelte Verstand soll nicht zu Verunsicherung, Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit führen. Im Gegenteil ist etwas Selbstüberschätzung sogar vorteilhaft. Deswegen macht es aus Sicht der Evolution Sinn, die starke Ausweitung des Verstandes mit einer Vielzahl von Stoßdämpfern zu versehen, um die damit verbundenen Risiken zu reduzieren. Der Preis sind Mechanismen, die zu verzerrten und falschen Beurteilungen und entsprechenden Handlungen führen – all das aber mit einem subjektiv guten Gefühl. Denken wir daran, von welchem der beiden Urmenschen wir abstammen. Nicht von dem Neugierigen, der die Welt differenziert erforschen und erkennen wollte.

Aus einer aufklärerischen Perspektive sind die Mechanismen, die er uns vererbt hat, problematisch. Man kann auch fragen, ob sie im 21. Jahrhundert noch die Berechtigung haben, die sie vielleicht vor 50 000 Jahren hatten. In jedem Fall ist es aber sinnvoll, sich mit diesen Mechanismen und ihren Auswirkungen auseinanderzusetzen. Denn ohnehin sind sie nicht zu eliminieren. Aber sowohl individuell als auch gesellschaftlich kann es gelingen, negative Folgen zu begrenzen. Aus einer aufklärerischen Haltung heraus ist zu sagen: Das muss gelingen. Aber selbstverständlich ist das keineswegs. Gerade in den westlich orientierten Demokratien, die sich eigentlich den Grundgedanken der Aufklärung verbunden fühlen, zeigen sich in Politik, Medien, Ökonomie und Wissenschaft genau gegenteilige Tendenzen. Die evolutionär mit einer anderen Zielsetzung geschaffenen Fehlerquellen werden genutzt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um Produkte zu verkaufen oder um Politik zu machen (vgl. Kap. 15).

4.3Kooperation versus egoistische Abgrenzung

Man kann die evolutionäre Ausgangssituation auch noch unter einem anderen Blickwinkel betrachten. Ein großes Potenzial der Vernunft für die menschliche Entwicklung erschließt sich durch Kooperation. Wie schon die Affen ist auch der Mensch stark auf das soziale Miteinander in einer Gruppe orientiert. Die Vernunft erlaubt es dem Menschen, soziale Funktionsräume zu erschaffen, die das Leistungsvermögen und die Fortentwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen bei Weitem übertreffen. Diese Möglichkeiten wurden durch die Entwicklung der menschlichen Vernunft in nie zuvor erreichte Dimensionen gesteigert. Aber genau hierin liegt aus evolutionärer Sicht auch eine Ambivalenz.

Sie beginnt mit der Weiterentwicklung des Bewusstseins. Sich seiner selbst bewusst zu sein und sich als Individuum zu verstehen, ist ein Erleben, das durch Abgrenzung von der Umwelt und anderen Lebewesen konstituiert wird. Ein darauf aufbauender Selbstbehauptungstrieb muss sich in der subjektiven Wahrnehmung zunächst auf sich selbst fokussieren. Es kommt hinzu, dass andere Menschen nicht nur potenzielle Kooperationspartner sind. Gerade weil der Mensch keine anderen natürlichen Feinde hat, ist ein anderer Mensch die einzig relevante Gefahrenquelle durch ein anderes Lebewesen. Ein anderer Mensch positioniert sich somit theoretisch im Spannungsfeld zwischen potenziellem Verbündeten und existenzgefährdendem Feind.

Diese Grundproblematik hat die Natur auch schon vor der Existenz des Menschen bei vielen Spezies gelöst. Wir kennen das Prinzip des Rudels, der Herde, des Schwarms, der Paarbeziehung oder der Gruppe (zum Beispiel bei Affen). Das Prinzip ist immer das gleiche. Es gibt eine soziale Ordnung innerhalb der Gruppe. Das heißt, es gibt Regeln, nach denen sich das Verhalten des Einzelnen ausrichtet. Diese Regeln gewährleisten die Funktionsfähigkeit der gesamten Gruppe. Wie erwähnt lässt sich die menschliche Entwicklung so charakterisieren, dass sie sich weg von stereotypen Instinkthandlungen hin zu mehr Variabilität und mehr Entscheidungsspielraum des Einzelnen bewegt hat. Die meisten von uns kennen das Gefühl, anderen Menschen durch partnerschaftliche, freundschaftliche, familiäre Bande oder auch nur durch Sympathie verbunden zu sein. Das sind Ausdrucksformen unseres Potenzials, uns in Gemeinschaft mit anderen Menschen wohl zu fühlen und Teil eines sozialen Gebildes zu werden, das auf Kooperation ausgerichtet ist. Diese Fähigkeit zu kooperativem Empfinden steht allerdings in einem Spannungsverhältnis zum egozentrisch auf die eigene Selbstbehauptung ausgerichteten Selbstbewusstsein. Das lässt sich an zahlreichen Beispielen demonstrieren. Selbst tiefe Liebesbeziehungen oder starke familiäre Bande verhindern nicht, dass es immer wieder Phasen individuellen Unbehagens oder wüster Konfrontationen gibt. Die Spitze des Eisbergs dieses Phänomens ist der Umstand, dass es sich bei vielen Tötungsdelikten um Beziehungsdelikte handelt.

Nietzsche nennt diese menschliche Bestrebung den Willen zur Macht, der auf dem biologischen Prinzip der Selbstbehauptung aufgebaut ist (vgl. Kap. 9.4). »Selbstbehauptung« klingt nach einer einsamen Sache, bei der sich der Einzelne gegen alle Widrigkeiten und konkurrierende Mitmenschen durchs Leben schlägt. Aber der Wille zur Macht bzw. die Ausübung von Macht kommt oft gerade nicht alleine, sondern durch die Führung oder die Beeinflussung einer Gruppe zum Ausdruck. Sie hat dann die Form einer sozialen Interaktion, denn die Beziehungen zu anderen Menschen müssen keineswegs zwangsläufig Ausdruck unseres Kooperationspotenzials sein. Das Kooperationspotenzial ist immer dadurch gekennzeichnet, eigene Bedürfnisse und Ansprüche zumindest teilweise gegenüber legitimen Bedürfnissen und Ansprüchen anderer Menschen/Lebewesen zu relativieren. Häufig gibt es dafür emotionale Korrelate, indem wir ein positives Gefühl der Bindung zu anderen Menschen oder einer Gruppe empfinden (z. B. Liebe, Freundschaft, Sympathie). Auch die Vernunft kann ein tragfähiger Boden für Kooperation sein. Dies, indem ein Individuum erkennt, dass Kooperation für alle Beteiligten nützlich ist und das eigene Verhalten deshalb kooperativ ausrichtet. Aus dem Gesagten wird deutlich, dass die Instrumentalisierung von Beziehungen, Manipulation oder ein vor allem auf Kontrolle anderer Personen oder Gruppen ausgerichtetes Handeln, keine Verhaltensweisen sind, die unserem Kooperationspotenzial entsprechen. Es handelt sich vielmehr um Formen von Machtausübung im Kontakt mit anderen Menschen. Deren Quelle ist nicht das menschliche Kooperationspotenzial, sondern der entgegengesetzte Pol: die egoistische Selbstbehauptung.

Das Kooperationspotenzial der menschlichen Natur basiert vor allem auf der Bindungsfähigkeit gegenüber anderen Menschen. Die bereits erwähnten emotionalen Korrelate der Bindung sind zum Beispiel als Liebe, Freundschaft, Verbundenheit, Zuneigung oder Sympathie spürbar. Genau genommen ist Bindungsfähigkeit eine universelle menschliche Disposition und keineswegs nur auf andere Menschen begrenzt. Sie kann mit den gleichen emotionalen Korrelaten gegenüber anderen Lebewesen (Tieren oder Pflanzen) oder auch unbelebten Dingen zum Ausdruck kommen. Dass das Ziel der Bindungsfähigkeit variabel ist, zeigt sich an der Beziehung, die manche Menschen zum Beispiel zu ihrem Auto oder zu virtuellen Figuren entwickeln können. Die beginnende Verbreitung von menschlich wirkenden Puppen als Ersatz für menschliche Partner zeigt, dass Bindungsfähigkeit eine menschliche Grunddisposition ist, die sich sehr flexibel auf verschiedene Objekte ausrichten kann. Die Bindungsfähigkeit ist im Übrigen wieder ein Element, das sich in der Natur bereits bei vielen Lebewesen zeigte. Wer je einen anhänglichen Hund hatte, hat einen eigenen Eindruck von der Bindungsfähigkeit von Tieren. Allerdings sind die Flexibilität und das Differenzierungsspektrum menschlicher Bindungsfähigkeit Grundlage einer sozialen Interaktionsfähigkeit, die weit über die Möglichkeiten hinausgeht, die durch die Evolution vor der Entwicklung des Menschen geschaffen wurden.

Ein zweites emotionales Korrelat unseres Kooperationspotenzials ist die Fähigkeit, Gefühle und Perspektiven anderer Lebewesen zu erkennen und nachzufühlen. Diese Fähigkeit wird gemeinhin als Empathie bezeichnet. Wenngleich dieser Begriff einige Unschärfen enthält, trifft das allgemeine Verständnis doch ganz gut den Kern, um den es geht. Es ist uns möglich, eine – auch emotional angereicherte – Vorstellung davon zu entwickeln, wie sich ein anderes Lebewesen fühlt und/oder wie die Welt aus dessen Perspektive aussieht. Es gibt Menschen, denen das besser gelingt als anderen. Aber auch bei den Menschen, die grundsätzlich fähig sind, Empathie zu empfinden, ist es von der jeweiligen Situation abhängig, ob diese Fähigkeit aktiviert wird oder nicht. Wie bei der Bindungsfähigkeit haben Menschen eine hohe Flexibilität dahingehend, in welchen Situationen Empathie aktiviert wird und in welchen nicht (siehe auch Verhältnis Mensch – Tier, Kap. 4.6). Generell ist die Wahrscheinlichkeit, Empathie zu empfinden, dann erhöht, wenn gleichzeitig eine Bindung zur anderen Person/zum anderen Lebewesen besteht.

Es ist das Wesensmerkmal einer Bindung, dass sich die Grenzen der eigenen Identität – zumindest ein wenig oder kurzzeitig – lockern. Wenn man sich einer anderen Person nah fühlt, dann nimmt man sich selbst – auch – als Teil einer Gemeinsamkeit wahr, die in einem Gefühl der Verbundenheit spürbar wird. Man kann dieses Phänomen sehr gut beobachten, wenn Menschen sich einer Gruppe gegenüber verbunden fühlen und dann in dieser Gruppe aufgehen. Das kann sehr schnell passieren. Manchmal reicht es, Zuhörer einer emotionalen Massenveranstaltung zu sein, um sich als Teil einer gefühlten Gruppenidentität wahrzunehmen (vgl. Kap. 15.6). Manchmal reicht es, nach einigen Gläsern Bier mit Bekannten durch die Straßen zu ziehen.

Das Prinzip der egoistischen Selbstbehauptung ist das dem Kooperationspotenzial entgegengesetzte Prinzip. Egoistische Selbstbehauptung ist vor allem durch die starke Fokussierung auf die eigenen Interessen gekennzeichnet. Evolutionär sind Überleben und Fortpflanzung die entscheidenden Interessen. Es liegt im Wesen der puren egoistischen Selbstbehauptung, dass andere Menschen in diesem Modus als potenzielle Konkurrenten, als Feinde oder als nützliche Ressource wahrgenommen werden, die eigene Macht zu festigen oder zu erweitern. Darum sind Beziehungen zu anderen Menschen in diesem Modus eher auf Kontrolle und Beherrschen ausgerichtet.

Nietzsche hat dem biologischen Prinzip der unbedingten Selbstbehauptung zu Recht eine Qualität des immerwährenden Fortschreitens, des Immer-weiter und Immer-besser zugeordnet. Egoistische Selbstbehauptung als Wille zur Macht ist eine Kraft, die keine Ruhe kennt. Sie ist – auch im positiven Sinne – durch ein Element der Unersättlichkeit gekennzeichnet. Die Dynamik des grenzenlosen Fortschreitens kann positiv wirken, wenn sie in einer zivilisierten Ausdrucksform wertvolle Leistungen ermöglicht. Zu denken ist z. B. an die Triebkraft, die Entdeckungen, Erfindungen, Kunstwerke oder ein geniales Handwerksstück hervorzubringen vermag. Aber mit dem Prinzip der egoistischen Selbstbehauptung ist auch großes Potenzial für Ausbeutung, Gewalt und Unterdrückung verbunden. Denn rücksichtsloser Egoismus und Unersättlichkeit sind Kernmerkmale dieses Prinzips. Im Fiktionalen verkörpern die Gegenspieler von James Bond Personen mit einem ungebremsten Willen zur Macht. Stets verfolgen sie das Ziel, zum Herrscher der Welt zu werden. Dafür ist ihnen jedes Mittel recht. Zu Ende gedacht, liegt das in der Logik des – nicht durch die Realität begrenzten – Prinzips egoistischer Selbstbehauptung. Aber es braucht keine Kunstfigur, um diese Prinzip zu veranschaulichen. Geschichte und Gegenwart sind voll von Personen, deren rücksichtsloser Egoismus und deren Unersättlichkeit zu unermesslichem Leid geführt haben.

Man kann also zusammenfassend sagen, dass unsere Wahrnehmungsund Erkenntnisfähigkeiten zwischen zwei zentralen evolutionären Prinzipien der menschlichen Natur positioniert sind. Diese sind das emotional durch Bindungsfähigkeit und die Fähigkeit zum Nachfühlen vermittelte Kooperationspotenzial auf der einen und das – potenziell grenzenlos fortschreitende – Prinzip egoistischer Selbstbehauptung auf der anderen Seite.

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