Kitabı oku: «Gesundes Gift», sayfa 4

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„Die Welt ist alles, was der Fall ist, hat uns der gute alte Wittgenstein vor jetzt bald hundert Jahren verkündet. Er hat nicht vorhersehen können, dass dank der unablässig anbrandenden Esoterikwellen unser Begriff von der Welt mittlerweile recht ordentlich erweitert worden ist, nicht wahr?“

Es sollte zynisch klingen, aber irgendwie schienen alle Argumente an Emma abzuprallen. Die alte Schulfreundin hatte Frieda schon im Vorjahr das Versprechen abgenommen, bei ihrem nächsten Besuch in der alten Heimat unbedingt einmal in ihrer „Hütte“ vorbeizuschauen. Diese erwies sich als stattlicher Vierkanthof außerhalb der Stadt, den Emma und ihr Mann, ein bekannter Architekt, günstig gekauft und modernisiert hatten. Die ehemalige Stube, ausgestattet mit einer Oberlichte aus Milchglas, diente Emma als Grafikbüro, nicht weniger als drei große Apple-Computer prangten auf den weiß lackierten Schreibtischen. Bei der Führung durchs Haus waren Frieda seltsame Apparaturen an den Wasserhähnen aufgefallen. Emma hatte ihr erklärt, dass es sich um Wasserbelebungsgeräte nach Johann Grander handelte, was prompt zu einer heißen Diskussion über Glauben und Wissen geführt hatte. Mittlerweile waren sie bei der Komplementärmedizin angelangt. Dem Thema, das Frieda derzeit am meisten beschäftigte.

Sie hockten einander im Schneidersitz gegenüber, wie in alten Zeiten. Nur dass die ehemals übliche Unterlage, irgendein billiges Baumwolltuch, durch eine reich bestickte Brokatdecke mit einem breiten goldenen Saum ersetzt worden war, zweifellos ein Mitbringsel Emmas von einer ihrer zahlreichen Asienreisen. Der frisch zubereitete Jasmintee duftete, das Teelicht flackerte in einer mit Elefantenmustern durchbrochenen steinernen Kugel und erzeugte bizarre Lichtmuster im abgedunkelten Raum.

Aber Frieda hatte keinen Sinn für das exotische Ambiente. Sie diskutierten nun schon eine halbe Stunde, und Frieda spürte, dass ihr die alte Freundin immer fremder wurde, je länger das Gespräch dauerte.

„Das Zeug wäre doch früher in Medizinerkreisen nicht einmal satisfaktionsfähig gewesen, Emma! Heute findest du die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nullwertigen Salze eines Dr. Schüßler in jeder Apotheke, und schon der zwölfjährige Karli fragt, wenn die Mama ihn losschickt, um Ferrum phosphoricum zu holen, ob er die Globuli in D6 oder D12 bringen soll.“

„Und was regst du dich darüber auf?“ Emma gluckerte fröhlich. „Du musst dir das Zeug ja nicht einwerfen. Niemand zwingt dich dazu.“

Frieda sah einer Riesenmotte nach, die von ihrer Nachtschwärmerei im Zimmer zurückgeblieben war und an der Innenseite des Fensters in einem letzten hoffnungslosen Taumel rauf- und runterflatterte. War er nicht richtig, der Einwand der Freundin? Weshalb regte sie sich so auf? Sie versuchte, es Emma gleichzutun und ebenso kerzengerade zu sitzen, aber ihre Hüften waren an die Position nicht mehr gewöhnt. Der Tee schmeckte ihr nicht, und Kaffee gab es keinen. „Sorry, das ist schon seit Jahren ein koffeinfreier Haushalt“, lautete Emmas Entschuldigung. Immerhin half das Nippen an dem lauwarmen Gesöff beim Konzentrieren.

Wie lange trieb das Thema sie nun schon um? War es wirklich nur die Serie, für die sie seit Wochen recherchierte, oder steckte etwas Grundsätzlicheres dahinter? Eine Irritation, eine grundsätzliche Verstörung darüber, dass nichts mehr seine Ordnung hatte und jede Mess- und Wägbarkeit den Bach runterging? Wünschte sie sich, naiv wie ein kleines Mäderl, gar den allwissenden Herrn Doktor zurück, das Abbild des lieben Gottes auf Erden, der einem mit seiner bloßen sonoren Stimme helfen konnte?

Aber was war denn so anders bei den sogenannten Heilern jedweder Provenienz? Traten die etwa weniger priesterhaft auf, wenn sie ihre Puls- und Pupillendiagnose machten oder schlicht die Aura ihrer Klienten orteten, um danach ihre Wässerchen und Kügelchen zu verordnen? Nein, gewiss fehlte es ihnen nicht an Ausstrahlung. Eher strahlten gerade sie jene Gewissheit, jene Überzeugungskraft aus, über die der gute alte Herr Doktor in seinem weißen Kittel schon längst nicht mehr verfügte in seiner krankenkassengestützten Ordination. Die gesellschaftliche Elite und erst recht das breite Bürgertum waren weggebrochen, hatten sich verduftet. Aus dem Mief der Massenordination hinüber in die ausbalancierte, von weichem Salzlicht durchflutete Feng-Shui-Atmosphäre der Heilkünstler. Wer sich nicht beizeiten umstellte, wer nicht selbst Globuli und Magnetbänder verschrieb, galt als Technokrat, bornierter Schulmediziner und willenloser Vertreter der Pharmaindustrie – mit einem Wort als alt. Also passten die Ärzte sich an, sortierten die Apotheker ihre Regale neu. Beide Berufsgruppen empfahlen jetzt ihrer Klientel, wonach diese sich sehnte: nach dem alles heilenden, heilmachenden Lebenselixier. Egal, was man während des Studiums gelernt hatte, egal, was durch zig Doppelblindstudien längst belegt war: Hauptsache, der Astralleib dehnt sich dank des verordneten Rosenquarzes ins Unermessliche; Hauptsache, das Horoskop bettet dich ein in kosmologische Sphären. Und – für den Fall, dass alle Stricke reißen sollten – der ewige, immer richtige Trost: Hilft’s nichts, so schadet’s nichts. Ein Trostpflaster, mit dem man jedem Mund, Augen und Ohren verkleben kann.

War es dieser hirnverbrannte, hirnverbrennende, als Zeitgeist getarnte Ungeist, der Frieda so nervte? Der, gepaart mit unverblümter Abzockerei, zu beweisen schien, dass Scharlatanerie und Quacksalbertum nie auszurotten sein würden – jedenfalls nicht durch eine an Redlichkeit und Überprüfbarkeit orientierte Wissenschaft? War es jene unheilige Allianz zwischen Anhängern der Alternativmedizin und irgendwelcher Alternativreligionen bis hin zur Verschmelzung beider? War es diese esoterisch-mystische Pseudoargumentation, die abzustellen sich einst Äskulap bemüht hatte und an deren Verbreitung seine postmodernen Schüler nun kräftig mitwirkten, anstatt dafür zu sorgen, dass derlei Sümpfe endlich trockengelegt würden? Postmoderne, yes indeed! Welch abgrundtiefe Wahrheit doch in diesem bescheuerten Begriff steckte …

„Ach, Emma!“ Frieda lächelte die Freundin müde an. „Sie brennen uns das Hirn heraus, und wir bezahlen noch fleißig dafür. Und darüber soll frau sich nicht aufregen? Ich bin mir nur nicht sicher, ob es Lauge oder Säure ist, mit der sie uns das Denken verätzen. Aber das ist ja wohl auch egal.“

„Nicht unbedingt. Ob Lauge oder Säure macht doch für die Therapie einen ziemlichen Unterschied.“

„Hast im Chemieunterricht also doch ein bisserl aufgepasst, wie?“

Beide lachten. Sie erinnerten sich an ihre gemeinsame Zeit in der Siebten und Achten, als der halb blinde Professor Salcher, fraglos eine Kapazität in seinem Fach und sogar Herausgeber des Schulbuchs für organische und anorganische Chemie am Gymnasium, vor Unterrichtsbeginn immer durch Abzählen der Köpfe die Anwesenheit zu kontrollieren pflegte. Wobei der alte Lehrer, nachdem die Schüler herausgefunden hatten, wie katastrophal es um sein Augenlicht bestellt war, auch schon mal einen Sturzhelm anstatt eines Kopfes zählte. Den hatten die Burschen einfach auf die Schulbank gestellt, und sie ließen ihn zum Gaudium aller ein bisschen wackeln, wenn Salcher gerade einen absenten Schüler aufrief. Huber? Anwesend! Irgendein Komiker fand sich immer, der die Stimme des Fehlenden zu imitieren wusste.

Aber Frieda wollte noch nicht von ihrem Lieblingsthema lassen.

„Was willst du eigentlich therapieren, meine Liebe? Die Säure- oder Laugenspritzer sind doch allüberall. In den Kliniken ebenso wie in den Kirchen. Und es braucht keine Kanzel mehr – es genügt der gemeine Volksaltar, um die Leute zu verblöden. Vor allem, wenn diese Predigten auch noch im Fernsehen massenhaft Verbreitung finden.“

Emma nickte, aber ihr Nicken pendelte schnell zur Seite hin aus. Eine Geste, die Frieda seit der Schulbank kannte und die ganz eindeutig Zweifel signalisierte.

„Was ist? Sehe ich etwa zu schwarz?“

„Ach, keine Ahnung.“

Emma kratzte sich an der Nase wie andere hinterm Ohr. „Vielleicht hat dein Groll ja einen tieferen Grund. Etwas Persönliches womöglich. Ist es nicht meist etwas tief in unserem Inneren, das den berühmten Weltschmerz auslöst?“

„Verdammt, Emma, fängst du jetzt auch noch an mit dieser Masche! Wenn ich etwas hasse, dann ist es das Geschwafel vom je eigenen Anteil, vom unbewältigten Problem, das jeder, der etwas kritisiert, angeblich mit sich herumschleppt. Als ob es nichts Objektives mehr gäbe. Die objektive Scheiße, die sich durchaus beschreiben lässt, ohne dass man sich zu ihr in die Kloschüssel legen muss.“

„Die klinisch saubere Diagnose meinst du? Wissenschaft als Religionsersatz? Aber vielleicht machst du es dir doch ein bisschen zu einfach. Ich weiß ja, was du über Gott und die Welt denkst oder besser gesagt über den Umgang von unsereins mit Gott. Von wegen, wer da wen gezeugt hat, wer da wen braucht. Du hast es mir oft genug gepredigt.“

Emma legte eine kleine Pause ein, vermutlich um die Gewichtigkeit der nachfolgenden Worte zu untermauern.

„Trotzdem glaube ich, dass auch du nicht so sicher bist, wie du tust. Und ist es ein Wunder? Wovon letztlich eine Wirkung ausgeht, können wir doch nicht allein chemisch-analytisch bestimmen, Frieda! Von wem stammt das Zitat Wer heilt, hat recht?“

„Vergiss es! So, wie der Spruch heute ständig verwendet wird, wenn der Hintergrund eines Heilungsprozesses nicht bekannt ist, ist er unredlich! Warum wohl führen ihn gerade die sogenannten Naturheiler und Komplementärmediziner ständig im Mund? Auch wenn es einem Patienten egal sein mag, was genau zu seiner Heilung beigetragen hat – für einen Mediziner ist es doch ein Armutszeugnis, wenn er akzeptiert, dass der Weg zum positiven Ergebnis nicht nachvollziehbar ist. Evidence based medicine, Emma! Die Ursache für eine bestimmte Wirkung mag nicht immer bekannt sein – aber messbar sollte sie wohl in jedem Fall sein. Freilich, eine bloß behauptete Wirkung braucht keine nachweisbaren Messdaten. Ich meine, wenn diese Heinis nur einen Funken Medizinerehre im Leib hätten, würden sie die angebliche Wirksamkeit ihrer Methoden und Mittel doch überprüfen wollen, mit Handkuss! Aber indem sie die Schulmedizin ablehnen, bestreiten sie zugleich jede wissenschaftliche Überprüfbarkeit und drücken sich vor jeglicher Verantwortung. Weißt du, wie viele Akademiker alleine unter meinen Bekannten so gestrickt sind? Und das sind oft dieselben, die die Herkunft jedes billigen T-Shirts penibel hinterfragen: Es könnte ja in Bangladesch von Kinderhänden hergestellt worden sein, oder die Baumwolle wurde womöglich nicht nach ökologischen Kriterien angebaut. Tolle Logik, tolle Konsequenz, nicht?“

Sie wurden durch die Stimme Billie Holidays unterbrochen.

Don’t know why, there’s no sun up in the sky, stormy weather. Frieda entschuldigte sich und angelte das Handy aus ihrer Handtasche. glenk stand auf dem Display, absichtlich kleingeschrieben. Sie konnte den Chef der Wissenschaftsabteilung nun einmal nicht ausstehen. Glenk teilte ihr mit seiner schnarrenden Stimme mit, sie möge ihre Sachen packen und morgen in aller Früh in die Redaktion kommen. Worum es ging, wolle er am Telefon nicht sagen.

„Morgen? Du weißt schon, dass ich mir für morgen freigenommen habe?“

„Doch, morgen. Punkt acht in der Redaktion. Anordnung von God himself.“

Schöne Scheiße! Wenn Glenk den Chefredakteur ins Spiel brachte, war klargestellt, dass sie es gar nicht erst mit einer Ausrede versuchen musste. Was gleichzeitig bedeutete, dass sie auf die letzte lange Nacht des Festivals, normalerweise der feuchtfröhliche Höhepunkt, verzichten musste. Ade, mein fescher Fiedler! Und ewig schade auch um das Abendkonzert mit Roland Neuwirths Extremschrammeln, ihrer Lieblingsband. Aber angetrunken und im Dunkeln konnte sie unmöglich die hundertfünfzig Kilometer von Litschau nach Wien zurückfahren.

Obwohl das Telefonat nicht länger als eine Minute gedauert hatte, kam die Diskussion mit Emma danach nicht mehr so recht in Gang. Und da die Gastgeberin ohnehin erklärt hatte, dass sie nur bis fünfzehn Uhr Zeit habe (der wöchentliche Yogakurs, leider, den dürfe sie auf keinen Fall versäumen!), erhob sich Frieda aus dem Schneidersitz. Sie küssten einander zum Abschied auf die Wangen. Dreimal, wie es sich gehörte oder wie man es ihnen jedenfalls damals auf der Interrailreise beigebracht hatte. Das Geschmuse hatte sich schon einmal herzlicher angefühlt.

Als Frieda in den Lift stieg und Emmas kleine, zarte Hand ihr ein letztes Mal durch die milchige Scheibe zuwinkte, gab es ihr einen Stich in der Brust: Et tu, Brute! Schon das Interview mit Thomas Mitterer hatte ihr gezeigt, wie selbst ausgebildete Chemiker begannen, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es war ein Sumpf, der unaufhaltsam mächtiger und tiefer wurde und jeden verschlang, der sich ihm näherte. Diese Wirkung jedenfalls war unbestritten, evident. Dafür brauchte es keine Beweise.

Irritierend nur, dass Emmas Satz auch ein paar Stunden später noch in ihr arbeitete: Wovon letztlich eine Wirkung ausgeht, können wir doch nicht allein chemisch-analytisch bestimmen.

5

Als sie die Redaktion betrat, spürte sie sofort, dass etwas passiert war. Statt der üblichen Betriebsamkeit herrschte eine gedrückte Atmosphäre. Dicke Luft trotz des weit geöffneten Fensters.

Glenk kam aus seinem Glasverschlag und versuchte, ihr die Jacke abzunehmen. Aber sie war schneller. Wenn sie etwas hasste, waren es diese patriarchalen Gesten. Außerdem passte es nicht zu Glenk, dem Grantler, wenn er sich als Gentleman aufspielte. Höchstens wie die Faust aufs Auge.

„Kommen S’, wir gehen rauf“, brummte er und stapfte los, ohne auf ihre Reaktion zu warten. Sie trottete hinter ihm her. Fillinger logierte im vierten Stock, und der Lift war wieder einmal außer Betrieb. Vermutlich ließ ihn Fillinger absichtlich nicht reparieren, weil er dadurch zu ein bisschen Bewegung genötigt wurde. Was ihm auch durchaus nicht schadete.

Das Büro des Chefredakteurs war spartanisch eingerichtet. Nur ein Foto seiner Familie im Holzrahmen zierte den Schreibtisch, sonst fand sich im ganzen Raum nichts Persönliches. Das Berufliche und das Private trennen, so lautete schließlich sein Credo. Eines von vielen.

„Sie werden gleich verstehen, warum wir Sie auf die Schnelle zurückholen mussten“, sagte Fillinger. Er gab sich gar nicht erst die Mühe, sie zu begrüßen. „Tja, es hat leider einen schlimmen Vorfall gegeben. Einen sehr schlimmen.“ Er räusperte sich. „Glenk, sind Sie bitte so gut und klären Sie Frau Prohaska auf?“

In Friedas Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Was zum Teufel hatte es zu bedeuten, wenn Fillinger von schlimm sprach? War es nun so weit, würde man ihr endgültig den Laufpass geben? Hatte Dr. Weinzierl sich über sie beschwert, weil sie bei ihrem Besuch in der Klinik ein Fläschchen Öl hatte mitgehen lassen, um es chemisch analysieren zu lassen? Ein Diebstahl, der nicht nur unethisch, sondern auch umsonst gewesen war, weil ihr die Phiole im Suff schlicht und ergreifend aus der Hand gerutscht war und sich ihr Inhalt auf den Parkettboden der Pension Nachtruh ergossen hatte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ihre etwas eigentümlichen Recherchemethoden Probleme nach sich zogen. Das letzte Mal hatte die größte Tageszeitung des Landes gedroht, opinion zu klagen, falls man es wagen würde, die unter Vorspiegelung einer falschen Identität erworbenen Kenntnisse über die finanziellen Machenschaften des mächtigen Käseblatts zu veröffentlichen, vor dem bis hin zum Kanzler alle den Schwanz einzogen. Okay, ihre Methode war nicht eben neu gewesen, andere waren damit schon berühmt geworden. Aber es machte nun einmal einen gewaltigen Unterschied, ob man Wallraff oder Prohaska hieß. Fillinger hatte sie damals mächtig zusammengeschissen und ihr offen mit Kündigung gedroht. Die Recherchearbeit von drei Monaten durfte sie unter „außer Spesen nichts gewesen“ verbuchen. Seither war es ihr nicht mehr gelungen, mit ihren Geschichten auf die Titelseite zu kommen. Das war weder für die Geldbörse noch für das journalistische Ego gut.

„Bernd ist tot“, sagte Glenk und sah wie immer haarscharf an ihr vorbei. Aber etwas war anders. Wenn sie sich nicht irrte, hatte ein Wangenmuskel des Wissenschaftsredakteurs kurz gezuckt. So viel an Regung hatte sie bei ihm noch nie erlebt.

„Bernd? Bernd Lussnig?“

„Ja. Wir haben es gestern Abend gefaxt bekommen, von der österreichischen Botschaft aus Delhi. Es war wohl ein Unfall. Ein tragischer Verkehrsunfall.“

Sie war vollkommen perplex. Bernd und ein Verkehrsunfall, das war einfach denkunmöglich! Wenn ein harter Hund wie Bernd denn tatsächlich einmal ins Gras beißen sollte, dann, weil ihn ein Terrorkommando irgendwo im arabischen Raum entführte und vor laufender Videokamera hinrichtete oder weil eine verirrte Kugel ihn erwischte. Es gab wahrlich genügend Schlachtfelder auf dieser Welt, wo sich für einen wie ihn eine Gelegenheit dazu geboten hätte. Aber ein Verkehrsunfall … eine witzlose Ironie der Geschichte, oder was?

„Wann … wo … wie ist es passiert?“

Sie spürte sofort, wie nullwertig diese Reaktion war. Als ob die klassischen W-Fragen einen in einer solchen Situation nur um einen Millimeter weiterbrächten. Außerdem registrierte sie, wie plötzlich eine gewisse Drüse aktiv wurde. Jetzt fang bloß nicht an zu heulen, ermahnte sie sich. Das Private und das Berufliche schön hübsch trennen, Frieda! Doch selbst der, von dem diese Devise stammte, schaute im Moment ziemlich fertig drein, raffte sich dann aber doch zu einer Antwort auf. Reden war vielleicht noch das beste Mittel, um den Kloß im Hals loszuwerden.

„In Pondicherry, Südostindien“, sagte Fillinger. „Er war zu Fuß unterwegs, als er überfahren wurde. Es muss schon vor mehreren Tagen passiert sein. Aber bis die Botschaft davon erfahren hat …“

„Ich dachte, Bernd sei in Kerala? Er wollte doch dort diverse Ayurvedaresorts und Produktionsstätten besuchen, oder?“

„Das hatte er vor, ja. Aber in letzter Minute hat er seinen Flug nach Trivandrum gecancelt und stattdessen einen nach Chennai gebucht. Von dort hat er sich allerdings nie gemeldet. Na ja, kennst ja seine Art.“ Sein Wechsel vom Sie zum Du fiel Fillinger wohl selbst nicht auf.

Ja, sie kannte Bernds Art. Nur die Art, wohlgemerkt, nicht den Menschen. In einer einzigen gemeinsamen Nacht lernte man einen Mann nicht kennen. Schon gar nicht einen wie Bernd Lussnig.

Er war ein Freak gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Ein genialisch angehauchter Grenzgänger mit mehr Macken, als erlaubt. Aber er hatte es immer geschafft, damit durchzukommen. Das unterschied ihn ganz gewaltig von den meisten, die sie kannte. Insbesondere von ihr selbst.

Da war zum Beispiel Bernds Angewohnheit, alles kleinzuschreiben. Auf die Logik der jeweils gerade gültigen Groß- und Kleinschreibnorm, die irgendwelche Rechtschreibpäpste als Dogmen verordneten, wolle er, wie er verkündete, sich gar nicht erst einlassen. „Wenn sogar der Name unserer geliebten Wochenzeitschrift kleingeschrieben wird“, blödelte er, „kann ich mich doch nicht durch die Verwendung von Großbuchstaben darüber erheben. Das wäre ja fast so etwas wie Hybris.“

Ob seine konsequente Kleinschreibung damit zusammenhing, dass er orthografisch schlichtweg eine gröbere Lücke hatte, oder ob es sich nur um einen seiner Spleens handelte, wusste niemand in der Redaktion. Und so, wie die Dinge lagen, würde das auch künftig nie jemand herausfinden. Aber egal, ob Defizit oder Spleen: Bernd hatte sich bei opinion eine Position erschrieben, aufgrund derer ihm diese Eigenheit von Fillinger nachgesehen wurde, wie so manch andere auch. Vor Drucklegung ließ man halt einen der frisch von der Uni gekommenen Volontäre, die sonst zu nichts zu gebrauchen waren, Bernds Texte orthografisch standardisieren. Im Trockendock überholen, wie Fillinger es nannte. Es gab bedeutend Schlimmeres, als die mangelhafte Rechtschreibung eines Mitarbeiters sanieren zu müssen. Am Inhalt von Bernds Beiträgen war jedenfalls nie etwas auszusetzen. Er, der meistzitierte Kampfgockel von opinion, dessen Artikel auch schon mal international Aufsehen erregten, durfte sich Privilegien herausnehmen, an die andere, vor allem freie Mitarbeiter wie Frieda, die nach Seiten pro Heft bezahlt wurden, nicht einmal zu denken wagten.

„Wie weit bist du eigentlich mit deinen Recherchen bei den hiesigen Kliniken?“, fragte Glenk.

Ein ziemlich brüsker Themenwechsel, wie Frieda fand. Typisch, dass der alte Unsympathler nicht einmal angesichts der spürbaren Präsenz des Todes einen Hauch Sensibilität an den Tag legte. Wo keine Erde ist, kann nichts wachsen, wie ein lettisches Sprichwort besagte. Oder war es ein litauisches? Egal: Dass diese ehemalige Binsenweisheit zumindest in der Landwirtschaft nicht mehr zutraf, bewiesen Tausende Gewächshäuser in Holland und Andalusien, wo Tomaten ohne einen Krümel Erde Kindskopfgröße erreichten. Aber es gab doch so etwas wie die metaphorische Wahrheit. Eine Wahrheit, die nicht von den Gesetzen der Natur beziehungsweise deren Pervertierung abhängig war. Wenn man so wollte, zeigte ja bereits der Geschmacksverlust bei dem erdfrei produzierten Gemüse, dass der Spruch in einem höheren Sinne immer noch stimmte.

In Friedas Augen hatte Glenk die besten Chancen, bei der Wahl zum Widerling des Jahrhunderts den ersten Platz zu erobern. Was dann zu einem Problem werden konnte, wenn man von einem wie ihm abhängig war. Wenn dieser Mensch darüber zu entscheiden hatte, ob sie genügend verdiente, um sich einen sieben Jahre alten Havana Club leisten zu können. Oder nur einen dreijährigen.

Entsprechend vorsichtig fiel ihre Antwort aus: „Na ja, in der Adanger Klinik habe ich auf Granit gebissen, aber mit den sonstigen Gesprächen lässt sich schon etwas anfangen. Meiner Meinung nach hat dieser Dr. Weinzierl ordentlich Dreck am Stecken.“

„Aber handfeste Beweise, dass da etwas aus dem Ruder gelaufen ist, haben wir keine?“

Aus dem Ruder gelaufen? Ihrer bescheidenen Meinung nach war da nie etwas im Ruder gelaufen – oder wie lautete der richtige Ausdruck dafür, wenn ein durchgeknallter Arzt, der von sich behauptete, kraft seiner transzendentalen Meditationskräfte sogar fliegen zu können, die Leute nach Strich und Faden ausnahm? Nur damit sie kränker aus seiner famosen Klinik heimkehrten, als sie diese betreten hatten? So wie Lotte Prinz und etliche andere. Jene Geschädigten, die, wenn frau ehrlich sein wollte, ihr leider allesamt nicht rasend viele hard facts anvertraut hatten. Material für eine Coverstory sah jedenfalls anders aus.

Fillinger beendete Glenks Verhör, indem er die Klappe seines Wandschranks öffnete und eine Flasche Hennessy XO sowie drei bauchige Gläser hervorzauberte. Beim Einschenken zitterte seine Hand.

„Lasst uns einen in Gedenken an Bernd heben“, sagte der Chefredakteur. „So einen wie ihn sieht dieses Haus nicht wieder.“

Er reichte Glenk und Frieda die üppig gefüllten Gläser.

„Auf Bernd.“

„Auf Bernd“, lautete das Echo. Selten war man in der obersten Etage von opinion so einer Meinung gewesen.

Sie kippten die Köpfe nach hinten, und der Cognac beruhigte ein wenig die entnervten Hirnwindungen.

„Lussnig war unser bestes Pferd im Stall“, sagte Fillinger und schenkte gleich noch einmal nach.

Frieda versuchte sich vorzustellen, wie Bernd diese Würdigung kommentiert hätte. Mit einem ihr superlativsüchtigen Arschlöcher! vielleicht oder Pferde gehören nicht in einen Stall, sie gehören aufs freie Land. Nach dem zweiten Glas begann sich langsam wieder eine vertraute Wärme in ihrem Körper auszubreiten.

„Ohne Bernds Anteil, ohne die internationale Dimension, gibt diese Ayurvedageschichte natürlich nicht mehr viel her“, schnarrte Glenk unvermittelt.

Mit einem Schlag war es vorbei mit der hübschen Wärme. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, Glenks Feststellung war faktisch wenig entgegenzuhalten. Sollte sie darauf verweisen, dass sie zu dem amerikanischen Verfasser der Schwermetallstudie auf Bernds Wunsch hin Kontakt aufgenommen hatte? Aber selbst dabei war doch letztlich nur wenig herausgekommen. Weniger als wenig, genau genommen. Nichts. Der Widerling hatte leider recht, so sah es aus.

„Vielleicht lässt sich ja später mit Ihrem Material etwas anfangen. Dieser Ayurvedaboom hat ja eben erst begonnen“, murmelte Fillinger. Es sollte wie ein Trost klingen, aber sie wusste es richtig einzuschätzen – als Vertröstung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Sie hatte genügend Erfahrung damit, dass ein einmal verworfenes Thema so schnell nicht mehr auf die Agenda kam.

„Ja, vielleicht“, sagte sie und bewegte sich in Richtung Tür.

„Ach, eins noch“, sagte Fillinger. Aber dann überließ er es doch Glenk, den Satz fortzusetzen.

„Schau bitte Bernds Sachen durch und sortier aus, was an seine Frau gehen soll und was in der Redaktion verbleibt.“

Sie nickte und legte die Hand auf die Türklinke. „Wann … wann ist das Begräbnis?“, fragte sie halb über die Schulter hinweg.

„Das wird so lange wie möglich hinausgeschoben. Frühestens nächsten Donnerstag.“

„Warum das?

„Erstens, weil der Leichnam noch nicht einmal überführt worden ist.“

„Und zweitens?“

„Weil die hiesige Staatsanwaltschaft eine Obduktion beantragt hat.“

„Wozu? Ich dachte, es sei ein Verkehrsunfall gewesen?“

„Schreibt jedenfalls die Botschaft. Und die beruft sich auf die Polizei von Pondicherry. Aber ich denke auch, dass es nicht schadet, das noch einmal mit unseren Mitteln zu überprüfen.“

Mit unseren Mitteln, mit ihren Mitteln … Da war sie wieder, die elende Grundsatzdiskussion, mit der sie sich die letzten Wochen hatte herumschlagen müssen. Moderne westliche Methoden gegen uralte östliche. Systemwechsel, Paradigmenwechsel, wie Thomas Mitterer es nennen würde. Wie auch immer: Welche Rolle spielte das alles jetzt, wo Bernd doch tot war? Ihr Kollege und Partner, ihr heimliches Vorbild. Ja, darauf lief es wohl hinaus: auf ein posthumes Geständnis.

Sie zog die Tür hinter sich zu und stolperte die Stiege hinab. Zwischen dem dritten und zweiten Stock stützte sie den Kopf gegen die Wand.

Dann ließ sie fließen, was aus ihr herausmusste.

*

Bernd Lussnigs Schreibtisch war das reine Chaos. Sie hatte sich zwei Bananenkartons aus dem Supermarkt gegenüber besorgt und begann die Sachen in den linken oder rechten Karton zu packen, je nachdem, ob sie im Haus verbleiben oder an Bernds Frau Lili gehen sollten. In den meisten Fällen war offensichtlich, was in welche Schachtel gehörte. Erst als sie in einer Schublade auf eine dicke, knallgelbe Mappe stieß, die sie schon einmal gesehen hatte, musste sie einen Augenblick überlegen. In der Mappe, das wusste sie aus ihren gemeinsamen Besprechungen, pflegte Bernd alle möglichen Unterlagen abzulegen, die zu ihrem aktuellen Thema angefallen waren. Nun ja, jetzt war es ja nicht mehr aktuell. Sie knüpfte das schwarze Stoffband auf, klappte die Flügel auseinander. Ein letzter Blick auf unsere gemeinsame Arbeit, dachte sie.

Zuoberst lag Pipers Schwermetallstudie, von der sie ebenfalls eine Kopie besaß. Die Seiten waren, wie sie überrascht feststellte, mit handschriftlichen Anmerkungen vollgesudelt. Und das, obwohl Bernd vorgeschlagen hatte, dass sie die Studie übernehmen und das Interview mit dem Verfasser machen sollte. Dennoch hatte auch er sich offenbar intensiv damit befasst. Was ließ sich daraus folgern? Dass er, der alte Kontrollfreak, ihr zu wenig vertraute? Oder, umgekehrt, dass er Mitleid mit ihr gehabt hatte, weil sie bei ihren Recherchen in der österreichischen Provinz herumlurchen musste, während er sich in exotische Gefilde begab? Hatte er ihr deshalb wenigstens die American connection überlassen?

Unter der Studie fand sich ein Sammelsurium an Notizzetteln und Adressen. Ein Zettel im Format einer Eintrittskarte fiel zu Boden. Sie hob ihn auf. Es war tatsächlich eine Kinokarte. Der Filmtitel, der an diesem Tag im Cine Center am Fleischmarkt gelaufen war, war nicht mehr zu entziffern, wohl aber das Datum: 8. Juni 2012. Wenn sie sich nicht irrte, war Bernd genau zwei Tage später abgeflogen. Nach Chennai anstatt nach Trivandrum.

Sie drehte den Zettel nachdenklich zwischen ihren Fingern. Erst jetzt bemerkte sie den handschriftlichen Vermerk auf der Rückseite. Dass er von Bernd stammte, war eindeutig – alle Buchstaben waren kleingeschrieben und schwer zu entziffern. Vielleicht die letzten Schriftzeichen, die sie von ihm zu Gesicht bekommen würde.

flug umbuchen!chapkk, auroville

Sie steckte die Kinokarte in die Brusttasche ihrer Jeansjacke. Dann band sie die gelbe Mappe wieder zusammen und warf sie in den rechten, für Lili bestimmten Karton. Für Frieda war das Thema gestorben, und niemand sonst in der Redaktion würde es sich antun, es noch einmal aufzurühren. Alleine die Zeit, die sie mit der Lektüre von Studien und Fachbüchern verbracht hatte … Und all die unbezahlten Stunden, die für sinnlose Diskussionen, wie für jene mit Emma, draufgegangen waren … Selbst wenn daraus jemals ein ordentlicher Artikel geworden wäre: Der Stundenlohn dafür hätte sich nie und nimmer gerechnet!

Sie blickte auf die beiden Bananenschachteln hinab. Die mit den für Bernds Witwe bestimmten Sachen war nur halb voll. Die gelbe Mappe stach daraus hervor wie eine blühende Sonnenblume aus einer Müllhalde.

„Nein“, murmelte sie plötzlich. Holte die Flügelmappe wieder aus der Schachtel und steckte sie in ihre Handtasche. Sie würde die Unterlagen sicher bald wegwerfen. Aber irgendwie, sagte ihr ein Bauchgefühl, war es dafür noch nicht an der Zeit.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
374 s. 8 illüstrasyon
ISBN:
9783990403105
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