Kitabı oku: «Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann», sayfa 3
8. Kapitel
1918 im Oktober / Fritz Haarmann
Ich lüftete immer wieder für mehrere Stunden.
Aber es kam mir so vor, als entstünde der widerliche Leichengeruch stets neu, kaum dass ich das Fenster geschlossen hatte. Dabei war der Körper nicht mehr da.
Paul.
Er kam gern mit. War ein ansehnlicher Bursche.
Nicht so hübsch wie Friedel, aber hübsch genug allemal.
Und er tat, wonach ich mich sehnte.
Natürlich waren bei diesen Besuchen Abendessen und Frühstück Bestandteil des geschäftlichen Parts. Ich war nicht so dumm zu glauben, Paul onaniere und poliere mit mir, weil er sich nichts Schöneres vorstellen konnte.
Mein Vater hat immer behauptet, ich sei dumm. Aber das stimmt selbstverständlich nicht. Es ist wohl eher so, dass ich manchmal einfach anders denke als die anderen.
Paul ist auch nicht dumm. Er ist nur ein lieber Junge, der versucht, ohne die Gängelung seiner Eltern zu überleben. Dazu braucht er natürlich Geld. Eigenes Geld. Er ist einer von den Puppenjungen, die hinter dem Café »Kröpke« Männer aufgabeln – auch mich. Sie dienen sich erst freundlich an, manche drängen sich gar förmlich auf. Ich persönlich nehme sie gelegentlich mit. Wo sollen sie auch sonst für die Nacht unterkommen?
Aber diese Jungs muss man ständig im Auge behalten! Sieht man auch nur einmal für einen Moment zur Seite, klauen sie, was nicht angeschraubt ist!
Sie haben keine Erziehung, kennen keine Moral.
In Grunde, das muss ich mal in aller Deutlichkeit sagen, sind sie nichts wert.
Manche, wie der kleine Paul zum Beispiel, geben sich wenigstens Mühe, möchten ihre Kunden zufriedenstellen.
In der letzten Nacht hatte er sich wirklich um mich gekümmert.
Ich lag schon wach, überlegte gerade, was ich ihm zum Abschied schenken könnte.
Als es fordernd gegen die Tür hämmerte, bekam ich einen heillosen Schreck.
Klar, wer da im Flur stand. Schon wieder. Der Vater von Friedel gab keine Ruhe.
»Aufmachen! Polizei!«
Wir sahen uns an.
Paul zog geistesgegenwärtig die Decke über den Kopf und machte sich möglichst flach. Während ich selbst aus dem Bett sprang und die Tür aufsperrte, bevor das ganze Haus mitbekam, was hier vor sich ging.
»Guten Morgen, die Herren!«
Nun, die Sache würde für mich nicht straffrei ausgehen. War mir sofort klar, als der Beamte die Decke zurückschlug. Paul zählte gerade 15 Lenze.
Erst dachte ich, sie hätten nun gefunden, wonach sie suchten, doch während Paul in seine schäbigen Klamotten kroch, sahen sich die Beamten zum wiederholten Mal gründlich bei mir um.
Fanden nichts.
Hätten aber den nackten Schädel von Friedel entdecken können.
Ich wusste das natürlich. Schweißgebadet sah ich zu, wie sie in alle Ritzen guckten.
Den vom Fleisch befreiten Kopf …
Sie zogen ab, nahmen Paul mit, der nun kein Frühstück bekommen würde.
Na ja. Sie würden mir nichts Unrechtes nachweisen können. Wir hatten natürlich längst abgesprochen, was auszusagen wäre, damit wir beide auf freiem Fuß bleiben würden. Wenn jeder nur so vor sich hin wichste, war das nicht strafbar. Also … Den Schädel brachte ich nach Stöcken und beerdigte ihn in einem frischen Kindergrab. War ich ihm schuldig. Ich weiß schließlich, was sich gehört.
9. Kapitel
1924 im Juni
»Proviant!«, verkündete Frau Lamm und stellte ein gut geschnürtes Päckchen auf den Tisch.
Wuschelte im Vorbeigehen durch die Haare ihres Sohnes.
»Solltest du nicht noch zu Heidrun? Die Haare sind doch viel zu lang. Vielleicht schiebt sie dich dazwischen, dann ist es schnell erledigt. Ich könnte auch …«
»Aber nein!« Theo versuchte, die streichelnde Hand abzuschütteln. »Die bleiben so.« Er deutete auf die Verpflegung und bedankte sich artig.
»Ich habe euch einen Kuchen gebacken. Aus Rührteig. Der hält sich ein paar Tage und feuchtet nicht durch. Im schlimmsten Fall gibt’s Krümel zum Kaffee. Und Brot habe ich auch gebacken. Das reicht für die erste Zeit.«
»Und ich steuere Wurst und Käse bei!«, rief Ludwig fröhlich und trat in die Stube. Stellte ein zweites Paket auf den Tisch. »Einer meiner Onkel ist Metzger, der wollte uns gern etwas mitgeben und meine Großmutter hat den Käse rausgerückt. Den macht sie noch immer selbst. Der ist richtig gut.«
»Aber kein Harzer, oder? Sonst müsst ihr den gleich extra packen. Damit nicht alles andere auch nach Käse riecht und schmeckt.«
»Nein, keine Sorge, Frau Lamm. Der stinkt nicht. Ist nur unwahrscheinlich lecker.!«
»Habt ihr beide an warme Jacken und Pullover gedacht?«, wollte die besorgte Mutter wissen.
»Aber natürlich. Kerzen, Streichhölzer und Decken haben wir auch schon parat gelegt.«
»Seife habe ich. Und zwei Flaschen, die wir mit Wasser füllen können, falls die Leine mal nicht direkt am Weg liegt.«
Theo lachte: »Das passt niemals in unsere Tornister und die Tasche für den Träger.«
»Und wo wollt ihr schlafen?« Theos Vater saß in seinem Sessel, die Beine auf dem Schemel und musterte die beiden kritisch. »Hast du das Zelt wirklich bekommen? Ehrlich gesagt, ihr seht beide nicht aus, als wäret ihr an das Schlafen unter freiem Himmel mit Blick in Baumkronen gewohnt. Was, wenn wilde Tiere euch besuchen, wenn es tagelang regnen sollte?«
»Das Zelt habe ich, es ist ein großes Paket. Ich dachte, wir könnten den Radanhänger von Walter nehmen. Steht der noch hinten im Schuppen? Da kriegen wir eine Menge rein.« Theo war aufgesprungen.
»Nein. Da steht er nicht. Ich dachte mir schon, dass ihr den brauchen würdet. Jakob hat ihn für euch überarbeitet. Die Reifen haben Luft, die Bretter sind alle wieder fest. Rost ist auch ab. Er wartet vor der Tür auf euch.«
Tatsächlich. Jakob, der Lehrbub, stand dort, griente breit und hielt den Anhänger an der Deichsel.
»Na, nu kann sie losgehen, die große Reise. Alles fest. Die Schrauben nachgezogen, die Reifen dicht«, verkündete er nicht ohne Stolz.
»Vielen Dank, Jakob. Das ist großartig!« Die Freunde inspizierten den kleinen Holzkasten und kamen überein, dass sie ihn wechselseitig ziehen würden. Das Zelt war nicht ganz leicht – aber der Proviant würde sich selbstredend aufzehren. Alles kein Problem.
Theo schob ihn ein Stück. »Quietscht. Das macht uns verrückt, wenn wir dem stundenlang zuhören müssen.«
»Hab ich schon bemerkt«, erklärte Jakob und zog ein Fläschchen Öl aus der Tasche. »Das tröpfel ich noch drauf. Dann ist Ruhe. Aber die Flasche nehmt ihr besser mit.« Er kümmerte sich sofort darum, zog den Anhänger ein paarmal hin und her. Das Geräusch war verschwunden.
»Hier.« Damit drückte er Ludwig das Öl in die Hand. »Aber an einen sicheren Platz stellen. Wenn es ausläuft, ist eure ganze Kleidung auf ewig hin!« Dann kehrte der junge Mann in die Werkstatt zurück.
»Na, dann fangen wir gleich an mit dem Einpacken, und los geht’s!«, freute sich Ludwig und klatschte doch tatsächlich in die Hände, wie er es zu Schulzeiten schon immer getan hatte.
Theo lachte laut. »Und ich dachte, du bist schon so erwachsen!«
»Nur manchmal!«, gab der andere gutmütig zurück. »Um die Leute zu täuschen!«
Sie holten die großen Gepäckstücke, stapelten die Vorräte vorsichtig und banden das Öl in einer Ecke fest, damit es nicht umkippen konnte.
»Weißt du was?«, Ludwigs Wangen waren gerötet, seine Augen leuchteten voller Tatendrang. »Das wird der schönste Sommer unseres Lebens!«
10. Kapitel
1924 Presseclub Falkennest
»Schon wieder solch ein grausiger Fund! Diesmal gleich zwei!«
»Ja, habe ich auch gehört. Ist ein wenig unheimlich! Aber die Polizei wiegelt noch ab. Friedhofsschändung käme infrage. Oder die Köpfe von in die Leine geworfenen Typhusopfern. Na, das mag ich ja nun wirklich nicht glauben.« Hans schüttelte den Kopf. »Meines Wissens wurden die alle richtig bestattet.«
»Im Mittelalter, bei einem Pestausbruch, kam es auch zu unorthodoxen Entsorgungen der Toten«, erinnerte der Pirat die Kollegen. »Da gab es nur wenige, die freiwillig die vielen Toten zusammensammelten, um sie in Massengräber zu legen. Da mag so was schon vorgekommen sein. Aber doch nicht bei Typhus im 20. Jahrhundert!«
»Die Leute auf der ›Insel‹ reden von Mord.«
»Das tun sie schon länger. Die gruseln sich gern.«
»Aber nun ist es ihnen ernst. Manche denken, es gibt einen auf der ›Insel‹, der Jungs fängt und nach Afrika verschachert. Wenn von denen einer nicht wollte? Sich herzhaft und entschlossen gewehrt hat? Dabei zu Tode kam?« Hans legte die Stirn in dicke Falten.
»Dann kam er im Händel um, und sein Kopf landete in der Leine? Und der Rest?«, fragte der Pirat sachlich. »Warum ist der dann nicht auch angeschwemmt worden? Und wieso wurden nicht die toten Körper angeschwemmt, sondern nur halb blanke Schädel? Normalerweise findet man doch aufgetriebene Körper am Ufer, wenn jemand in der Leine treibt. Tja, Fragen über Fragen. Die uns wahrscheinlich so schnell keiner beantworten will.«
Sie prosteten sich zu.
»Na prima. Und was schreiben wir darüber? Und vor allem – wie?«
»Wie wohl? Wir stärken unsere Auflagen!«, gab der Pirat kryptisch zurück.
11. Kapitel
1924 im Juni
In der zweiten Woche des Unterwegsseins fiel Ludwig eine gewisse Unruhe an seinem Freund auf.
Als sie am Abend vor dem Zelt saßen, fasste er sich ein Herz und fragte: »Theo, hör mal! Ich merke doch schon seit einiger Zeit, dass etwas mit dir nicht stimmt. Du bist so unruhig.«
»Mit mir? Ich bin doch nicht unruhig. Warum sollte ich denn unruhig sein?«
»Das hast du schon zu Schulzeiten so gemacht!«, lachte der Freund. »Immer, wenn dir eine Frage unangenehm war, hast du sie in eine Gegenfrage umformuliert. Solange bis der andere gar nicht mehr wusste, was er ursprünglich von dir wissen wollte. Sehr clever!«
Theo stimmte in das Gelächter ein. »Nun, es ist eine Methode, die richtig gut funktioniert!«
»Bei den meisten. Aber nicht bei mir! Also was ist los?«, insistierte Ludwig.
»Ach, na ja«, druckste Theo, »ich weiß, wir haben versprochen, nicht nach Hannover zu fahren. Aber inzwischen reut mich das. Nur weil man dort ein paar Knochen in der Leine gefunden hat, muss es doch nicht gefährlich sein! Wer weiß, vielleicht sind es einfach nur Schweineknochen, die jemand entsorgt hat. Und das soll als Grund ausreichen, die Stadt ganz zu meiden? Wir könnten in ein Lichtspieltheater gehen!« Dabei sah er den Freund auffordernd an.
»Wir haben es nicht nur versprochen. Ich musste es deiner Mutter schwören! Aufpassen soll ich auf dich! Das hat sie mir aufgetragen.« Ein rascher Seitenblick enthüllte, dass sich die Miene des Freundes verhärtete. Also setzte er schnell hinzu: »Natürlich habe ich ihr gleich gesagt, dass wir beide gegenseitig aufeinander achtgeben werden. Ich sei schließlich kaum älter als du! Mütter sind eben manchmal schwierig. Aber wir müssen ohnehin in die Stadt, um die Abfahrtzeit des Zuges herauszufinden. Kein Grund, nicht bei der Gelegenheit ins Lichtspielhaus zu gehen.«
Theo nickte.
Dann rief er plötzlich, als habe es die Sätze davor gar nicht gegeben: »Oder Theater!«, breitete die Arme weit auf und ließ sich rückwärts ins Gras fallen, schloss die Augen und schwärmte: »Wenn du eine Rolle einstudierst, dann ist es, als gäbest du einen Teil deines Selbst auf und schlüpfest in die Haut, nein, in das gesamte Leben eines anderen. Erst fühlt es sich ungewohnt an. Als wären Haut und Leben an manchen Stellen zu eng, an einigen zu weit. Aber mit der Zeit spürst du, wie dein Denken und Empfinden sich völlig einschmiegen. Plötzlich rückt alles an den richtigen Platz – und es ist, als wäre es nie anders gewesen. Du wirst die Rolle! Dann stehst du auf der Bühne, die Dialoge entsprechen dir, du musst sie gar nicht auswendig hersagen. Sie ergeben sich ganz natürlich im Spiel. Es ist, als würdest du vollständig diese fremde Person. Und alles ist möglich: Bösewicht, guter Mensch, Melancholiker, Choleriker, Hexer … man kann sich in allen Charakteren mit ihren Stärken und Schwächen ausprobieren«, schwelgte er und sah dabei unendlich glücklich aus. Ludwig konnte schmerzhaft spüren, wie schwer es für Theo war, diesen Traum aufgeben zu müssen, bevor er ihn je wirklich gelebt hatte. »Doch das Wunderbarste überhaupt ist der Applaus! Es fühlt sich unbeschreiblich an. Ist mehr als jeder Orden – und doch: Er gilt nur für diesen einen Moment. Berauscht dich mehr, als Alkohol es je vermöchte!«
»Hm. Das muss wahrhaft unglaublich sein. Klingt nach magischen Momenten, Erfahrungen, die einzigartig sind. Wie oft verzichten wir doch darauf, die Seite unseres Selbst auszuleben, die uns bei anderen unbeliebt machen könnte! Weil wir gut erzogen sind, niemanden verletzen und immer Teil des Ganzen bleiben möchten, geliebt und anerkannt. Und verpassen dabei so viel. Manchmal gar das, was wir Leben nennen würden!«
Theo öffnete ein Auge und zog die dazugehörige Braue fast bis zum Haaransatz. »Aha. Bei dir?«
»Ich werde Medizin studieren, aber die Praxis meines Vaters wollte ich nie übernehmen! Jeden Tag dieselben Leute. Sie zu heilen ist nur selten eine Herausforderung. Es geht nicht um den Durchbruch in der Herzchirurgie, sondern um das Pinseln von Hautpilzen! Das Verschreiben von Pülverchen gegen Kopfschmerz! Nein, das ist wie Stillstand im Alter von Mitte 20! Ohne das Potenzial für Entwicklung. Meine Träume sind von deinen gründlich unterschieden, aber mit meinem geplanten Schicksal als Arzt auf dem Lande haben sie nichts gemein.«
»Und? Wie sieht deine Planung für die nächsten – sagen wir – 60 Jahre aus, könntest du frei entscheiden?«
Ludwig lachte leise. »60?«
»Nun, wenn wir von einem weiteren Krieg verschont bleiben, weil die Menschheit unerwartet klug geworden ist, so könnte das klappen. Mit ein bisschen Glück haben ja alle aus den letzten Jahren gelernt und stürzen unsere Generation nicht noch einmal in solch eine Katastrophe. Dann kann unser Lebensfaden sich ungestört ausspannen und wird nicht unerwartet gekappt!«
»Meine nächsten 60 Jahre also«, begann Ludwig versonnen. »Gut. Studieren wollte ich schon – entweder Medizin und Pharmazie oder Politik. Im ersteren Fall wäre es mein Traum gewesen, neue Medikamente zu entwickeln, die gegen viele der Erkrankungen helfen, an denen heute noch überall gestorben wird. Methoden zu finden, die Leben retten. Als Arzt auf dem Dorf? Der Durchbruch gegen Infektionskrankheiten, die Entdeckung, die die Welt verändert, wird im winzigen Labor meines Vaters gemacht? Hinter dem Sprechzimmer? An einem Sonntag nach der Kirche, wenn alle zu Tisch sind und niemand einen Arzt braucht? Mit der alten Laborausstattung? Nein, das wird niemals wahr!« Er boxte sich mit der Hand auf den Oberschenkel. »Niemals!«, spuckte er dann zornig.
Beide schwiegen lang, hingen ihren Gedanken nach.
Als Theo die Wortlosigkeit nicht mehr ertragen konnte, wollte er wissen: »Und wenn du Politik studieren dürftest?«
Ludwig war noch immer blass vor Zorn, hatte seine Stimme aber wieder unter Kontrolle. »Politik hätte mich wirklich interessiert. Was passiert, wenn? Das war ja nun schließlich die entscheidende Frage im Krieg – es hätte vielleicht nicht soweit kommen müssen. Um Verwicklungen zu erkennen und rechtzeitig reagieren zu können, brauchen Regierungen besonders fähige Menschen, die in aller Welt für sie unterwegs sind. Geheimagenten. Die sich überall auskennen, schnell eine Geschichte erfinden können, überzeugend auftreten und doch unerkannt zwischen den anderen leben und arbeiten! Ja, das wäre meine Sache! Ein geheimes Dasein, jeder Tag wäre ein Abenteuer, das man überstehen muss. Nach einigen Jahren wird man abberufen und kann ein normales Leben führen. Dann wollte ich heiraten und eine Familie gründen. Mit vier – nein – besser sechs Kindern! Damit ihnen erspart bleibt, was uns nun mit voller Härte trifft. Nur weil wir die einzigen Nachkommen sind, müssen wir, was wir partout nicht wollen! Den Traum der Eltern weiterleben, unseren eigenen vergessen!«
»Es ist unglaublich ungerecht!«
»Ja. Und doch nicht zu ändern. Wenn wir es nicht tun …«
Sie brüteten wieder vor sich hin, starrten auf die Leine, die träge an ihnen vorbeifloss, und seufzten gelegentlich.
»Du denkst an Heirat und Kinder? Das liegt mir gerade im Moment nicht so im Sinn. Seit Sabine … Die Lust aufs Weibervolk ist mir vorerst gründlich vergangen«, knurrte Theo unvermittelt.
»Nun, betrogen zu werden, ist sehr schmerzvoll. Aber glaub mir, es wird schwächer, und am Ende juckt die Narbe nur noch selten.«
»Du? Du kennst das auch?«
»Zur Genüge. Wir sollten aufhören zu jammern und lieber die verbleibende Zeit genießen.«
»Du hast recht. Bevor uns unsere Eltern um die Erfüllung unserer Wünsche und Träume für die nächsten 60 Jahre betrügen!«
12. Kapitel
1924 Pfingsten Presseclub Falkennest
Die Journalisten hatten sich wie üblich um den großen Tisch versammelt, jeder ein Bier vor sich und eine Decke aus Zigarrenqualm über den Köpfen als Beweis für rege Diskussion.
»Jetzt greifen die Bürger auf der ›Insel‹ schon zur Selbsthilfe! Ist doch wirklich nicht zu fassen, dass die Polizei so träge reagiert. Kommt ja gar nicht recht in Schwung!« Der Pirat schlug mit der Faust auf den Tisch, und die anderen umklammerten schnell ihre Biergläser. Zur Sicherheit. »Am 17. Mai der erste und nun? Immer mehr Schädel! Ein ganzer Sack voller Knochen. Schulterblätter und anderes! Und jetzt fischen die Leute sogar mit Netzen Knochen aus dem Fluss! Von offizieller Seite – kein Einsatz!«
»Wenn man mit den einfachen Netzen und Rechen schon viele Knochen herausfischen kann, möchte ich gar nicht wissen, was man ans Licht beförderte, könnte man sich dazu entschließen, den Pegel der Leine abzusenken!«, murmelte Richard bedrückt, sah blass und krank aus. »Ich glaube, die Leute haben recht. In der Stadt haust das Böse. In irgendeiner Ecke hat es sich verkrochen und sieht uns zu, wie wir immer deutlichere Spuren von ihm finden und ihm doch keinen Schritt näherkommen. Womöglich lauert es schon auf sein nächstes Opfer. Grässlich!«
»Bisher ist nicht klar, wie all die Knochen in die Leine gelangt sind. Gibt ja mehrere Erklärungsansätze.«
»Keiner bewiesen! Keiner auch nur annähernd stichhaltig!«, maulte Ahab.
»Mörder? Ist auch nicht bewiesen.«
»Und erst heißt es, wenn überhaupt Mord, dann sind die Schädel sicher von weiblichen Opfern, dann stellt sich raus: Schädel junger Männer! Männerköppe. Und sogar einer von einem Knaben!« Richard sprach eindringlich. »Es ist die Pflicht der Presse – und daher auch des Journalisten – die Menschen umfassend zu informieren und zu warnen!«
»Lass mal gut sein. Zu viel der Warnung ist schlecht, das macht die Leute bloß wuschig und hysterisch. Sind doch eh schon viele durch den Wind.« Ahab nahm einen kräftigen Schluck, stellte den Bierkrug hart ab. »Und Polizeischelte hat noch nie was anderes gebracht als Ärger. Am Ende sind bloß alle beleidigt, und unsere Quellen sprudeln nicht mehr. Jeder meidet den Kontakt mit der Presse, die Informanten verdrücken sich um die nächste Ecke, kaum dass sie uns kommen sehen. Ne, das ist keine gute Idee. Wirklich nicht.«
»Verantwortung? Schon mal gehört?«
»Die hast du auch für die Reaktion auf deinen ›Aufklärungsartikel‹, oder nicht? Wenn dann alle kopflos durch die Stadt rennen, jeder jeden verdächtigt, geht das auf deine Kappe! Das nenne ich nicht verantwortungsbewusst.«
»Ach was! Die Wahrheit muss ans Licht! Denk nur an die vielen Familien, die nach ihren Kindern suchen! Die wollen wissen, warum alle untätig geblieben sind.« Richards gramvolles Gesicht bekam einen entschlossenen Zug. »Ich hoffe, mein Artikel kommt auf die Titelseite. Vielleicht drucken wir sogar ein Extrablatt!«
»Nur Männerköppe. Könnte ja bedeuten, dass man den Mörder unter den Homosexuellen suchen muss. Damit wären die meisten Männer in der Stadt außer Verdacht – oder?«, meinte der Pirat und guckte in die Runde. »Ich mein ja nur. Die Szene ist nun wirklich nicht unüberschaubar. Sicher, in der letzten Zeit sammeln sich immer mehr hinter dem ›Kröpke‹, aber dort könnte die Polizei eigentlich ganz gut ansetzen. Wenn wir das schreiben, dann fangen sie vielleicht endlich mit ernsthaften Ermittlungen an!«