Kitabı oku: «Gesundes Gift», sayfa 2
„Echte Qualitätsware“, hast du gesagt: „So etwas geht nie kaputt.“
Und das ist sie auch nicht, obwohl die Klinge schon ganz schmal und dünn war vom vielen Schleifen, wie bei einem richtigen Fleischermesser. Wie viele Schnitzel du damit wohl geschnitten hast? Keines für Papa jedenfalls. Der war nach meiner Geburt schneller weg, als du schauen konntest.
Ich weiß nur eins: Ich werde nie mehr ein Schnitzel essen können, Mama. Mein Lebtag nicht! Denn das Schnitzelmesser habe ich gefunden, finden müssen, das hast du gut arrangiert. Ein altes Schnitzelmesser unter deinem weißen, aufgeschwemmten Körper. Die Pulsadern glatt durchtrennt. Zwei saubere Schnitte. Kein Pfusch.
Weil zu pfuschen, das ist dir zeitlebens gegen den Strich gegangen, Mama.
E-Mail-Verkehr mit Thomas Mitterer, Wien
Von: fpro@gmx.at
Gesendet: Mittwoch, 20. Juni 2012 17 : 47
Betreff: deine fachliche Meinung
Lieber Thomas,
ich habe mich lange nicht mehr bei dir gemeldet, entschuldige! Aber wenn das auch nach einer Ausrede klingen mag: Mir ist es wirklich nicht so gut gegangen in letzter Zeit. Wenigstens hab ich jetzt beruflich etwas Spannendes am Laufen, was auch der Grund für dieses Mail ist.
Ich hätte ein paar fachliche Fragen zu klären, die du als erfahrener Chemiker mir vermutlich aus dem Stand beantworten könntest. Sofern es deine Zeit am Ökologieinstitut erlaubt, würde ich mich gerne mit dir treffen, um ein kleines Interview zu machen. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir einen Termin geben könntest. Gerne komme ich auch zu dir an deine Arbeitsstelle, damit du keine Freizeit opfern musst. Es eilt allerdings ziemlich, wenn ich das so direkt sagen darf, denn ich stecke bereits mitten in den Recherchen.
Nur so viel dazu: Es geht um Kritik an ayurvedischen Praktiken. Soweit ich weiß, bist du mit dem Thema vertraut, immerhin hast du zwei Jahre lang in Kalkutta gearbeitet. Konkret würde mich deine fachliche Meinung zu einer amerikanischen Studie interessieren, die ich dir ebenso beilege wie eine aktuelle Zurückweisung dieser Studie durch indische Ärzte. Vielleicht findest du Zeit, dir beides vor unserem Gespräch anzuschauen.
Auf eine baldige Antwort freut sich
deine alte Studienkollegin
Frieda Prohaska
Gesendet: Freitag, 22. Juni 2012 11 : 03
An: fpro@gmx.at
Betreff: Re: deine fachliche Meinung
Liebe Frieda,
ich hab geschwind einmal in deine Unterlagen hineingeschaut und rede natürlich gerne mit dir darüber, auch wenn ich schon viele Jahre nicht mehr in dieser Sparte tätig bin. Andererseits: Die Grundprinzipien vergisst man wohl nie.
Ich bin derzeit noch in Berlin, ab nächsten Mittwoch aber wieder in Wien. Während der Zugfahrt werde ich mir das Material noch genauer zu Gemüte führen. Ruf mich einfach ab Donnerstag an, dann machen wir uns einen Termin aus, einverstanden?
Herzlich dein
Thomas
Transkript: Interview mit Dr. Thomas Mitterer, Ökologieinstitut, 29. 6. 2012
FP: Danke, Thomas, dass du dir für dieses Gespräch Zeit genommen hast. Es geht, wie gesagt, um deine Einschätzung jener Studie, die Dr. Richard Piper von der Boston University gemacht hat und die unlängst im Journal of the American Medical Association publiziert wurde. Die Studie kam zum Ergebnis, dass vierzig Prozent der im Internet verkauften ayurvedischen Produkte, welche unter Rasa shastra laufen, massive Überschreitungen der Grenzwerte bei Quecksilber, Blei und Arsen aufweisen. Diverse Ayurvedaverbände in den USA und Europa haben auf die Ergebnisse von Pipers Studie reagiert und die Aussagekraft dieser Untersuchungen bestritten. Meine erste Frage an dich: Wie schätzt du das Ganze ein?
TM: Okay, zuerst einmal einige Anmerkungen zur Studie selbst. Was ich für problematisch halte, ist, dass da immer von soundso viel Mikrogramm Schwermetall pro Kilo die Rede ist. Es wird nicht unterschieden, ob es sich um Schwermetalle in löslicher oder nicht löslicher Form handelt. Genau das macht in der Praxis aber den Unterschied zwischen gefährlich und ungefährlich aus.
Weiters stört mich die ständige Bezugnahme auf den sogenannten Durchschnittsmenschen. Ich habe diese Kategorie noch nie verstanden. Wo sind etwa Kinder oder Alte und Schwache anzusiedeln? Aber man kann den Studienverfassern natürlich zugutehalten, dass ihr Untersuchungsgegenstand nicht die Erfassung der gesundheitlichen Effekte am Patienten war, wie bei einer klinischen Studie, sondern nur die Bestimmung des Schwermetallgehalts in verschiedenen Produkten.
FP: Und wie siehst du die kategorische Ablehnung dieser Studienergebnisse durch die Ayurvedacommunity? Sie lehnt den chemisch-analytischen Zugang ja prinzipiell ab.
TM: Nun, das ist eine sehr komplexe Geschichte. Erst einmal muss ich bekennen, dass sich meine Einstellung zur westlichen Naturwissenschaft im Verlauf der letzten Jahre einigermaßen geändert hat. Das klingt aus dem Mund eines Chemikers vielleicht eigenartig, aber ich bin überzeugt, dass es Dinge jenseits unseres Horizonts gibt. Dinge, die wir mit unseren evidenzbasierten physikalischen oder chemischen Methoden alleine nicht in den Griff bekommen. Denk nur an die Homöopathie. Es ist doch hochinteressant, dass sie bei uns immer stärker angenommen wird – gerade von den höheren Bildungsschichten.
Für mich kommt da eben ein wichtiger Aspekt ins Spiel, und der lautet Systembetrachtung. Die klassische Chemie, so wie du und ich sie gelernt haben, beruht ja darauf, dass man die Dinge erst in ihre Einzelteile zerlegt und dann wieder zusammenbaut. In den letzten Jahren ist man aber dazu übergegangen, die Systemwirkung mitzuberücksichtigen. Um es einfach zu sagen: Ein und dieselbe pflanzliche Substanz kann isoliert oder im Verbund mit anderen sehr unterschiedliche Wirkungen haben.
FP: Entschuldige, aber es geht hier ja nicht um Pflanzen – es geht um Schwermetalle wie Quecksilber, Blei, Arsen oder Kadmium!
TM: Ich weiß, ich weiß. Aber wie ich schon sagte, man kann nicht einmal davon ausgehen, dass Schwermetalle in jedem Fall negative Auswirkungen haben. Wie du weißt, ist beispielsweise Quecksilber in purem Zustand geschluckt überhaupt nicht gefährlich – der Körper scheidet es einfach wieder aus. Oder denk an das Quecksilberamalgam, das sich vielleicht auch als Füllung in deinen Zähnen befindet. Andere Hg-Verbindungen sind hingegen hochgiftig. Und natürlich macht die Dosis viel aus, ebenso wie die Frage Lang- oder Kurzzeiteinnahme. Eine bestimmte Substanz ein einziges Mal in großer Konzentration eingenommen kann zum Beispiel weitaus stärker wirken als eine häufige Einnahme in niedriger Konzentration oder umgekehrt. Dazu kommt noch die Konstitutionsfrage: Medikamente werden ja in der Regel von kranken Menschen eingenommen und treffen deshalb auf einen geschwächten Organismus, der völlig anders reagieren kann wie ein gesunder. Alle diese Aspekte spielen eine nicht unbedeutende Rolle – und deshalb ist eben die isolierte Betrachtung einer Substanz nicht zielführend.
FP: Genau so argumentieren auch die Vertreter des Ayurveda. Aber geht es letztlich nicht darum, ob sich die chemische Struktur, etwa von Quecksilber, durch eine ayurvedische Zubereitungsprozedur grundsätzlich ändern kann oder nicht? Ob das, was im Ayurveda unter Shodana verstanden wird, wissenschaftlich betrachtet überhaupt möglich ist: nämlich die Reinigung der Metalle von sämtlichen toxischen Nebenwirkungen? Kannst du dir das vorstellen?
TM: Ob ich mir das vorstellen kann? Ach Gott, wir wissen spätestens seit der Quantenphysik, dass es Dinge gibt, die uns Normalsterblichen schwer verständlich sind. Stichwort Informationsübertragung. Außerdem reden wir hier ja von einem Systemwechsel. Und ich denke, dass es generell schwierig bis unmöglich ist, mit den Methoden der einen Wissenschaft eine andere zu bewerten.
FP: Okay, lass uns einen Schritt zurück machen. Der Grund, warum im Rasa-shastra-Verfahren pflanzliche Stoffe mit Schwermetallen vermengt werden, ist ja, dass dadurch die Heilkraft und Haltbarkeit der Präparate erhöht werden soll. Es geht also, wohlgemerkt, nicht um zufällige Verunreinigungen, etwa durch Düngemittel, mit denen die Pflanzen in Kontakt kommen, sondern um eine bewusste Beimengung von Quecksilber oder Blei gemäß einer jahrtausendealten Tradition, niedergeschrieben in den ayurvedischen Rezepturen. Verstehe ich dich richtig: Du hältst eine solch wundersame Verwandlung eines giftigen Schwermetalls in ein heilsames Medikament für grundsätzlich möglich? Von der Beantwortung dieser Frage hängt immerhin ab, ob es angezeigt ist, schwermetallhaltige Produkte zu verbieten oder in unseren Apotheken zuzulassen.
TM: Wir bewegen uns im Kreis. Ich kenne mich bei Ayurveda doch viel zu wenig aus, um deine Frage eindeutig beantworten zu können.
FP: Aber du musst doch als Chemiker sagen können, ob eine Eliminierung der toxischen Eigenschaften von Schwermetallen durch Kalzinierung et cetera grundsätzlich denkbar ist?
TM: Meine Antwort darauf ist ein klares Jein. Als Chemiker müsste ich natürlich sagen, dass das nicht geht. Aber wie eben dargelegt, bin ich nicht mehr davon überzeugt, dass unsere Vorstellung von Chemie das alleinig Seligmachende ist. Ich maße mir auch nicht an, Zugänge jenseits der westlichen Chemie zu beurteilen.
FP: Aber Thomas …
TM: Nein, warte, ich versuche es mit einem simplen Beispiel zu verdeutlichen. Wir wissen doch, dass Chinesen Kuhmilch schlecht vertragen. Nun, heute lässt sich das natürlich leicht erklären – ihnen fehlt einfach ein Enzym, um die Milch zu verdauen. Aber vor zweihundert Jahren hat kein Mensch den Grund gekannt. Und selbst wenn eine Gesellschaft grundsätzlich über ein komplexes Wissen wie die Quantenphysik verfügt, heißt das noch lange nicht, dass damit viele etwas anfangen können. Das sollte uns doch zu denken geben, nicht wahr, und vorsichtiger sein lassen bei der Beurteilung fremder Systeme!
FP: Du lässt diese Frage also offen?
TM: Exakt. Sollen die sich damit beschäftigen, die beide Systeme gleich gut kennen. Ich zähle nicht dazu.
Was mich bedeutend mehr interessiert, ist die Frage: Was steckt dahinter, dass so viele westliche Menschen heute ihr Heil in etwas komplett Fremdem, Andersartigem suchen? Wieso kommt es bei uns überhaupt zu einem Ayurvedaboom? Ist eine solche, in einer anderen Kultur gewachsene Medizin überhaupt auf uns übertragbar? Ich meine, das ist ja schon bei einfachen Dingen so, dass sie an unterschiedlichen Orten unterschiedlich wirken. Wenn du eine Flasche des Weins, der dir im Urlaub so phantastisch geschmeckt hat, zu Hause aufmachst, fragst du dich vielleicht, was du da bloß für einen Fusel gekauft hast. Dabei hat sich der Wein nicht geändert – bloß das kulturelle Umfeld, in dem er getrunken wird, ist ein anderes.
FP: Manche halten diese Tradition der Mischung von Schwermetallen und pflanzlichen Substanzen für einen von der modernen Chemie längst überwundenen alchemistischen Irrglauben. Und sie fragen sich, wie diese Schwermetalle, wenn sie denn in angeblich ungefährlicher, nicht löslicher Form vorliegen, überhaupt eine Wirkung geschweige denn eine heilende haben sollen.
TM: Weil es nach ayurvedischer Meinung eben nicht um die stoffliche Wirkung, sondern um eine andere Art von Informationsübertragung geht. Ähnlich wie in der Homöopathie.
FP: Aber wie bitte stellt sich ein Chemiker vor, dass Informationen übertragen werden, die nicht an Moleküle gebunden sind?
TM: Ich tu mir persönlich schon schwer, den Welle-Teilchen-Dualismus zu verstehen, und der ist ja auch schwer verständlich in den makroskopischen Kategorien, in denen wir gelernt haben zu denken. Bezüglich der Frage, ob es absolute Wahrheiten gibt oder nur kulturell determinierte, tendiere ich mittlerweile eher zu Letzterem. Ich stelle fest, dass in anderen Kulturen seit Jahrtausenden andere Wege als bei uns beschritten werden und die Menschen dort offenbar auch nicht kränker sind.
FP: Aber ist ein solcher Relativismus nicht problematisch? Wenn etwa die Food and Drug Administration in den USA Obergrenzen bei Schwermetallen festlegt, tut sie das wohl deshalb, weil sie Menschen damit schützen will. Egal, welchen kulturellen Hintergrund sie haben.
TM: Genauso kannst du fragen, welche Interessen dahinterstehen, dass es punkto Schwermetalle alleine in den USA vier unterschiedliche Grenzwerte gibt.
FP: Die aber allesamt, wie Pipers Studie belegt, bei Quecksilber, Blei und Arsen um das Tausendfache überschritten werden. Umso überraschender, dass in den USA nicht mehr Vergiftungsfälle bekannt sind als die etwa siebzig, von denen derzeit ausgegangen wird. Und aus Indien, wo Ayurveda ja einen viel höheren Stellenwert hat, sind noch weniger Fälle bekannt.
TM: Na, das überrascht mich jetzt nicht sonderlich. Es gibt auch eine große Dunkelziffer nicht erfasster Morde, weil einfach viele Opfer nie als solche erkannt werden. Opfer von Giftanschlägen zum Beispiel. Nicht jeder Tote wird gerichtsmedizinisch untersucht.
FP: Abgesehen von den Gefahren für jene, die diese zweifelhaften Substanzen schlucken: Denkst du nicht auch, dass insbesondere die Arbeiterinnen und Arbeiter, die bei der Herstellung schwermetallhaltiger Präparate eingesetzt werden, besonders gefährdet sind?
TM: Na klar, schon wegen der anfallenden Dämpfe. Und nach meiner Erfahrung mit indischen Betrieben kümmert sich dort selten jemand um den Schutz der Belegschaft. Warum verlagern westliche Pharmaunternehmen ihre Produktion in solche Schwellenländer? Weil, abgesehen von den lächerlichen Löhnen, dort auch die staatlichen Auflagen und Sicherheitsstandards niedriger sind, was wiederum Kosten senkt.
FP: Abschließende Frage: Worauf würdest du besonders achten, wenn du so einen Produktionsbetrieb zu kontrollieren hättest?
TM: Zuerst einmal müsste klar sein, mit welchen chemischen Verbindungen in dem betreffenden Betrieb hantiert wird. Erst danach kann man sich mit den nötigen Schutzmaßnahmen beschäftigen und überprüfen, ob es für alle, die mit gefährlichen Substanzen in Berührung kommen, eine entsprechende Arbeitskleidung oder Atemschutzmasken gibt, die auch tatsächlich verwendet werden bzw. funktionieren. All das ist nämlich keineswegs selbstverständlich.
Ein simples Beispiel: Auch in Indien gilt längst die Helmpflicht für Motorradfahrer. Im Alltag wirst du aber feststellen, dass die meisten den Helm lieber am Handgelenk als auf dem Kopf tragen. Das bloße Vorhandensein einer Schutzkleidung in einer chemischen Produktionsstätte sagt also noch gar nichts über deren Verwendung aus. Vielleicht gilt es ja einfach als uncool, sich in einen Schutzanzug zu zwängen, weil der die Haartracht ruiniert? Es gibt tausend Gründe, warum die Sicherheit am Arbeitsplatz nicht ernst genommen wird – vor allem, wenn, wie in Indien, das Leben des Einzelnen weniger wert ist als der mögliche Profit für ein Unternehmen. Darauf würde ich also bei einer Inspektion vor allem achten: auf den Unterschied zwischen Theorie und Praxis.
FP: Thomas, ich danke dir für das Gespräch.
2
Ajith Nair lehnte sich zufrieden zurück in den dicken Polster und streckte die Beine aus. Er verspürte nicht den geringsten Jetlag, und das Essen in dem von einem Nepalesen geführten Restaurant, von dem aus sich ihm ein schöner Blick auf den Charles River bot, hatte hervorragend gemundet. Von den vegetarischen Momos in Tomatensauce hatte er sogar noch eine Portion nachbestellt.
Sein Gegenüber war da weitaus weniger entspannt. Kein Wunder, dachte er. Sein Besuch war R. S. Murugan schließlich erst einen Tag vor Ajiths Abflug angekündigt worden, und in dem Telefonat waren nur einige wenige Eckdaten genannt worden: Wann genau Ajith am Flughafen Boston abzuholen sei, dass der ältere Bruder ausdrücklich eine persönliche Abholung wünsche und dass Ajith angemessen, also in einem ordentlichen Hotel, aber unter falschem Namen, unterzubringen sei. Mehr nicht. Murugan hatte immer nur yes und of course gemurmelt. Dabei hatte er vermutlich an nichts anderes denken können als an die wenig erfreuliche Perspektive, wegen des überraschenden Besuchs aus Chennai alle möglichen Termine schleunigst absagen zu müssen. Ohne Wenn und Aber. Egal, wie wichtig sie auch sein mochten.
Während des dreigängigen Menüs hatten sie nur belangloses Zeug geplaudert. Wie es den Eltern gehe, was die Kinder so trieben (Ajith hatte keine, weshalb sich das Thema rasch erledigt hatte) und wie hoch der Benzinpreis in Indien respektive in den USA derzeit sei, die übliche Palette eben. Wenn Murugan sich auch rechtschaffen bemühte, Interesse an der momentanen Situation in seiner ehemaligen Heimat zu bekunden, entging Ajiths geschärften Sinnen nicht, wie hektisch die Blicke des Brokers waren, wie fahrig seine Bewegungen. Ständig nickend und lächelnd vermied er tunlichst die eine, die einzig interessante Frage: jene nach Ajiths Auftrag. Das hätte schon beim Besuch eines nahestehenden Freundes als unhöflich gegolten; wie viel mehr galt das erst für ihre Beziehung. Die gar keine war, in der engeren Bedeutung des Wortes. Oder konnte man es als eine Art indirekter Verwandtschaft bezeichnen, wenn der ältere Bruder über ihnen beiden als überdimensionaler Scheinwerfer strahlte, als Fixstern am Firmament? Ein Stern, der alles sah und über allem wachte. Immerzu präsent, doch von den Menschen erst wahrzunehmen, wenn die Dunkelheit hereinbricht.
Nachdem der Besitzer des Lokals höchstpersönlich den Kaffee serviert hatte, fand Ajith es an der Zeit, zum geschäftlichen Teil überzugehen.
„Ich soll dir von unserem älteren Bruder die besten Grüße ausrichten. Wie man hört, läuft bei dir geschäftlich ja alles äußerst zufriedenstellend.“
Wie man hört … Es konnte nicht schaden, von Anfang an klarzustellen, wer die Kontrolle innehatte. Egal, wie weit die amerikanische von der indischen Ostküste entfernt war.
In Murugans Gesicht zuckte ein kleiner Muskel. Ganz kurz nur, aber Ajith registrierte es mit Wohlgefallen.
„Ich bedanke mich“, sagte der andere. Es klang, als machte seine Stimme dabei einen tiefen Bückling. „Und was die Geschäfte angeht, bin ich in der Tat sehr zufrieden.“
„Ja“, bestätigte Ajith mit einem Blick auf Murugans Anzug. Der dunkle Stoff schimmerte dezent und saß wie angegossen. So etwas gab es nicht von der Stange. „Unser älterer Bruder sorgt für uns wie ein wahrer Vater. Das sollten wir nie vergessen.“
Murugan nickte, vielleicht nicht ganz so enthusiastisch, wie man es sich hätte erwarten dürfen. Schließlich wusste Ajith nur zu genau, was bzw. wer den dunkelhäutigen Tamilen in die Lage versetzt hatte, so hoch auf der gesellschaftlichen Leiter zu klettern, dass er es sich leisten konnte, von seinem Arbeitsplatz an der Wall Street zurück zu seinem feudalen Häuschen im besten Bostoner Viertel zu fliegen, wann immer ihm danach war. Businessclass natürlich.
Ajith hatte noch nie ein derart teures Tuch auf der Haut gespürt, aber er beneidete den anderen nicht darum. Er machte sich nichts aus Statussymbolen. Zog es sogar vor, schlicht und möglichst locker gekleidet seiner Arbeit nachzugehen. Wenn er, wie momentan, selbst einen Anzug trug, dann nur deshalb, weil das in gewissen Situationen einfach unvermeidlich war. Weil man nicht auffallen durfte, sich anzupassen hatte wie ein Chamäleon. Das war in seiner Branche eines der ungeschriebenen Gesetze. Wobei diese die einzig wichtigen waren, davon konnte er ein Lied singen.
„Es geht um eine große Sache“, sagte er unvermittelt, „eine, die unserem älteren Bruder äußerst wichtig ist. Dein Anteil dabei ist einfach und klar umrissen: Du hast nur Informationen zu beschaffen und ein bisschen Material, das ich nicht im Flugzeug mitbringen konnte. Aber unter keinen Umständen darf jemand etwas von unseren Aktivitäten erfahren. Unter gar keinen Umständen. Ansonsten …“
Mit der Handkante fuhr er von rechts nach links über seine Kehle. Es ging so schnell, dass kein Gast im Nepalese Corner es bemerkte. Außer der eine, für den die Botschaft bestimmt war.
Ajith nippte an seinem Kaffee und musterte Murugan über den Rand der Tasse hinweg. Freundlich, aber deutlich länger als üblich. Unnötig lange wäre dennoch der falsche Ausdruck gewesen. Schließlich war eine solche Verzögerung der normalen Zeitabläufe mitunter das wirksamste Mittel, um Kontrolle auszuüben. Ich könnte darüber ein richtig dickes Buch schreiben, dachte er, eines, das strotzt vor Alltagserfahrung. Vor angewandter Psychologie. Von beidem hatte Ajith Nair sich mit seinen eben mal neunundzwanzig Jahren zweifellos schon jede Menge angeeignet.
Der Blick über die Kaffeetasse zeigte ihm, dass die Botschaft angekommen war. Das Blut war aus dem Gesicht des Brokers gewichen. Zu Hause in Indien strebte ein jeder nach einem möglichst blassen Teint – je heller, desto besser stand man damit da in der gesellschaftlichen Hierarchie. Manche ließen sich sogar mit Chemie behandeln, um ihre Haut ein klein bisschen aufzuhellen. Aber damit hatte das plötzliche Weiß im Gesicht R. S. Murugans nichts zu tun.
„Selbstverständlich“, flüsterte er. Dann versuchte er sich an einem Lächeln. „Meine Lippen sind versiegelt. Was immer unser älterer Bruder wünscht, es wird geschehen.“
Nun lächelte auch Ajith. Eine Sekunde lang hegte er so etwas wie Mitgefühl für den anderen. Saßen sie nicht beide im selben Boot, wurden sie nicht vom selben Licht bestrahlt? Murugan, der erfolgreiche Börsenspekulant, und er, der nicht weniger erfolgreiche Agent, wie er sich selbst bezeichnete – stammten sie nicht aus derselben Gosse, auch wenn die seine in Kerala lag und jene Murugans in Tamil Nadu? Nein, verwarf er brüsk den Anflug von Sentimentalität, Gefühle waren schädlich, waren gefährlich in seinem Gewerbe. Es galt sich ihrer schnellstmöglich zu entledigen, wann immer sie einen zu überwältigen drohten, gemeinsame Hautfarbe und Herkunft hin oder her! Nur die Treue zählte, und die war weit mehr als ein Gefühl: Sie war eine Grundbedingung, die einzige Konstante in Ajiths Leben. Ohne sie war man nichts, höchstens Scheiße auf Beton.
Unfruchtbar wie Scheiße auf Beton.
Es war der Lieblingsspruch seines Vaters gewesen. Wie oft er ihn wohl in seinem Leben wiederholt hatte? Und ob er ihn auch auf den Lippen führte, ein letztes Mal, als er das Undenkbare beging? Als er sich umbrachte, wie so viele verarmte Bauern damals, wegen der einen Missernte zu viel. Wegen der Wucherzinsen, die er nicht mehr zurückzahlen konnte. Wegen der Schande, die eigene Familie nicht mehr ernähren, die Ausbildung des Sohnes an der Privatschule in Trivandrum nicht mehr finanzieren zu können. Die katholische Schule, an der er, der Hindujunge aus ärmlichen Verhältnissen, erstmals frei zu atmen gelernt hatte, wo er den Geist einer anderen Welt einsog wie frische Meeresluft. Sie lasen sogar ausländische Bücher und lernten dreimal so viel wie an der staatlichen Schule, die fast alle anderen aus seinem Dorf besuchten, die danach nicht einmal ordentlich Hindi sprechen konnten. Vor allem Englisch liebte er. „Nur wenn ihr Englisch beherrscht, könnt ihr in diesem Land etwas werden“ – das war ihnen von seinem Lieblingslehrer, der in den Vereinigten Staaten studiert hatte, immer wieder eingetrichtert worden. Seiner Ansicht nach hatte Ajith großes Talent, und Ajith setzte alles daran, den amerikanischen Akzent seines Lehrers zu kopieren. So drückte er seine Dankbarkeit und Zuneigung aus. Es fehlte ihm nur noch ein Jahr, ein lächerliches Jahr. Den Abschluss hätte er, der fleißige Schüler, problemlos geschafft. Mit einem guten Zeugnis wären auch lukrative Posten außerhalb seines Dorfes für ihn in Reichweite gerückt. Möglichst weit weg von zu Hause, wo es nur die Alternative gab, sich als Bauer oder als Fischer zu Tode zu schinden.
Aber Vater hatte es vorgezogen, eines Morgens in den Verschlag hinter ihrer Hütte zu gehen, wo sie das Zeug lagerten, das in weißen Säcken darauf wartete, auf die Felder ausgebracht zu werden, und eine Handvoll davon zu schlucken. So erfüllte das Pestizid am Ende doch noch seinen einzigen Zweck: zu töten. Wenn auch auf den Feldern nicht einmal mehr das gedieh, was man damit hätte vertilgen müssen. Was sonst sind wir als Unkraut, hatte Vater an seinem letzten Tag gemurmelt.
Sie hatten nicht verstanden, was er damit sagen wollte.
Und weil Vater nicht der erste und nicht der letzte Bauer gewesen war in diesem Jahr, als der Monsun das dritte Mal hintereinander ausblieb, der Gift schluckte oder sich an einem Baum erhängte, wurde eine Kommission eingerichtet. Eine fact-finding delegation, die herausfinden sollte, was wohl schuld sei an der Häufung von Selbstmorden in der Landbevölkerung. Und als die Kommission herausfand, dass nichts Ungewöhnliches herauszufinden war, dass es ebenso viele unterschiedliche Gründe wie Todesfälle gab, speiste man die Familien der Selbstmörder gnadenhalber, oder weil gerade Wahlen anstanden, bei denen man jede Stimme benötigte, mit jeweils drei lakh Rupien ab, dreihunderttausend Rupien also für jeden toten Vater und Alleinverdiener. Wenn die so Beschenkten dann ihre Schulden an die Gläubiger zurückgezahlt hatten, welche für die Kredite zwischen fünfundzwanzig und sechzig Prozent nahmen, blieb so gut wie nichts übrig. Jedenfalls nichts, mit dem man das letzte Schuljahr für den einzigen Sohn hätte berappen können.
In der allgemeinen Verzweiflung, als Mutter Grund und Boden für einen lächerlichen Betrag verkaufen musste und man die Heirat der Schwester, mitgiftlos, wie sie war, wieder absagte, tauchte er auf. Er, der ältere Bruder mit dem langen weißen Bart, wie man ihn in Kerala selten zu Gesicht bekam. Ein Mann, der sich um sie kümmerte und ihn, den Halbwüchsigen, mitnahm, hinüber in die große Stadt, die einmal Madras geheißen hatte. Ein älterer Bruder, der ihn wie ein wahrer Maharadscha in seinem weißen steinernen Haus aufnahm, als wäre er, der unwürdige Sohn eines Selbstmörders, sein eigen Fleisch und Blut. Der ihm Arbeit und Essen gab und ihn für seine Dienste sogar noch bezahlte, wodurch Ajith in die Lage versetzt wurde, seinen Teil dazu beizutragen, dass Mutter und Schwester nicht länger betteln mussten und wieder ein Dach über dem Kopf bekamen. All das dank eines bärtigen Fremden, der sich aus Kastengrenzen nichts machte. Der wie ein wahrer Vater an ihm handelte, bis zum heutigen Tag.
Nicht wie jener, der die Seinen alleine zurückließ.
Ihm, dem älteren Bruder, als der er sich ansprechen ließ, ihm allein galt seither Ajiths ganze Hingebung. Seine Treue. Bis in den Tod.
Nicht umsonst trug er diesen Namen: Ajith. Der, der nicht zu besiegen ist. Und war er nicht ein Nair, ein Abkömmling der alten Kriegerkaste? Wenn auch die Nairs ihre hohe Stellung längst verloren hatten – ihr Erbe trug er im Blut.
Vor allem aber war er ein Profi. Und ein Profi wusste nie, welchen Auftrag er als Nächstes erhielt.
Wen er als Nächsten zu eliminieren hatte.