Kitabı oku: «Gesundes Gift», sayfa 5

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E-Mail-Verkehr mit Dr. Richard Piper, Boston

Von: fpro@gmx.at

Gesendet: Freitag, 22. Juni 2012 09 : 11

An: r.piper@bmc.org

Betreff: Anfrage

Sehr geehrter Dr. Piper,

mein Name ist Frieda Prohaska, ich bin Journalistin bei der österreichischen Wochenzeitschrift opinion. Zusammen mit meinem Kollegen Bernd Lussnig arbeite ich zurzeit an einem umfassenden Bericht über Ayurveda. In diesem Zusammenhang sind wir auf die Studie gestoßen, die Sie letztes Jahr in JAMA publiziert haben und in welcher Sie massive Grenzwertüberschreitungen bei Quecksilber, Blei und Arsen in vielen via Internet erhältlichen Ayurvedaprodukten nachgewiesen haben.

Ich würde Sie ersuchen, mir in diesem Zusammenhang einige Fragen zu beantworten. Gerne rufe ich Sie in Boston an, ein Telefonat via Skype wäre vielleicht am einfachsten. Ich kann Ihnen für ein solches Hintergrundgespräch kein Honorar in Aussicht stellen, eine pauschale Aufwandsentschädigung nach dem bei Ihnen üblichen Stundensatz können Sie uns aber gerne verrechnen. Teilen Sie mir bitte mit, ob Sie dazu bereit wären und in welcher Form Sie das Gespräch abwickeln möchten. Natürlich wäre es auch möglich, unsere Fragen per Mail zu beantworten.

Mit besten Grüßen aus Wien

Frieda Prohaska

Von: r.piper@bmc.org

Gesendet: Dienstag, 31. Juli 2012 14 : 35

An: fpro@gmx.at

Betreff: Re: Anfrage

Liebe Frau Prohaska,

entschuldigen Sie meine späte Antwort, aber ich stecke zurzeit über beide Ohren in einem weiteren Forschungsprojekt zu eben jenem Thema, an dem Sie Ihr journalistisches Interesse bekundet haben.

Grundsätzlich bin ich zu einer Stellungnahme bereit, bitte Sie aber, mir Ihre Fragen auf schriftlichem Wege vorzulegen. Ich bin kein großer Redner und ziehe es vor, meine Meinung schriftlich zu kommunizieren. So ist auch eher gewährleistet, nicht falsch verstanden oder zitiert zu werden.

Mit freundlichen Grüßen

Richard Piper

Von: fpro@gmx.at

Gesendet: Mittwoch, 1. August 2012 08 : 46

An: r.piper@bmc.org

Betreff: AW: Re: Anfrage

Sehr geehrter Dr. Piper,

herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft zur Kooperation und bereits im Vorhinein besten Dank für Ihre Mühe!

Hier also meine vier Fragen:

1. Ein von Ayurvedavertretern vorgebrachtes Argument gegen Ihre Studie lautet, dass die bloße Anwesenheit von Schwermetallen in ayurvedischen Produkten nichts darüber aussage, ob diese in gebundener oder löslicher Form vorliegen. Dr. K. Neeravan aus Mumbai kritisiert in seinem neuesten Buch insbesondere, dass in Untersuchungen wie Ihrer die ayurvedische Kunst der Reinigung toxischer Metalle (Shodana) und ihre Überführung in einen nicht toxischen Zustand (Bhasma) in keiner Weise berücksichtigt werde. Er unterstellt Ihnen sogar „typisch westliche Arroganz”. Was halten Sie von dieser Kritik?

2. Wie erklären Sie sich, dass angesichts der weltweiten Verwendung von ayurvedischen Substanzen nur so wenige Fälle von Quecksilber-, Blei- oder Arsenvergiftung bekannt sind, obwohl laut Ihrer Studie doch unzählige Menschen mit diesen schwermetallhaltigen Produkten in Berührung gekommen sein müssen?

3. Lassen die Ergebnisse Ihrer Studie den Schluss zu, dass auch jene Produkte, die in Ayurvedakliniken in Europa oder sonst wo im Westen Verwendung finden, für den Konsumenten gefährlich sind? Oder gehen Sie davon aus, dass ayurvedische Präparate aufgrund der jüngsten, im indischen Parlament beschlossenen Gesetze künftig nicht bedenklich für den Konsumenten sind?

4. Werden Sie sich als Wissenschaftler weiterhin in dieser Sache engagieren? Und welche sind Ihre nächsten Projekte?

Mit freundlichen Grüßen

Frieda Prohaska

Von: r.piper@bmc.org

Gesendet: Montag, 6. August 2012 09 : 14

An: fpro@gmx.at

Betreff: AW: AW: Re: Anfrage

Liebe Frau Prohaska,

in der gebotenen Kürze meine Kommentare zu Ihren vier Fragen. ad 1: Auf die Polemik von der „westlichen Arroganz” möchte ich mich gar nicht erst einlassen. Ich kann nur konstatieren: Was das Schwermetall Blei betrifft, das in den von uns analysierten Produkten ja die massivste Grenzwertüberschreitung aufwies, gibt es keine nicht toxischen Verbindungen! Wir haben zudem in zusätzlichen Untersuchungen nachgewiesen, dass Blei, wie es in dem untersuchten Sample vorlag, vom menschlichen Organismus sehr wohl absorbiert wird. Zahlreiche klinische Berichte von Bleivergiftungen nach Einnahme der von uns untersuchten Präparate bestätigen dies.

Das Argument, dass es sich bei dem nach den traditionellen ayurvedischen Rezepturen bearbeiteten Blei um eine andersartige, nicht toxisch wirksame Form von Blei (das ominöse Bhasma) handle, wurde nach meiner Kenntnis noch nie einer physikalisch-chemischen Überprüfung nach wissenschaftlich anerkannten Standards unterzogen. Dies wäre aber die längst fällige Bringschuld der Ayurvedazunft. Meines Wissens gibt es bislang nur einige Untersuchungen an Tieren, bei denen nach Verabreichung der in Frage stehenden Substanzen nicht einmal der Bleigehalt im Blut – das wesentlichste Kriterium für eine allfällige Bleivergiftung! – gemessen wurde.

Solange es also keine gesicherten Belege für die Ungefährlichkeit schwermetallbelasteter Rasa-shastra-Produkte gibt, bleibe ich bei meiner Meinung, dass es sich bei der angeblichen „Reinigung” von Schwermetallen um alchemistischen Glauben ohne jede wissenschaftliche Basis handelt.

ad 2: Mein Argument lautet, dass die Anzahl der uns bekannten Vergiftungsfälle nicht repräsentativ für die faktische Zahl der Betroffenen ist. Es ist allgemein bekannt, dass Fallberichte von negativen Auswirkungen medizinischer Produkte nur einen geringen Prozentsatz der tatsächlichen Fälle ausmachen – und das gilt, so nebenbei, für schulmedizinische Produkte ebenso wie für jene aus dem alternativmedizinischen Bereich.

Was im Speziellen die geringe Anzahl von dokumentierten Bleivergiftungen in Indien anlangt, gibt es dafür mehrere Erklärungen: Erstens sind die Symptome von Bleivergiftungen wenig spezifisch (Bauchschmerzen, Müdigkeit aufgrund von Anämie, Verstopfung etc.). Zweitens ist bei indischen Ärzten oft gar nicht das Bewusstsein vorhanden, dass es sich bei solchen Symptomen um die Folge einer Bleivergiftung handeln könnte. Und drittens ist die für eine richtige Diagnosestellung erforderliche Bluttestung in Indien wenig verbreitet bzw. der Masse der Bevölkerung nicht zugänglich. ad 3: Zur Präzisierung: Die indische Gesetzeslage hat sich nur in der Hinsicht geändert, dass jetzt – wenigstens theoretisch – jene ayurvedischen Produkte, die für den Export bestimmt sind, untersucht werden müssen. Ob allerdings die Kontrolle der Exportware auf ihren Schwermetallgehalt hin tatsächlich rigoros und zu hundert Prozent erfolgt, kann ich nicht beurteilen.

Für die in Indien selbst verwendeten Substanzen, und diese machen angesichts der Verbreitung von Ayurveda auf dem Subkontinent naturgemäß die große Masse aus, besteht jedenfalls nach wie vor keine Kontrollpflicht.

ad 4: Das habe ich in der Tat vor. Eine neue, noch deutlich umfassendere Studie als die Ihnen bekannte ist bereits in Vorbereitung, Details dazu unterliegen noch der Geheimhaltung. Außerdem wurde ich zu einem interdisziplinären Kongress eingeladen, der im nächsten Frühjahr in Indien stattfinden soll und bei dem ich meine Position sehr nachdrücklich zu vertreten gedenke. Abschließend darf ich Sie ersuchen, mir vor Veröffentlichung Ihres Artikels diesen in beglaubigter Übersetzung zukommen zu lassen, um von mir die Freigabe jener Passagen einzuholen, in denen ich zitiert werde. Gerade weil dieses Thema auch in Fachkreisen sehr kontrovers behandelt wird und emotional befrachtet ist, kann ein falsch wiedergegebenes Wort bereits heftiges Feuer entfachen. Sie werden verstehen, dass ich mich dagegen absichern möchte.

Grüße aus Boston

Richard Piper

6

Weil er noch genügend Zeit bis zum vereinbarten Termin beim Bunker Hill Monument hatte, nahm Richard Piper den Umweg über die Commonwealth Avenue in Kauf, um seinem Kollegen Charles Boyd im Department of Chemistry persönlich die heiklen Unterlagen zu überbringen. Niemand sollte erfahren, an welcher Studie sein Team derzeit arbeitete, und Charles, der Laborleiter im Department, würde auf jeden Fall dichthalten. Was man von anderen Leuten in Pipers beruflichem Umfeld nicht immer behaupten konnte. Die plauderten, karrieregeil, wie so mancher und vor allem manche war, schnell einmal aus, was man unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit an sie weitergegeben hatte. Natürlich dachte er jetzt nicht an Bridget, die sensationell vorderlastige Bridget Kacowsky, von der man sagte, dass sie sich auch schon mal mit dem einen oder anderen Professor in die Horizontale begab, wenn sie sich dafür in der Vertikalen das Überspringen von mindestens einer Sprosse auf der inneruniversitären Karriereleiter erhoffte. In jedem Fall war es angesichts des unerklärlichen Datenschwunds, den der Uniserver des Öfteren zu verzeichnen hatte, vorzuziehen, die Unterlagen in ein schlichtes graues Kuvert zu stecken und sie persönlich zuzustellen, anstatt sie einzuscannen und zu mailen.

Eine Hand wäscht die andere, dachte Piper. Ein Prinzip, so alt wie die Menschheit. Du hast Charles an der Highschool geholfen, dass er seinen Abschluss in Englisch geschafft hat. Jetzt darf er wieder einmal etwas für dich tun. Soll einen ja erleichtern, wenn man Schulden abarbeiten kann.

Aber es ging nicht nur darum, dass Charles ihm gegenüber verpflichtet war. Auch ganz grundsätzlich schwor Piper darauf, chemische Analysen, welche nun einmal den meisten seiner wissenschaftlichen Arbeiten zugrunde lagen, nicht im eigenen Haus durchführen zu lassen. Zwar gehörte auch das Department of Chemistry derselben Universität an wie das Medical Center, aber es machte dennoch einen großen Unterschied, ob die Laboruntersuchungen vor Ort oder unter Charles Boyds Patronanz stattfanden. Schon, um sich gegen allfällige spätere Vorwürfe absichern zu können, welche meist darauf abzielten, die Objektivität irgendwelcher Mitarbeiter oder Verfahrensweisen anzuzweifeln. Und in der Tat, wer wusste nicht, wie schwach, wie anfällig für Selbstbetrug der menschliche Geist war: Immer wieder kam es vor, dass die subjektive Erwartung des an einer Studie Beteiligten selbst die ausgeklügeltsten Analysemethoden und mithin deren Ergebnisse zu torpedieren vermochte. Der Mensch war immer die Sollbruchstelle. Auslagerung lautete deshalb Pipers Zauberwort. Und mochte Charles Boyd an der Highschool auch nicht ein As gewesen sein, was amerikanische Literatur betraf – in seinem Fachgebiet, der analytischen Chemie, war er eine Koryphäe.

Piper parkte seinen Wagen vor dem Institutsgebäude, schnappte das Kuvert und ging gemessenen Schrittes über den großen Innenhof hinüber in den Trakt, wo sich Charles’ Büro befand. Boyd würde über seinen Anblick nicht sonderlich erfreut sein, mutmaßte er. Denn wann immer er bei ihm auftauchte, roch es nach Arbeit.

Doch er hatte sich geirrt. Boyd begrüßte ihn fast überschwänglich, und da der ehemalige Klassenkamerad nie ein Talent zum Schauspielern gehabt hatte, war anzunehmen, dass er es mit seiner Herzlichkeit ehrlich meinte.

„Richard Piper!“, rief Boyd, umarmte ihn und schlug ihm dazu noch kräftig auf die Schulter. „Wenn das keine Freude ist, dich wieder einmal zu sehen, alter Kumpel! Und eine Ehre, bei Gott. Aber es ist ja kein Wunder, dass du dich nicht mehr mit dem einfachen Personal abgibst – wenn man zu einer internationalen Größe geworden ist …“

„Hör auf, Charles“, lachte Piper. „Du übertreibst maßlos.“

Boyd mimte den Entrüsteten: „Ich und übertreiben? Von wegen! Mein Freund, der Scheffel, unter den du dein Licht stellen könntest, wurde noch nicht konstruiert. Der Name Piper wird nicht nur im JAMA pausenlos zitiert – ich habe ihn in der New York Times ebenso gefunden wie in der Indian Times.“

„Das ist doch längst ein alter Hut, mein Bester. Okay, unsere Studie hat seinerzeit ein paar Wellen geschlagen, aber …“

„Ein paar Wellen, von wegen!“, unterbrach ihn Boyd. „Die ganze verdammte FDA hat ihren Kurs deswegen geändert. Und wenn ich nicht irre, haben sie in Indien Panik gekriegt und schnell ein neues Gesetz erlassen – genau wegen deiner Studie.“

„Wegen unserer Studie, Charles. Du wirst wohl nicht den Anteil der involvierten Kollegen, zu denen ja auch du zählst, schmälern wollen.“

„Nett, dass du das sagst, Richard. Aber wir beide wissen, dass du neunzig Prozent der Arbeit geleistet hast, und dafür gebührt dir auch Ruhm und Ehre.“

„Genug der Schmeichelei. Wenn ich dir zeige, was sich in diesem Kuvert befindet, wirst du vielleicht gleich bereuen, mir so viele Blumen gestreut zu haben.“

„Hm“, brummte Boyd, „ich hoffe tatsächlich, dass du nicht schon wieder einen Job für mich hast. Wir sind bis oben hin voll mit Aufträgen. Außer …“ Er grinste listig, fast ein wenig verschlagen. „Außer du hast diesmal etwas für unser Department auf die Seite legen können.“

Sie prusteten gleichzeitig los. Die Ironie dieser Überlegung war zu offensichtlich, denn die Budgetkürzungen machten auch vor Piper nicht halt. Da konnte seine letzte Studie noch so erfolgreich gewesen sein.

„Schau dir die Unterlagen einfach mal übers Wochenende an und sag mir, ob du das hinkriegen würdest“, sagte Piper, nun wieder ganz ernst. „Ich verspreche dir auch, dass dein Name prominent vorkommen wird. Oh, und es erübrigt sich natürlich hinzuzufügen, dass …“

„Dass ich niemandem gegenüber ein Sterbenswörtchen erwähnen darf“, ergänzte Boyd. „Schon verstanden, Richard. Wozu hat man alte Freunde.“

„In dem Fall: Danke, dass du dich damit befassen willst.“

„Befassen heißt nicht, dass ich es auch machen werde.“

„Okay, Charles. Wir werden sehen.“

Jetzt war er es, der dem anderen auf die Schulter klopfte.

„Du weißt, ich vertraue auf dich. Nur auf dich. Du bist einfach unser bester Mann. Was sage ich: der Beste in ganz Massachusetts.“

„Und du der falscheste Hund unter der Sonne“, rief Boyd und warf die Arme in die Höhe. „Weiche, Satan!“

Mit der Hand bereits auf der Türklinke drehte Piper sich noch einmal um: „Was ist der Unterschied zwischen einem amerikanischen und einem iranischen Universitätsprofessor, Charles?“

„Du wirst es mir gleich sagen“, seufzte Boyd.

„Der iranische bekommt mehr Geld von der CIA.“

Boyd lachte, wie es sich gehörte. Ein kurzes Winken und die Tür schloss sich hinter Piper. Aus Boyds Büro war ein seltsames Geräusch zu vernehmen. Es hörte sich an, als ob ein Gorilla sich wütend auf die Brust trommelte.

*

Als er ins Auto stieg, begann es zu tröpfeln. Piper ärgerte sich, den Wetterbericht nicht ernst genommen und dem Treffen unter freiem Himmel zugestimmt zu haben, er hatte nicht einmal einen Schirm dabei. Die Begründung für die Wahl des extravaganten Treffpunkts war ihm zwar merkwürdig vorgekommen, aber Piper war auf die Schnelle kein Gegenargument eingefallen.

„Können wir uns beim Bunker Hill Monument treffen?“, hatte der Mann mit leichtem Akzent gefragt. „Dort hat doch eine wichtige Schlacht in Ihrem Unabhängigkeitskrieg stattgefunden. Und Unabhängigkeit ist schließlich etwas vom Wichtigsten. Wer wüsste das besser als wir Inder.“

Und wir Wissenschaftler, hatte Piper im Geiste hinzugefügt und eingewilligt. Er stieg aufs Gaspedal, denn nach der Plauderei mit Charles würde es nun doch etwas knapp werden, den Termin einzuhalten. Nach der University Bridge bog er rechts in den Memorial Drive ein. Das Verkehrsaufkommen hielt sich in Grenzen, obwohl es ein Freitagabend war. Im Rückspiegel leuchtete kurz ein Regenbogen vor dem Hintergrund dunkler Wolken, ehe er bei der nächsten Abzweigung wieder aus seinem Blickwinkel verschwand. Was für ein Tag, dachte Piper, und welch seltsamer Zufall: im Verlauf einer einzigen Stunde zwei Anrufe in derselben Sache zu erhalten! Obwohl diese österreichische Journalistin ihn ja nur gebeten hatte, ihr Mail nicht zu übersehen und schnell zu beantworten, während der Inder eine persönliche Unterredung wünschte. Wenn möglich wollte er sich noch an diesem Abend mit ihm treffen, immerhin sei er extra von Indien dafür angereist. Im Kern ging es den beiden um dasselbe: um Pipers liebstes Kind, die Schwermetallstudie. Dabei war der Hype um die Studie längst wieder abgeflaut, was nur der medialen Logik entsprach: einen Tag titelseitenträchtig, am nächsten schon ein alter Hut.

Bei ihrem Erscheinen vor vier Jahren hatte Piper die internationale Aufmerksamkeit durchaus genossen. Und es war doch einiges in Bewegung gekommen: Fernsehberichte in etlichen europäischen Staaten, das Einfuhrverbot für ayurvedische Produkte in Kanada und schließlich die offizielle Warnung der Food and Drug Administration, basierend auf seinen Ergebnissen. Es folgten Entgegnungen und Proteste seitens diverser Ayurvedaverbände und sogar ein wissenschaftlicher Kongress, der sich mit dem Thema beschäftigte. Besonders stolz konnte Piper darauf sein, dass die renommiertesten indischen Ärzte eine Stalinorgel an Gegenargumenten gegen ihn in Stellung gebracht hatten, herausgegeben in einem im deutschen Springer Verlag verlegten Sammelband. Was gab es für einen Wissenschaftler Ehrenvolleres, als in einem Buch zitiert zu werden, selbst wenn man wegen seiner Forschungsergebnisse angegriffen wurde? Zumal diese Attacken nicht hatten verhindern können, dass die indische Regierung in einer Nacht-und-Nebelaktion ein Gesetz verabschiedete, in dem die Kontrolle aller ayurvedischen Präparate beschlossen wurde, welche für Export und Internethandel bestimmt waren. Das war allerdings genau der Haken dieses Gesetzes, der Schönheitsfehler, der nicht nur westlichen Wissenschaftlern auffiel: nur für den Export! Sogar namhafte indische Zeitschriften wie Frontline hatten darauf hingewiesen, dass dies doch eine einigermaßen sonderbare Optik ergebe. Wenn die aufgezeigte Gefahr so evident war, dass man sich auf höchster Ebene bemüßigt sah, ein Gesetz zu ändern – warum dann bitte nicht gleich für alle einschlägigen Produkte? Und was die praktische Kontrolle des neuen Gesetzes anging: Das war natürlich noch einmal ein eigenes Thema …

Piper war schon des Längeren nicht mehr in Charlestown gewesen, erst recht nicht mit dem eigenen Wagen, und so brauchte er eine ganze Weile, bis er endlich in der Nähe seines Ziels einen Parkplatz fand. Während des Marsches hinauf zum Denkmal erinnerte er sich, was der Mann auf seine Frage, wie er ihn erkennen sollte, geantwortet hatte: „Am Tika auf meiner Stirn. Sie wissen doch, was ein Tika ist?“

Na, selbstverständlich wusste er das, man war ja schließlich kein Kulturbanause: Das Tika oder Tilaka stand nach hinduistischer Vorstellung für das dritte Auge, den Sitz des geheimen Wissens. Wieso der Mann sich allerdings erbeten hatte, der Herr Doktor möge alleine kommen, hatte er nicht ganz verstanden. Das klang ja geradezu verschwörerisch. Doch weil der andere gleich aufgelegt hatte, war es bei der Verwunderung geblieben.

Der Regen hatte zum Glück schon wieder aufgehört. Langsam stieg Piper die Stufen zum granitenen Monument hinauf, dessen Spitze im Abendlicht orange glänzte. Auf der obersten Stufe hockte ein dunkelhäutiger Mensch, gehüllt in einen dünnen grauen Anzug. Trotz der für einen Maiabend tiefen Temperatur trug er keinen Mantel. Dumm oder abgehärtet?, fragte sich Piper. Der rote Punkt auf der Stirn des Mannes war das zweite Auffällige an ihm. Es war lange her, seit Piper das Zeichen zuletzt gesehen hatte, in Boston liefen wenige damit herum. Aber kein Zweifel, es hatte etwas, verlieh den damit Gezeichneten eine gewisse exotische Aura. Dabei wusste Piper genau, dass das Bindi für die meisten Inder längst keine spirituelle Bedeutung mehr hatte, sondern zur bloßen Dekoration verkommen war.

Als er sich ihm näherte, erhob sich der Mann. Offenkundig wusste er genau, auf wen er wartete. Sein eng sitzendes Sakko ließ erkennen, dass er über muskulöse Oberarme verfügte.

„Schön, dass Sie es sich so schnell einrichten konnten, Sir. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.“

„Piper, sehr erfreut“, sagte Piper und streckte seine Rechte aus. „Herr Nair, wenn ich nicht irre?“

„Richtig“, sagte der andere und schüttelte ihm länger als nötig die Hand. Eine Eigenart, die Piper nicht goutierte. Er sah darin weniger Herzlichkeit als Vereinnahmung. Aber vielleicht ist das ja auch nur das protestantische Erbe in mir, dachte er, eine subtile Form von Verklemmung. Vielleicht weiß ich einfach nicht mit körperlicher Nähe umzugehen.

Endlich zog der andere die Hand wieder zurück. „Ich habe Ihnen ein kleines Geschenk mitgebracht“, sagte er. „Wie man hört, lieben Sie ja indische Literatur.“

Während Piper sich fragte, woher der Mann das wissen wollte, entnahm der seiner ledernen Umhängtasche ein kleines Päckchen.

The White Tiger von Aravind Adiga. Betrachten Sie es bitte als Symbol für die Kooperation zwischen uns. Für die indisch-amerikanische Freundschaft. Der Roman stand lange Zeit auf der Bestsellerliste der New York Times.“

Ein kleines, fast scheues Lächeln umspielte die Lippen des Mannes, als er ihm das in goldenes Zellophan verpackte Präsent überreichte.

Piper hatte von dem Buch noch nie gehört. In Anbetracht der Unmenge an wissenschaftlicher Literatur, die er täglich zu durchforsten hatte, fand sich Belletristisches selten auf seiner Agenda. Der einzige indische Roman, den er gelesen hatte, war Arundhati Roys The God of Small Things gewesen. Er hatte die Geschichte als verstörend empfunden, gar zu brutal wurden darin die mörderischen Auswirkungen des Kastendenkens geschildert. Piper bedankte sich für das Geschenk und versprach wider besseres Wissen, das Buch ehebaldigst zu lesen.

„Ich kann es Ihnen wirklich nur sehr empfehlen, Sir. Ich bin kein großer Leser, aber ich habe den Weißen Tiger sehr genossen. Vielleicht, weil die darin beschriebene Geschichte meine eigene sein könnte. Jedenfalls eine, die zeigt, wie man auch in unserem Land als kleiner Mann etwas werden kann. Ähnlich wie bei Ihnen: vom Tellerwäscher zum Präsidenten. Das ist doch einer Ihrer großen Mythen, nicht wahr? Wenn es auch bei uns …“, er dachte einen Augenblick lang nach, „wenn es auch bei uns dafür vielleicht noch einer größeren Entschlossenheit bedarf als in Ihrem Land. Ich verspreche Ihnen jedenfalls, dass Sie nach der Lektüre die Mentalität indischer Unternehmer besser verstehen werden.“

Sein Lächeln passte nicht ganz zu seiner Körpersprache, fand Piper. Wie auch immer: Er hatte nicht vor, seine Zeit mit Betrachtungen über Literatur und die Mentalität der Inder zu vergeuden.

„Sie haben in unserem Telefongespräch gesagt, dass es Ihnen um meine aktuellen Forschungen geht. Und dass Sie mir diesbezüglich ein Kooperationsangebot zu machen haben.“

„Nicht ich persönlich“, entgegnete Nair. „Ich bin nur ein kleines Rädchen im großen Getriebe. Aber sind wir nicht alle auf die eine oder andere Art abhängig von höheren Mächten, Sir? Ich von meinem, Sie von Ihrem Geldgeber? Wenn Sie etwa keine Forschungsgelder aus Stiftungen oder von unternehmerischer Seite mehr erhielten, könnten Sie wissenschaftlich kaum so erfolgreich tätig sein, oder?“

Wie wahr, dachte Piper. Die Finanzierung seiner neuen Studie war noch immer nicht endgültig gesichert. Dabei befand sich die Arbeit dafür schon in einem fortgeschrittenen Stadium. Sein Besuch bei Charles war ein Beleg dafür.

„An welche Art von Kooperation haben Sie überhaupt gedacht?“, fragte er sein Gegenüber. „Am Telefon haben Sie nichts Konkretes darüber geäußert.“

„Lassen Sie uns doch ein wenig spazieren gehen, Sir. Beim Gehen kommen die Gedanken immer am besten in Fluss, finde ich.“

Ohne Pipers Antwort abzuwarten, setzte er sich in Bewegung. Sie schlenderten um das Monument herum wie zwei Touristen, die den Freedom Trail abklapperten, um am Ende zwangsläufig auf dem Monument Square zu landen. Mit dem Unterschied, dass sie beide keinen dieser Apparate dabeihatten, mit denen die sechzehn historischen Sehenswürdigkeiten auf der vier Kilometer langen Strecke von den meisten Besuchern lückenlos dokumentiert wurden. Tag für Tag die gleichen digitalen Bilder von denselben Bauten, eine millionenfache Kopie des Trivialen, des Vordergründigen. Piper hielt nichts von dieser Manie. Als ob einem dadurch irgendetwas über die Bedeutung historischer Orte vermittelt würde.

Die Sonne ging langsam unter und übergoss die Skyline von Boston mit einer graurosa Glasur. Ich sollte öfter hierherauf kommen, dachte Piper. Wieso braucht es erst die Anregung von außen, um sich den schönsten Blick über Boston zu gönnen? Plötzlich fiel ihm ein, was er schon beim Telefonat mit Nair vergessen hatte zu fragen. Oder hatte er die Frage ohnehin gestellt, und sie war nur nicht beantwortet worden?

„Wie heißt eigentlich Ihr Auftraggeber?“

Der Inder hielt seinen Blick auf den Boden geheftet. Ruhig setzte er Fuß vor Fuß, wie einer, der von Kindheit an das gleichmäßige, ausdauernde Gehen gewöhnt war. Auch seine Antwort klang ruhig und bedächtig.

„Verzeihen Sie, Sir, aber ich denke, dass es für Namen noch zu früh ist. Das mag Sie vielleicht befremden, aber bei uns geht es im Geschäftsleben etwas anders zu als bei Ihnen. Vor allem dann, wenn es sich um solch … sensitive Bereiche handelt wie in diesem Fall. Es gibt ein keralisches Sprichwort, das lautet: Ramme zuerst die Pfosten in den Boden, wenn du einen Zaun bauen willst. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Zaun aus Palmblättern oder aus Stacheldraht besteht. Hauptsache, der eigene Grund und Boden ist gesichert. Sie verstehen, Sir? Ohne solche Maßnahmen ist das schönste Haus, der größte Palast nämlich in Kürze nichts mehr wert, denn Diebe und Räuber werden sich seiner bemächtigen – ein ehernes Gesetz.“

In gewisser Weise bewunderte Piper die ausschweifende Sprache des Orients, wenn sie ihm als Wissenschaftler auch vollkommen wesensfremd war. Ein einfaches Ja oder Nein konnten diese Menschen in eine voluminöse Bildersammlung wie in jene der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht verpacken. Wenn sich Piper recht an seine Literaturklasse an der Highschool erinnerte, stammten die berühmten Erzählungen ursprünglich aus dem Indischen, ehe sie von Persern und Arabern weiterentwickelt wurden. Sinnlich, opulent, gewiss – aber im Kern war Tausendundeine Nacht nichts anderes als eine Mordsgeschichte, in der Frauen nach ihrer Liebesnacht mit dem Herrscher umgebracht werden. Bis auf jene, die durch die Kunst des spannungsreichen Erzählens das fatale Muster zu durchbrechen vermag.

„Wenn Sie mir nicht einmal den Namen Ihres Auftraggebers nennen wollen oder können, hat sich ein weiteres Gespräch wohl erledigt.“

Piper blieb stehen, doch der andere hielt seine Schritte nicht an, änderte nur die Richtung: Er begann Piper zu umkreisen.

„Halten wir uns doch nicht mit Formalitäten auf, Sir“, sagte der Mann mit leiser, beschwörender Stimme, obwohl niemand in der Nähe war, der sie hätte hören können. Oder den man im Fall des Falles um Hilfe bitten konnte. Die Art, wie der andere sich um ihn herum bewegte, bereitete Piper zunehmend Unbehagen. Wie ein Raubtier, dachte Piper. Worauf hatte er sich da nur eingelassen?

„Welche Rolle spielt ein Name, der Ihnen letzten Endes doch nichts sagen würde? Wollen wir nicht lieber über das Wesentliche reden? Darüber, was bei unserer Kooperation für Sie herausspringen könnte?“ Der Inder wackelte während seiner Fragen mehrfach mit dem Kopf. Piper wusste damit nichts anzufangen.

„Ich verhandle nicht mit Unbekannten beziehungsweise mit dem Agenten eines Unbekannten“, sagte er harsch und erschrak gleichzeitig über die ungewohnte Schärfe in der eigenen Stimme. „Ich denke, wir beenden besser unsere Unterhaltung, Mr Nair.“

Jetzt blieb auch der andere stehen. Einige Augenblicke lang blickten sie einander schweigend an. Dann lächelte der Inder wieder sein eigentümliches Lächeln. Wie ein Junge, der erstmals ein Mädchen anspricht.

„Wie haben Sie den Gott der kleinen Dinge gefunden, Sir?“, fragte er unvermittelt. „Ich gehe davon aus, dass Ihnen die Geschichte etwas zugesetzt hat, Ihren Randnotizen nach zu urteilen. Nun ja, sie ist ja auch keine leichte Kost, vor allem, wenn man nicht in Indien aufgewachsen ist.“

Piper erstarrte. Nicht einmal Mary Rose hatte diese Notizen je zu Gesicht bekommen. Seine Bücher waren für alle in der Familie tabu, erst recht für Menschen außerhalb. Weshalb er niemals welche verliehen oder eingetauscht hatte. Zu Büchern hatte er ein ausgesprochen intimes Verhältnis. In jedem einzelnen Exemplar seiner Privatbibliothek fand sich sein Exlibris, er hatte sich den Stempel bereits als Student anfertigen lassen. Und er duldete keine Zweitleser, natürlich nicht. Man überließ ja auch seine Gattin keinem anderen!

Woher also konnte Nair wissen, was er in eines seiner Bücher hineingekritzelt hatte? Piper spürte, wie ihm ein kaltes Rieseln ausgehend von den Nackenwirbeln über den Rücken lief. Und so viel war sicher: Es hatte nichts mit der langsam hereinbrechenden Nacht zu tun.

Eher hing es mit dem zusammen, was ihm vorgestern früh aufgefallen war, als er das Wohnzimmer betreten hatte, was er aber, nachdem auch Mary Rose keine Erklärung dafür gehabt hatte, als Produkt einer vorübergehenden Geistesabwesenheit abtat: Ein Stapel seiner Bücher hatte sich nicht auf dem angestammten Platz befunden.

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22 aralık 2023
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9783990403105
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