Kitabı oku: «Gesundes Gift», sayfa 3
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Gegen zehn trudelte sie am Frühstückstisch ein. Versuchte, das Lächeln von Rosa Tauner, der älteren der beiden Tauner-Schwestern, zu erwidern, die in einem blauen Dirndl am anderen Ende der Eckbank bereitstand, um ihre Frühstückswünsche aufzunehmen. Aber Frieda wusste, dass das mit dem fröhlichen Morgenlächeln ein sinnloses Unterfangen war. Ein einziger Blick in den Badezimmerspiegel hatte ihr vermittelt, wie schrecklich sie aussah. Wie mitgenommen, verbraucht. Mit solch einer Visage ließ sich beim besten Willen kein gewinnender Gesichtsausdruck generieren. Umso aufgeräumter war dafür die Hausherrin.
„Kaffee oder Tee, Fräulein Prohaska? Wir haben ganz frische Kipferl für Sie, mit Bauernbutter und unserer hausgemachten Heidelbeermarmelade dazu schmecken s’ am besten. Oder möchten S’ lieber ein weiches Ei? Sie können natürlich auch gern beides haben. Bei uns kriegen S’ ja noch echte Eier, mit einer g’sunden Farb. Nicht wie ein Chines, dem schlecht worden ist …“
Rosa Tauner kicherte über ihr Sprüchlein, das sie vermutlich schon zig Pensionsgästen erzählt hatte. Frieda lächelte mühsam zurück. Sie konnte mit dem Vergleich durchaus etwas anfangen, fühlte sie sich doch selbst wie besagter Chinese. Ihr Kopf dröhnte und im Bauch rumorte es, irgendetwas hatte sich da in den Schlingen ihrer Därme ganz gewaltig verheddert. Zweifellos hatte sie letzte Nacht ein weiteres Kapitel in ihrem privaten Rum Diary geschrieben. Im Tagebuch der großen Betäubung, wie sie es bei sich nannte. Eine Betäubung, die nun schon eine ganze Weile andauerte. Und die kurzen klaren Phasen wurden immer kürzer. Immer seltener.
Vor drei Jahren hatte es begonnen, während der paar abgefahrenen Wochen auf Kuba. Nein, natürlich hatte es nicht erst vor drei Jahren begonnen, aber in Havanna hatte sich die Betäubung materialisiert. Verschleiert, behübscht mit viel Tanz, viel Musik, kaschiert im Partytrubel, wo alle gesoffen hatten. Bacilón hieß das Zauberwort, abfeiern, was das Zeug hielt. Tanzend ins Delirium. Und zwar, das war das Edle daran, mit dem Sanktus von ganz oben. God himself war auf die Idee gekommen. Fillinger hatte gerade Grasl als Chefredakteur abgelöst, und vielleicht war seine geplante Verjüngungskur für opinion mit ein Grund dafür gewesen, dass er und nicht Glenk den Job erhalten hatte. Jedenfalls hatte Fillinger eine neue Serie ins Leben gerufen: Die rote Szene in Lateinamerika. Ein Signal an die dahinschmelzende jüngere Leserschaft, also an Studenten und alle links der SPÖ Angesiedelten, die einmal die wichtigste Zielgruppe gewesen waren – damals, als auf dem Cover noch knallrot wochenzeitschrift für politik und kultur stand und das Magazin auf Recyclingpapier produziert wurde. Mittlerweile fuhr opinion auf derselben Hochglanzschiene wie die Mitbewerber. Wie auch immer, Frieda sollte über die Musik- und Tanzszene Havannas berichten, sogar einen eigenen Fotografen hatte man ihr mitgegeben. Sie klapperten sämtliche In-Lokale vom Malecón bis hinaus zu den Playas del Este ab und vertieften sich in das grelle Ambiente. Der Havana Club, Nachfahre von Bacardi, leistete gute Dienste beim Vertiefen, über Nacht wurde der Rum zu ihrem Hauptnahrungsmittel. Un trago, y un otro, y uno más … Brannte nicht so in der Kehle wie Slibowitz oder Korn, aber die Wirkung war gleich stark. Eigentlich paradox, dachte sie, die Stärke dieses Zuckerbrands besteht darin, dich weichzumachen, zu entspannen. Dich einzulullen, würde Leo eher sagen. Und er hatte es auch gesagt, später, oft genug. Natürlich nicht bei ihrer ersten Begegnung. Da hatte er ja selbst noch mitgemacht. Er, der ungelenke Intellektuelle, hatte leicht angetrunken seine Gliedmaßen geradezu orgiastisch verrenkt, sich rumbatisiert, wie sie es scherzhaft nannten, wenn man im Tanz eins wurde mit den fetzigen Rhythmen der Bongos und Congas, mit den präzise gesetzten Riffs der Blechfraktion, alles kam, ohne Umweg über den Kopf, aus dem Bauch, aus der Hüfte heraus, zentriert noch im heftigsten Gewippe, in sich ruhend trotz Lärm und Hitze und Feuchtigkeit. Sudando, bailando … So hatte sie Leo kennengelernt: mit kreisendem Becken, mit kreisender Rumflasche. Sogar geraucht hatte er in jener Nacht: eine Cohiba, fett, aber oho. Er, der passionierte Nichtraucher, mit der besten Zigarre der Welt. Bis ihm so schlecht davon wurde, dass er für eine halbe Stunde auf dem Klo verschwand. Als er zurückkam, hatte sie schon mehr als eine halbe Flasche intus.
„Sorry, ich bin es halt nicht gewöhnt.“
Ja, er war es wirklich nicht gewöhnt und zeigte auch nicht die geringste Neigung, es sich irgendwann einmal anzugewöhnen. Weder das Rauchen noch das Saufen. Ausnahmen bestätigten bei ihm tatsächlich die Regel, so einfach war das für einen wie ihn. Zur Feier eines singulären Events, okay, aber immer im Bewusstsein: Gift bleibt Gift bleibt Gift … Es veränderte, verwandelte sich nicht schleichend, wie bei ihr, in den großen Tröster, den großen Betäuber, den old demon alcohol. Drowning my sorrows in whisky and gin. So let’s all drink to the death of a clown …
Die guten alten Kinks hatten schon davor gewarnt, sogar die Stones, wer hatte es nicht. Nur echte Suchtler konnten sich zu dem Thema gediegen äußern und glaubhaft warnen. Aber ab einem gewissen Punkt verpuffen wundersamerweise alle Warnungen, werden zu milde belächelten Phrasen. Oder du registrierst sie nicht einmal mehr. Selbst wenn in fetten Lettern auf jeder Zigarettenpackung zu lesen ist, was dir bevorsteht – vorzeitiges Altern der Haut, Lungenkrebs, ein früher Tod … Irgendwann liest sich das wie die gesetzlich vorgeschriebenen Produktangaben auf einem Tetrapak mit Gemüsesaft: Deckt den Tagesbedarf an Kalzium und Magnesium. Enthält soundso viel Milligramm Vitamin B oder E 312 oder was auch immer. Es ist einem kein Achselzucken mehr wert. Und schon gar kein Innehalten.
Un trago. Ein Schluck. Ein einziges Stamperl. Damals hatte sie noch nicht gewusst, dass trago auch Trunksucht heißen kann.
Letzte Nacht hatte sie wieder zu viel von ihrem Weichmacher geschluckt. Hatte es genossen, wie der fesche Stehgeiger sich nach seinem Auftritt um sie kümmerte. Wieder einmal hatte sich alles weich und warm angefühlt, trotz der harten Holzbänke, auf denen sie hockten. Was eindeutig dem hochprozentigen Inländerrum zu verdanken war. Dass der nicht nur von Inländern geschätzt wurde, hatten schon vor Jahren die Schweden und Norweger bewiesen. Seinetwegen machten sie auf ihrer Urlaubsfahrt in den europäischen Süden extra einen Abstecher nach Österreich. Sechzig bis achtzig Prozent Alkohol, das konnte man bis vor Kurzem in ganz Skandinavien nicht auftreiben. Dank des Spirituosenschmuggels aus den baltischen Staaten war der österreichische Inländerrum aber heute kein Thema mehr für die süchtigen Nordmänner.
Sie wusste, dass sie dem Zeug verfallen war. Längst gab sie sich nicht mehr mit Bier oder Wein ab. Dabei hatten sie in den Zelten und bei den Ständen auf dem Festivalgelände einen tadellosen Riesling und einen noch besseren Veltliner zu bieten, gut gekühlt und mit einem pfeffrigen Abgang, der sogar Leo geschmeckt hätte. Aber mit dem Wein dauerte es entschieden zu lange, auf Touren zu kommen, und speziell den Weißen hatte sie auch nie so richtig vertragen. Nicht das Quantum, das sie benötigte, um denselben Effekt einzufahren wie mit dem hochprozentigen braunen Saft. Es soll Bier- und Weintypen geben – vielleicht war sie ja ein Rumtyp? Immerhin, sie steckte die Auswirkungen des Gesöffs überraschend gut weg. Zumindest die körperlichen.
Love me tender. Das stand eingraviert auf dem Flachmann, den sie letztes Jahr auf dem Naschmarkt gekauft und seither immer dabeihatte, versteckt im inneren Reißverschlussfach ihrer Handtasche. Es fiel ihr nicht schwer, ein Schwarzteeglas unbemerkt mit Rum aufzufüllen, sobald der Pegel unter eine gewisse Marke fiel. Trotz des wohligen Gefühls und obwohl der Fiedler ein netter Kerl war, der ihr nach dem Konzert sicher auch gerne privat aufgegeigt hätte, war es nicht zu mehr gekommen als zu ein bisschen Grapschen. Er hatte sie hinauf zur Pension Nachtruh begleiten dürfen, ein schnelles Busserl auf die Wange, ein kurzes Handgemenge, als er ihr die Bluse öffnen wollte, dann war sie in ihr Zimmer gestolpert und betäubt ins Bett gefallen.
Zum Glück hatte ihr Leo letzte Weihnachten diesen Wecker geschenkt, der sie aus jedem Koma holte. Nur dank der digitalen Sirene hatte sie den Termin mit Lotte Prinz nicht verpennt. Dabei hatte sie das Arbeitsfrühstück in weiser Voraussicht erst für zehn Uhr anberaumt.
„Passt das überhaupt noch so spät?“, hatte sie Martha, die jüngere der Tauner-Schwestern, gefragt, die auch schon mindestens siebzig Jahre auf dem Buckel haben musste. Martha hatte übrigens wirklich einen ausgeprägten Buckel und stieg reichlich krumm daher. Das Leben hart an der Grenze zu Tschechien war kein Honiglecken.
„Aber natürlich passt das, Fräulein Prohaska!“, hatte Martha Tauner versichert, „bei uns gibt es keine Essenszeiten wie in den Hotels. Wir sind jederzeit für unsere Gäst’ da.“
Den beiden Damen verzieh Frieda nahezu alles. Auch, dass sie von ihnen nach all den Jahren noch mit Fräulein angeredet wurde. Seit sie 2007 auf die Pension gestoßen war, hatte sie sich keine andere Bleibe mehr gesucht, wenn sie Anfang Juli alljährlich zum Schrammelklangfestival nach Litschau kam, zurückkehrte in ihre alte Waldviertler Heimat. Rosa und Martha hatten diese drei L zu bieten, die sie auszeichneten unter allen Weibern, wie es in der Bibel hieß, vor allem unter allen Pensionsbesitzerinnen: Sie waren liebenswürdig bis zum Gehtnichtmehr, locker im Umgang und – ledig. Alte Fräuleins, wie sie selber von sich sagten, und wenn auch äußerlich gezeichnet durch Falten, gichtige Hände und verkrümmte Rücken, waren sie doch niemals grantig oder gar schrullig wie manche ihrer Schicksalsgenossinnen. Nichts weniger als bewundernswert, wie Frieda fand. Deshalb quartierte sie sich auch jedes Jahr wieder in der Pension Nachtruh ein. Der günstige Preis für das saubere Einzelzimmer – kleiner Erker und Blick auf den Herrensee inklusive – war auch kein Nachteil.
Penzdorf, ihr Penzdorf, hatte sie trotz der Nähe zu Litschau nie mehr besucht. Nicht hart wie Kruppstahl, nein, hart wie P, so sagte man bei ihnen zu Hause und meinte das eigene Dorf damit. Was auch passte, denn die meisten Penzdorfer waren hart im Nehmen und noch härter im Austeilen, beinhart bis in die Weichteile hinein. Seit Mutter tot und das Elternhaus verkauft war, hatte sie es vermieden, diesen Boden zu betreten, wo sie immerhin das Licht der Welt erblickt hatte. Aber es war zu wenig Licht in dieser Welt gewesen, viel zu wenig, und der eisige böhmische Wind war durch den dicksten Lodenjanker gepfiffen bis hinein ins Herz. Ja, Penzdorf und Prohaska – das waren zwei P, die einfach nicht zusammenpassten. Aber sie erinnerte sich noch an jeden Baum dort, an jeden einzelnen Findling. Von denen gab es auch genug in der Gegend, in dieser Hinsicht waren die Penzdorfer wirklich steinreich. Eingeklemmt zwischen drei Hügeln lag das Dorf da, mit seinen granitenen Kobel- und Wackelsteinen in den moorigen Wiesen und Kornfeldern, die den Bauern die Bewirtschaftung erschwerten. Jene gewaltigen Felsbrocken, die seit dem Rückzug der Gletscher hier herumlagen, wenn nicht, wie ein Mythos besagte, noch viel länger, nämlich seit der Teufel höchstpersönlich in einem Tobsuchtsanfall gegen Gott und die Welt mit ihnen um sich geworfen hatte.
Ihre Abneigung gegen Penzdorf hatte zum Glück nicht auf andere Waldviertler Kaffs abgefärbt, und Litschau war ihr von allen das liebste. Dieses Mal war Frieda in der einmaligen Situation, das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden zu können, indem sie den Besuch des Schrammelklangfestivals mit Recherchen und Interviews zu ihrem neuen Projekt kombinierte. Nun ja, so ganz als ihr Projekt durfte sie es wohl nicht bezeichnen, wenn sie ehrlich sein wollte. Sie spielte schließlich nur eine Nebenrolle. Denn während sie in der nördlichsten Gemeinde Österreichs hockte, durfte sich Kollege Lussnig mit den internationalen Dimensionen des Themas befassen und in Indien herumkurven. Die klassische Arbeitsteilung eben, was Männlein und Weiblein betraf, da war die sonst so furchtbar progressive Redaktion von opinion um keinen Deut besser als konservative Blätter. Wobei sie sich in diesem Fall nicht einmal darüber beschwerte. Eine Auslandsreise, das war im Moment so ziemlich das Letzte, was sie anstrebte.
*
Lotte Prinz sah nicht gut aus, ganz und gar nicht. Ihr Gesicht wirkte aufgeschwemmt, und obwohl sie sich Mühe gegeben hatte, trotz der sommerlichen Wärme Hals und Dekolleté mit einem Seidentuch zu verhüllen, konnte man dort, wo das Tuch verrutscht war, scharlachrote Stellen erkennen.
„Schön, dass Sie kommen konnten“, begrüßte Frieda sie und streckte ihre Rechte aus.
Die Frau hatte ihrem Händedruck nichts entgegenzusetzen, auch sonst wirkte sie völlig kraftlos. Eine schwere Depression, lautete Friedas schnelle Diagnose. Aber vielleicht würde ja eine jede so aussehen, die dieselbe Leidensgeschichte durchlitten hatte.
„Weiß eh nicht, ob es eine gute Idee war, mich mit Ihnen zu treffen“, sagte Lotte Prinz, nahm dann aber doch auf der Eckbank Platz. Frieda schob ihr ein frisches Gedeck hinüber.
„Darf ich Sie zu einem Brunch einladen? Hier gibt es wirklich sehr leckere Kipferl.“
„Danke, aber ich hab schon gefrühstückt, um fünf. Ich steh ja praktisch jeden Tag so früh auf. Wenn man nicht schlafen kann vor lauter Jucken …“
Als müsste sie das Gesagte noch bestätigen, kratzte sie sich ausgiebig am Hals und an den Handgelenken. Erst jetzt bemerkte Frieda den Ausschlag an beiden Unterarmen. Man durfte davon ausgehen, dass auch die verhüllten Partien ihres Körpers ähnlich aussahen.
„Wenn es Ihnen recht ist, möchte ich unser Gespräch aufnehmen“, sagte Frieda und griff nach ihrem Voicerekorder. „Natürlich würde ich das Aufgezeichnete nur anonymisiert verwenden.“
Lotte Prinz sprang auf und rammte dabei mit dem Knie das dicke Holz des Tischunterbaus.
„Auf keinen Fall“, rief sie mit schmerzverzerrtem Gesicht, „davon war nie die Rede!“
„In Ordnung, kein Problem, Frau Prinz. Es hätte mir nur erspart, mir schriftliche Notizen zu machen. Aber es ist wirklich kein Problem.“
Sie schob das Aufnahmegerät hinüber, um zu demonstrieren, dass sie nicht daran dachte, im Geheimen mitzuschneiden.
Rosa Tauner steckte die Nase zur Tür herein und fragte, ob sie etwas bringen dürfe.
„Nur einen Kamillentee, bitte“, sagte Lotte Prinz.
„Bitte sehr, bitte gleich“, sagte Rosa und verschwand wieder.
„Könnten Sie mir eingangs vielleicht erzählen, wieso Sie diese Klinik überhaupt aufgesucht haben? Bis jetzt weiß ich ja nur, dass Sie seither ziemliche Probleme haben …“
Friedas Stimme klang mitfühlend. Sie hatte von Lotte Prinz’ Leiden durch Emma erfahren und sofort telefonisch Kontakt zu der Litschauerin aufgenommen. Nachdem Dr. Weinzierl, der Chef der Ayurvedaklinik in Adang, Friedas Bitte um ein Interview und eine Besichtigung der Klinik brüsk abgelehnt und sie faktisch hinausgeschmissen hatte, waren Gespräche mit Betroffenen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gerückt.
Lotte Prinz erklärte, dass ihr Freunde die Klinik empfohlen hätten.
„Schauen Sie, ich habe schon alles probiert, was die Schulmedizin einem bei rheumatoider Arthritis verordnet. Und das sind ziemliche Hämmer, wie Sie sich vorstellen können: Rheutrop retard zum Beispiel oder Methotrexat, das die Immunabwehr unterbinden soll. Aber die Nebenwirkungen sind bei mir meist stärker gewesen als die versprochene Wirkung. Sogar eine Kältekur hab ich schon ausprobiert, aber die hat nur kurzfristig geholfen. Das Schlimme ist, dass ich immer wieder solche Schübe kriege. Dann schwellen alle Gelenke an und ich kann keinen Finger mehr rühren ohne Schmerzen.“ Sie stöhnte, als überkäme sie gerade wieder ein Schub.
„Und dann haben Sie sich gedacht: Probier ich halt einmal was anderes. Etwas ohne diese ganzen Nebenwirkungen.“
„Genau. Also hab ich mich in Adang für eine Kur angemeldet.“
„Teuer?“
„Natürlich. Fast dreitausend Euro, für gerade einmal zehn Tage. Und die Krankenkasse zahlt keinen Cent dazu! Aber mir war schon alles wurscht. Hauptsache, es hilft, hab ich mir gedacht, und mein Mann ist losgezogen und hat unsere letzten Spareinlagen abgehoben. Mein Kurtl unterstützt mich ja, wo es nur geht.“
Frieda nickte so empathisch sie nur konnte.
„Und dann sind Sie also auf Kur gegangen?“
„Nein, zuerst musste ich daheim noch eine Entgiftung durchführen.“
„Eine Entgiftung?“
„Na ja, eine sogenannte Grundreinigung. Da gab’s eine Woche lang nichts als Reisschleim und Ghee zu futtern. Wissen Sie eh, was Ghee ist?“
Natürlich wusste Frieda das. Als Gold des Ayurveda bezeichneten wahre Fans die durch langsames Kochen von Butter gewonnene Substanz, der man eine wundersame Wirkung nachsagte.
„Als ich in die Klinik kam, hat Dr. Weinzierl gleich eine Pulsdiagnose durchgeführt, um meine energetischen Blockaden festzustellen. Dann hat er mir ein Loch in den Bauch gefragt, und nach einer halben Stunde stand fest, dass ich ein reinrassiger Pitta-Typ bin. Das kommt eher selten vor, hat er gemeint, die meisten sind eine Mischform. Na ja, und dann hat er mir halt meinen Ernährungs- und Behandlungsplan aufgeschrieben. Am nächsten Morgen ging es dann los mit den Therapien und Massagen.“
Der zarte Ansatz eines Lächelns umspielte ihre Lippen.
„Es ist ja schon witzig, was man da für Leute trifft.“
„Nämlich?“
„Wir waren nicht viele, nur elf Leute insgesamt. Aber irgendwie kam ich mir vor wie in einer anderen Welt. In zwei anderen Welten, genau genommen. Die einen waren so … wie soll ich sagen … so verlorene Hippies, denen du schon angesehen hast, dass sie irgendwie überdrüber sind. Die anderen waren eher betuchte Herrschaften. Geschäftsleute und Intellektuelle.“ Sie betonte Intellektuelle, als würde sie ein garstiges Wort verwenden. „Jedenfalls bin ich mir vorgekommen wie die einzige Normale. Wenn Sie wissen, was ich meine.“
„Natürlich“, bestärkte Frieda sie und nickte kräftig. Jetzt, wo Lotte Prinz in Fahrt gekommen war, wollte sie ihren Redefluss nicht unterbrechen.
„Zuerst hat mir die Kur auch rundum getaugt“, erklärte Lotte, „allein schon das Fasten hat meine Beschwerden gemildert, und erst recht diese Massagen mit Kräutern und Öl. Aber am dritten Tag hab ich einen Ausschlag bekommen. Erst im Gesicht und dann am ganzen Körper. Es hat höllisch gejuckt. Ich bin natürlich gleich zu Dr. Weinzierl und habe ihm gezeigt, wie ich ausschaue. Und was glauben Sie, hat er gesagt?“
„Keine Ahnung.“
„,Gratuliere!‘ ,hat er gesagt. ,Ich gratuliere Ihnen, offensichtlich hat der Ausleitungsprozess bereits begonnen.‘ ,Aber ich halte das nicht aus, Herr Doktor‘ ,habe ich gejammert, ,Sie müssen mir was verschreiben!‘ ,Das ist das Ama‘ ,hat er gesagt, ,die Schlacken. Die arbeiten sich jetzt heraus. Weil Sie halt so viele Medikamente geschluckt haben während der letzten Jahre. Da müssen wir jetzt einfach durch, Frau Prinz.‘ Wir ist gut, hab ich mir gedacht, aber probierst es halt noch einen Tag lang. In der Nacht hab ich kein Auge zugetan, und am nächsten Tag ist das Jucken so arg geworden, dass ich keine Massage mehr ausgehalten habe. Dabei hat die Therapeutin eh schon von sich aus die Kräuterbehandlung abgesetzt, als sie gesehen hat, wie ich ausgeschaut hab. Also bin ich wieder zum Doktor gepilgert. Diesmal hat er mir doch ein Rezept ausgestellt: Fenistil ist draufgestanden. In der Apotheke hat mich die Apothekerin gleich gefragt: ,Kommen S’ aus der Klinik?‘ ,Ja‘ ,sag ich, ‚wieso?‘ ,Na, da sind S’ nicht die Erste, die mit so einem Ausschlag zu uns kommt‘ ,sagt sie., Aber ich bezweifle, dass es Ihnen helfen wird. Probieren S’ lieber das.‘ Und sie gibt mir stattdessen ein homöopathisches Mittel, den Namen hab ich vergessen. ,Werden S’ sehen, das hilft‘ ,hat Sie mir versichert, ‚ich hab es schon vielen Klienten aus der Klinik gegeben.‘ Ich hab mich furchtbar gefreut und brav die Globuli geschluckt, aber der Juckreiz ist um keinen Deut besser geworden. Ich wollte ja wirklich da durch, das können Sie mir glauben, weil’s doch wichtig ist, wegen der Ausleitung und so. Aber am Ende waren meine Arme und Beine total zerkratzt, und wenn mich nur einer angegriffen hat, hab ich laut geschrien. Da hab ich meinen Kurtl angerufen und gesagt:, Kurtl, bitte komm und hol mich ab, sonst fahr ich noch aus der Haut.‘ Und das war keine bloße Redensart in dem Moment, das können S’ mir glauben! Ich hab so geflennt am Telefon, dass der Kurtl alles stehen und liegen gelassen hat und gleich ins Auto gestiegen ist. Wir sind dann nach St. Pölten hinunter ins Krankenhaus, und dort haben sie mich erst einmal ordentlich zusammengeschissen. Wie könne man nur so dumm sein und sich bei meinem Krankheitsbild das ganze Glumpert auf die Haut schmieren lassen, hat der junge Arzt in der Ambulanz gemeint. Das würde ja schon bei Gesunden oft allergische Reaktionen auslösen, weil unsereins diese Öle und Kräuter halt einfach nicht gewöhnt sei. Gar nicht zu reden davon, dass die Zusammensetzung von dem Zeug oft nicht geklärt sei und dass es in den Herkunftsländern keine Standards dafür gäbe, die eingehalten werden müssen. Das pure Gift halt., Aber der Dr. Weinzierl ist doch auch Arzt‘ ,hab ich mich verteidigt, ,ein Arzt wird mir doch nichts Schlechtes verschreiben!‘ Da hat der junge Mann nur die Augenbrauen nach oben gezogen und mir Cortison verschrieben. Schon nach einem Tag war der Ausschlag weg, komplett. Gott sei Dank, kann ich nur sagen. Sie können mir glauben: Ich war knapp davor, mir was anzutun!“
Lotte Prinz hatte sich richtig in Rage geredet und musste jetzt erst einmal gehörig durchschnaufen. Vorsichtig schlürfend nahm sie einen Schluck von dem Kamillentee, den ihr Rosa gerade mit einem aufmunternden Lächeln serviert hatte.
„Und … und haben Sie mit der Klinik noch einmal Kontakt aufgenommen?“, fragte Frieda in die Stille hinein.
„Ja, zwei Wochen später. Weil der Kurtl gemeint hat, dass wir uns das nicht gefallen lassen dürfen. Also hab ich mich hingesetzt und dem Dr. Weinzierl einen Brief geschrieben. Ganz höflich hab ich ihn gebeten, dass er mir einen Teil der Kurkosten erlassen soll, weil ich doch die Kur vorzeitig abbrechen musste, und wegen der Schmerzen.“
„Und die Antwort?“
Lotte Prinz zuckte frustriert mit der Schulter und zog ein Kuvert aus ihrer Handtasche.
„Da, lesen Sie selbst.“
Frieda überflog das Schreiben mit dem geschlungenen MAA als Briefkopf, dem Logo der Maharishi Ayurvedaklinik Adang. „Ihrem Wunsch kann leider nicht entsprochen werden“, hieß es da, und in der Begründung war zweimal von der „Selbstverantwortung des Patienten“ die Rede. Außerdem habe Frau Prinz durch ihre Unterschrift zur Kenntnis genommen, „dass ein positiver Effekt der Kur nur dann gewährleistet ist, wenn alle ärztlich verschriebenen Anwendungen die gesamte Kurdauer über konsumiert werden“. Dem habe sich Frau Prinz durch ihren Abbruch der Kur nun ja leider entzogen.
„Könnte ich davon eine Kopie haben?“, fragte Frieda.
„Wozu?“
„Vielleicht kann ich das in meinem Artikel verwenden.“
Lotte Prinz zögerte einen Augenblick.
„Nein“, sagte sie dann mit Bestimmtheit. „Es ist jetzt zwei Jahre her, was soll das noch groß bringen. Ich möchte mir keine Schwierigkeiten einhandeln. Und außerdem: Sie sehen ja selbst, wie ich beieinander bin, obwohl ich seither wieder die alten Hämmer schlucke. Oder gerade deshalb? Vielleicht war es ja doch meine Schuld. Wenn ich den Ausleitungsprozess nur durchgestanden hätte …“
Frieda seufzte. Dieses Muster kannte sie zur Genüge, Lotte Prinz war nicht die erste Geschädigte aus Weinzierls famoser Klinik, die sie interviewte. Am Ende gaben sich die ausschließlich weiblichen Opfer auch noch selbst die Schuld an ihrer Misere. Bisher war keine bereit gewesen, gegen die Klinik rechtliche Schritte zu setzen oder ihr, der Journalistin, hieb- und stichfestes Material zu überlassen. Von wegen Selbstverantwortung des Patienten! Aber so, wie sie selbst Dr. Gottfried Weinzierl erlebt hatte, konnte sich Frieda auch bestens vorstellen, dass er gegenüber schlichten Gemütern eine Autoritätsperson ersten Ranges darstellte. So einem pinkelte frau nicht ans Bein. Lieber igelte sie sich ein und nahm alle Verantwortung auf sich.
„Danke für das Hintergrundgespräch“, sagte Frieda zu Lotte Prinz, die bereits aufgestanden war und nach ihrer Jacke griff.
„Ich verspreche Ihnen, dass ich alles, was Sie mir erzählt haben, nur anonymisiert verwenden werde. Und sollten Sie Ihre Meinung noch ändern, was die Unterlagen betrifft, können Sie mich jederzeit anrufen.“
Das leidende, geschwollene Gesicht von Frau Prinz verriet ihr, dass sie sich diesbezüglich keine Hoffnung zu machen brauchte.