Kitabı oku: «Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann», sayfa 4
13. Kapitel
1924 Juni
Ludwig hatte eine Zeitung am Bahnhof gekauft, saß nun in der Abendsonne und las voller Interesse darin.
»Mensch! Nun haben sie schon wieder Schädel entdeckt. Einen Sack Knochen wohl auch. Du liebe Güte! Das sind Berichte, die den Eltern gar nicht gefallen werden! Darüber wird ja sicher auch im Radio berichtet. Sie sind bestimmt in großer Sorge um uns.«
»Das scheint im Moment ihre Lieblingsbeschäftigung zu sein. Worum sollten die Gedanken auch sonst kreisen, gibt es doch nur dies eine Kind!«, fauchte Theo zurück und lief rot an vor Zorn.
Ludwig sah überrascht von der Zeitung auf. »Warum bist du denn so schlecht gelaunt? Wir haben noch drei Tage. Die können wir genießen. Dann nehmen wir den Frühzug und sind am Abend pünktlich zurück.«
»Hmhm.«
»Ich hoffe sehr, deine Verwandtschaft hält uns mit Nachrichten aus Hannover auf dem Laufenden. Interessiert mich schon, was sich am Ende in diesem Fall ermitteln lässt. Schädelfunde mitten in der Stadt!«
»Hmhm.«
»Ich wusste gar nicht, dass man nur am Schädel feststellen kann, dass er einem Mann gehört hat und wie alt der etwa war. Bisher war ich der Meinung, man brauche dazu das Becken. Man könnte sagen, ich habe tatsächlich schon mit dem Studium begonnen!« Als er Theos sonderbarem Blick begegnete, setzte er schnell hinzu: »Ich meine eher zufällig – nicht geplant – du weißt schon, irgendwie im Vorbeigehen.«
Der Freund blieb einsilbig.
An diesem Abend krochen die beiden jungen Männer frühzeitig in ihr Zelt.
»Nacht, Theo. Lass dir nicht die letzten Tage vom Gedanken an die Heimreise verderben! Ich denke, in den Semesterferien können wir doch etwas gemeinsam unternehmen – nicht gerade mit dem Zelt im Winter, aber wir finden schon was!«
»Gute Nacht, Ludwig. Mal sehen, was die Zukunft bringt. Du wirst vielleicht zwischen den Semestern gar nicht nach Hause kommen, sondern die Ferien zum Lernen nutzen. Wir werden abwarten müssen.« Der Freund raschelte noch einige Zeit vor sich hin, dann fragte er plötzlich: »Du, Ludwig? Meinst du, ich sollte lieber hierbleiben und richtig Geld verdienen? Die Schreinerei wirft nicht viel ab und soll sich tragen, drei Menschen ernähren und die Lehrlinge, zum Beispiel den Jakob … Aber wenn ich nun Arbeit fände, gut bezahlte versteht sich, wäre es mir sicher möglich, genug Geld an die Eltern zu schicken, damit sie sorgenfrei leben können. Sie müssten ja die Schreinerei nicht aufgeben, könnten jemanden einstellen, der den Betrieb führt – oder eben verkaufen.« Theo klang ziemlich aufgeregt. War offensichtlich von diesem Weg aus der elterlichen Fürsorge begeistert.
»Welche Art Arbeit soll das sein?«, staunte Ludwig. Überlegte kurz und meinte dann überzeugt: »Eine legale sicher nicht! So viel Geld zu verdienen, dass es drei Leute ernährt und den Betrieb rettet, das kann doch nicht gehen! Wie kommst du überhaupt auf so eine Idee?«
»Ach, naja. Heute in Hannover. Da habe ich einen auf dem Bahnhofsklo getroffen. Der hat mich angesprochen und gesagt, ich sähe aus wie ein aufgeweckter Kerl. Und falls ich auf der Suche nach einer guten Anstellung sei, wäre er bereit, mir zu helfen. Kein Problem für ihn. Und junge Männer, intelligent und gut gebaut, fänden in der Stadt immer eine gut bezahlte Arbeitsmöglichkeit.«
»Hm«, murrte Ludwig. »Klingt nicht seriös. Der wollte gar nichts von dir wissen? Schule, Ausbildung und solche Dinge?«
»Nein. Er hat nur gesagt, er würde für mich was finden.«
»Hast du ihn gefragt, um was für eine Art Stellung es sich handelt?«
»Auch nicht. Aber der war von der Polizei, verstehst du? Ich habe seinen Ausweis gesehen. Solche Leute überreden dich nicht zu was Ungesetzlichem!«
»Vielleicht nicht«, räumte der andere ein. »Hatte der Herr von der Polizei auch einen Namen? Der muss doch auf dem Ausweis gestanden haben.«
»Den auf diesem Ding habe ich so schnell nicht lesen können«, gab Theo zurück, »aber sein Name war Fritz oder so ähnlich. Er versicherte mir, wenn ich ihn ernsthaft suchte, würden mir die jungen Leute am Bahnhof schon den Weg zu seiner Wohnung weisen.«
»Ehrlich gesagt glaube ich, dass dich jemand aufs Kreuz legen will. Niemand hat in diesen Zeiten Geld zu verschenken.« Hätte Ludwig um die Nachrichten der kommenden Tage gewusst, seine Warnung wäre viel entschiedener ausgefallen. Doch er wollte nicht altklug, rechthaberisch oder überheblich und selbstgerecht wirken. Daher beließ er es bei dieser allgemeinen Belehrung, die bei Theo ohnehin nicht gut ankommen wollte.
Wortlos rollte sich der Freund wieder in die Decke ein. Sein regelmäßiges tiefes Atmen zeigte, dass er wenig später eingeschlafen war.
Zum nackten Entsetzen Ludwigs war Theo beim Aufwachen verschwunden!
Decke, Gepäck, Rad – als wäre Theo nie hier gewesen. Einzig der Anhänger stand noch an seinem Platz neben dem Baum.
Kopflos und verzweifelt suchte Ludwig in der Nähe des Zelts, lief zur Leine, rief, suchte unter jedem Busch. Kein Theo.
Was ist nun zu tun, überlegte er, soll ich die Polizei verständigen? Seine Eltern antelegrafieren? Doch was, wenn Theo nur für die letzten zwei Tage seine Ruhe haben wollte?
Noch einmal kehrte er an den Baum zurück, an dem sie die Räder abgestellt hatten.
Der Platz, an dem das zweite gestanden hatte, war völlig nass vom Regen.
»Dann bist du wohl aufgebrochen, kaum, dass ich eingenickt war, hast nur so getan, als schliefest du schon fest.«
Und wenig später: »Ich Vollidiot. Warum habe ich mir nichts dabei gedacht? Das Zelt war so aufgeräumt. Ich dachte, er ordnet schon alles für den Heimweg. Nein! Er hatte, was er brauchen würde, in den Tornister und die große Tasche gesteckt. Mensch, Theo! Wie um Himmels willen erkläre ich deinen Eltern, dass ich dich ›verloren‹ habe? Warum bringst du mich in eine derartige Situation?«
Ludwig setzte sich auf einen Stein, barg das Gesicht in beiden Händen. Konnte nicht fassen, dass der Freund wirklich so egoistisch gehandelt hatte.
»Vielleicht kenne ich dich doch nicht mehr so gut, wie ich angenommen habe. Du magst dich in den letzten Jahren verändert haben und hast es bis jetzt vor mir verborgen.«
Eine winzige Hoffnung blieb. Noch zwei Tage bis zur Heimfahrt. Am Ende würde Theo am Bahnsteig auf ihn warten, als sei nichts geschehen!
»Verdammt, Theo!«, fluchte Ludwig. »Was soll ich denn jetzt tun?«
14. Kapitel
1924 im Mai Julius und Margarethe
»Julius! So kann das doch nicht weitergehen!«
Der Angesprochene wandte den Kopf zur Seite, als könne er so dem Schwall fordernder Worte einfach ausweichen.
Es misslang.
Seine Frau baute sich direkt vor ihm auf, fing seine Augen ein, klebte die ihren darauf fest und meinte kühl: »Nun glaubst du tatsächlich noch immer, du könntest mal eben abtauchen, was?« Der drohende Unterton war unüberhörbar. »Ich kann es einfach nicht fassen! In all den Ehejahren hast du nicht kapiert, dass dieser Trick bei mir nicht funktioniert.«
»Also«, seufzte der Gatte geschlagen, »was kann so nicht weitergehen?«
»Dieser Krach! Hörst du das denn nicht?«
»Nun, schon. Aber es ist nicht zu ändern. Geht ja so, seit er eingezogen ist. Und beschwert haben wir uns, sogar mehrfach. Der hat immer irgendeine Erklärung. Mal muss er Schuhe besohlen, mal Möbel zusammenbauen.«
»Wenn man sich nicht gutstellen müsste mit dem Kerl! Wenn ich mich zu deutlich beschwere, verkauft er uns kein Fleisch mehr!«, lamentierte die Ehefrau.
»Dann wirst du wohl den Lärm ertragen müssen, Margarethe«, stellte Julius lakonisch fest. »Aufregen ist sinnlos. Er interessiert sich nicht für die Nachbarn. War schon in der Celler Straße so. Da haben sie sich auch beschwert – und genützt hat es nichts.«
Die stattliche Frau baute sich gefährlich vor dem im Vergleich zu ihr zarten und kleinen Mann auf, die Augen zu Sehschlitzen verengt, funkelte sie ihn böse an.
»Was hast du denn mit denen von der Celler Straße zu schaffen? Hä?«
Julius wurde bleich. Begann zu zittern. »Gar nichts!«, beteuerte er schließlich. »Gar nichts!«
»Und woher weißt du das dann?«
»Ist doch nur, weil der Linderer auch …«
»Aha?«, schnarrte sie entrüstet.
»Klatsch und Tratsch eben. Jeder weiß was zu erzählen. Manch einer auch über den Haarmann. Und seinen sauberen Freund.«
»Wenn du weiter Fleisch auf deinem Teller haben willst, pass besser auf, mit wem du da am Quatschen dran bist. Der Haarmann arbeitet für das Polizeipräsidium!« Dabei setzte sie ein Miene auf, die zwischen Hochnäsigkeit und Schlauheit angesiedelt sein sollte – am Ende aber nur dümmlich wirkte.
»Ach? Dann ist das alles nicht wahr, was die Leute so sagen?« Der Gatte machte eine kurze Denkpause. »Nee!«, murrte er dann. »Kann ja nicht alles erfunden sein! Dass der ständig Jungvolk bei sich zu wohnen hat, wissen wir ja auch! Junge gut aussehende Männer! Manchmal gleich mehrere.«
»Jaha! Ich habe ihn gefragt. Das sind entsprungene Fürsorgezöglinge. Die nimmt er für eine Nacht oder zwei bei sich auf, bevor die wieder zurückgeschickt werden. Sollen die Jungs vielleicht im Gefängnis wohnen, bei den Dieben und Mördern? Den Huren und Räubern? Nee, das wär doch nichts Gutes für so jungsche Männer. Kommen sie nur auf komische Gedanken. So ist das nämlich!«
»Na, wenn du schon so privat mit dem Haarmann bist, hättest du ihm ja auch gleich sagen können, dass dieses ewige Geklopfe dich stört! Dass er das unterlassen soll! Besonders nachts!«
15. Kapitel
1924 im Juni
Ludwig entschied, es sei besser, den Freund zu suchen, als tatenlos an der Leine rumzusitzen.
Außerdem konnte von Sitzen keine Rede sein, er war so nervös und unruhig, dass er schon einen richtigen Pfad ausgetreten hatte mit seinem auf und ab Gehen.
Er schloss wenig später sein Fahrrad in der Umgebung des Bahnhofs an, sah sich um.
Wen sollte er hier nach Theo fragen?
So viele junge Männer hockten hier herum, wirkten nicht so, als seien sie in Eile, um an ihren Arbeitsplatz zu kommen. Ihm schien, als lungerten sie herum, genossen die Sommerzeit, ungebunden und frei. Fast beneidete er sie.
Unerwartet wurde ihm die Entscheidung abgenommen.
»Suchen Sie jemanden?«, wollte ein Knabe wissen und musterte den Besucher neugierig.
»Ja. Meinen Freund Theo. Der ist nicht zu unserem Zelt zurückgekommen. Damit sich nicht gleich alle Sorgen machen müssen, versuche ich, ihn rasch wiederzufinden.«
»Hm. Wie sieht er denn aus, Ihr Freund?«
Ludwig gab sich redlich Mühe bei der Beschreibung, ärgerte sich, dass er kein Foto hatte, das er hätte zeigen können.«
»Tja, so als die erste Idee fällt er mir nicht ein. Aber vielleicht habe ich ihn ja auch nur nicht getroffen. Hat er Ihnen denn nicht gesagt, wohin er wollte?«
»Nein, leider nicht. Aber er erzählte, er sei hier am Bahnhof jemandem begegnet, der ihm eine gute Arbeit vermitteln wollte.«
»Ach? Fritz vielleicht?«
»Möglich. Beim Namen war er sich nicht ganz sicher. Allerdings wusste er, dass der Mann bei der Polizei arbeitet.« Ludwig spürte, wie Aufregung sich in ihm ausbreitete. War er auf der richtigen Spur? Würde er den Freund wohlbehalten nach Hause bringen?
»Ja, Polizei. Das passt. Kriminaler Fritz oder Kriminal Haarmann nennen ihn hier viele. Bei uns ist er eher Onkel Fritze«, lachte der Junge. »Der kann einem schon mal über eine schwierige Strecke rüberhelfen. Ist ein großer, kräftiger Mann mit Schnurrbart.«
Ludwig schmunzelte. »Nun, ich war ja nicht dabei. Wie er aussieht, weiß ich beim besten Willen nicht.«
»Der Fritz! Ich zeige Ihnen, wo der wohnt. Dann können Sie ihn ja nach Ihrem Freund fragen.«
»Einverstanden. Natürlich entschädige ich dich für den Zeitaufwand. Ist ja klar.«
Der Junge führte den Fremden durch die Altstadt.
»Der Fritz nimmt gern mal den einen oder anderen mit. Nicht nur für die Nacht, er hat auch immer was zu essen. Keiner geht hungrig bei ihm weg. Meist ist er wohl nett, nur manchmal wird er böse. Aber das weiß ich nur von den anderen. Wenn ich mit ihm bin, ist er immer gut.«
Über die Brückmühlbrücke.
Sie blieben stehen und sahen auf das Wasser hinunter.
Ludwig schauderte. »Hat man nicht hier zwei der Schädel gefunden?«
»Stimmt«, meinte der Junge leichthin. »Gruselig war nur, dass da noch Reste von Fleisch dranhingen. Das erzählen jedenfalls diejenigen, die es mit eigenen Augen gesehen haben. Die Fische waren entweder schon satt, liegen ja offensichtlich viele Köppe drin, oder mochten nicht mehr an denen knabbern.«
»Hast du denn keine Angst? Du kennst mich nicht. Ich könnte ja der Mörder sein.«
»Nein. Ganz bestimmt nicht. Sie sind nicht von hier. Wenn es wirklich einen Mörder gibt, kommt er aus der Stadt, ist kein Besucher.«
Nur wenige Schritte noch, und der Junge hielt vor einem Backsteinhaus an.
Er deutete mit dem Finger hoch in die Luft, kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen. »Dort oben, in der linken Dachkammer, da wohnt er. Fritz Haarmann ist sein Name.«
Ludwig bedankte sich, drückte dem Knaben einen Schein in die schmutzige Hand. Sofort verschwand das Geld unbesehen in der Hosentasche. Vielleicht, überlegte Ludwig, wusste er aus Erfahrung, wie viel es war und musste nicht nachsehen.
»Passen Sie ein bisschen auf sich auf, ja? Diese Gegend ist das, was man Rotlichtbezirk nennt. Gibt durchaus ein paar richtig üble Burschen hier«, riet der Junge noch, »die legen sich gern mit einem an, der aussieht, als habe er Geld in der Tasche.«
Als sein Begleiter wieder in Richtung Bahnhof aufgebrochen war, stand der angehende Medizinstudent minutenlang unschlüssig vor der Tür. Konnte sich nicht durchringen, einen vollkommen Unbekannten mit der Frage nach Theos Verbleib zu behelligen. Möglicherweise glaubte dieser Fritz, er verdächtige ihn, Theo zum Weglaufen überredet zu haben, und wurde zornig, am Ende gar handgreiflich. Auf der anderen Seite war dies der einzige Weg zu erfahren, ob dieser Mann dem Freund eine Arbeit vermittelt hatte. Aber vielleicht war das ja auch gar nicht der richtige Fritz? Er kehrte zur Brücke zurück. Die Leine lag unschuldig unter ihm, die Sonne zauberte ein freundliches Glitzern auf die Wasserfläche. Was, wenn Theo ein Unglück geschehen war? Man auch seinen Kopf … Nein! Daran mochte er gar nicht denken! Also wieder zurück zum Haus in der Rote Reihe 2.
Es wirkte abweisend.
So, als wünsche es keine Besuche von Fremden.
Dass man ihn schon eine ganze Weile beobachtete, merkte der junge Mann nicht.
War viel zu sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt.
Ludwig fasste sich endlich ein Herz und trat in das enge, dunkle Treppenhaus.
Der Geruch, der ihm dort entgegenschlug, verursachte ihm Übelkeit. Es stank nach den Mahlzeiten der Bewohner aus den letzten Monaten, nach Kohl und Fett, Verfall und aus den Kellern aufsteigender Feuchtigkeit.
Beklommen nahm er die ersten Stufen in Angriff.
Versuchte, die grobe Orientierung zu behalten, damit er nicht an die falsche Tür klopfte.
Der Gang zur Dachkammer war bedrückend. Dunkel. Eng. Stickige Luft stand darin, in die sich grässliche Gerüche gemischt hatten. Ungebeten stiegen Erinnerungen aus Kindertagen auf. Besuche beim Onkel, der einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb hatte. Ludwig brauchte die Arme nicht durchzustrecken, um mit beiden Händen die Wände zu berühren. Eine Schande, dass man die Polizisten unter solchen Bedingungen wohnen ließ, dachte er. War das hier etwa eine Dienstwohnung? Mitten im Dirnen – und Zuhälterviertel? Vielleicht doch nicht ungünstig, wenn der Polizist direkt hier lebte, so bekam er immer mit, was im Milieu geplant wurde, schloss Ludwig seinen Gedankengang ab.
Vor der Tür lauschte er einen Moment auf Geräusche aus der Kammer.
Es war still.
Totenstill, drängte sich dem jungen Mann auf und er schauderte.
Er zögerte. Vielleicht hatte Fritz ja Nachtschicht gehabt und schlief. Wäre es gut, später noch einmal vorbeizukommen?
Er schalt sich einen Hasenfuß! Wenn dieser Mann derartige Angebote an junge Männer machen konnte, musste er auch damit rechnen, dass man bei ihm nachfragte, wenn einer von ihnen verschwand!, redete ihm seine innere Stimme Mut zu.
Ludwig klopfte. Keine Antwort.
»Fritz Haarmann?«
Er klopfte erneut. Wartete. Alles blieb ruhig.
»Theo?«
Er klopfte ein drittes Mal.
Niemand zu Hause.
Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit.
Langsam ging er hinunter.
Trat ins Licht. Einsam, ratlos. Was nun?
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Herr im besten Alter und winkte.
Ludwig sah sich um – doch tatsächlich, das Winken galt ihm.
Offensichtlich hatte der Fremde ihn erwartet. »Suchen Sie nach Ihrem Bruder? Ich möchte Ihnen nicht zu nahetreten, aber Sie selbst sind ein wenig zu alt für ihn, er mag lieber Jüngere.«
»Wie bitte?«, fragte Ludwig irritiert zurück. Wovon redete der Mann nur?
»Na, der Haarmann. Sie wollten doch zu ihm. Ich sehe Ihnen schon eine Weile dabei zu, wie Sie um eine Entscheidung ringen. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten. Sie suchen jemanden und haben gehört, er könne sich dort befinden. Sind sich aber nicht sicher. Oder Sie selbst möchten bei Haarmann eine Bleibe finden, für eine oder zwei Nächte.«
Der Fremde trat einen Schritt zurück und meinte dann: »Das Zweite schloss ich aus. Sie sehen nicht aus wie einer, der ausgerechnet hierherkommt. Und wie gesagt, er liebt ganz junge Burschen, keine mit männlicher Ausstrahlung wie Sie.«
»Aha. Nun, ich suche nach meinem Freund. Er ist verschwunden.«
»Oh weh!« Dem Mann standen plötzlich Tränen in den Augen. Ludwig registrierte erst jetzt die verhärmten Züge des Fremden, die tief eingegrabenen Furchen, die von der Nase abwärts zu den Mundwinkeln führten, das leidgezeichnete Gesicht. »Das ist schrecklich! Und Sie wissen, dass er bei ihm«, er deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung vage Richtung Dachkammer, »bei diesem Kerl hier war?«
»Ich weiß es nicht, nein. Und am Bahnhof hat man mir gesagt, der Fritz Haarmann sei nett. Mein Freund erzählte, der Mann sei ein Polizist.«
»Polizist, jaja. Das glauben viele. Er hat einen irreführenden Ausweis, den er gern herumzeigt. Sieht offiziell aus. Und so vertrauen sie dem angeblichen Kriminalbeamten. Alles erfunden und gelogen!«
Ludwig wurde bang. War Theo einem Betrüger aufgesessen?
»Ihr zwei, Sie und Ihr Freund, sind ausgerissen? Ärger mit den Eltern?«, drang der unbekannte Mann weiter in ihn. Seine Augen funkelten neugierig und gleichzeitig sonderbar hoffnungslos.
»Wer hat keine Schwierigkeiten mit Eltern? Aber nein, wir haben Ferien gemacht, gezeltet. Und ganz plötzlich …« Ludwig hörte selbst, wie mutlos er klang.
»Kommen Sie, gehen wir ein Stück«, forderte der Ältere ihn auf und klang sehr traurig. Allein. Einsam. Verlassen. »Mein Name ist Hermann Georg Koch – aber man nennt mich Georg. So gibt es keine Verwechslung.«
Ein wenig verwirrt schloss Ludwig sich ihm an.
»Sehen Sie, mein Sohn ist vor ein paar Jahren ebenfalls verschwunden. Er war mit einem gewissen Friedel befreundet, die beiden besuchten gelegentlich diesen Mann aus der Kammer! Er bezahlte gut für ihre Dienste.«
»Dienste?«, hakte Ludwig aufgeschreckt nach.
»Oh, Sie wissen wohl gar nicht, bei wem Sie geklopft haben? Fritz Haarmann ist schwul. Er lädt sich sehr junge Knaben in die Kammer ein, sie übernachten mit ihm, er entlohnt sie, gibt ihnen zu essen. Mein Sohn und sein Freund träumten von Freiheit und brauchten Geld, um sich von den Eltern zu lösen. Es schien ihnen wohl leicht verdient. Eines Tages war Friedel Rothe nicht mehr aufzufinden. Und mein Hermann kurze Zeit später auch nicht mehr. Die Polizei suchte bei Haarmann – aber man konnte keine Hinweise dafür entdecken, dass die beiden Jungen bei ihm waren. Er geriet allerdings schon damals kurzzeitig unter Mordverdacht. Das war 1918!«
»Was! Um Himmels willen! Ein Mörder? Theo ist vielleicht tot?« Ludwig verlor den Boden unter den Füßen, lehnte sich schwer gegen den Fremden, der ihn bereitwillig stützte.
»Es gab keine Beweise. Haarmann wurde wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft genommen. Ein Kind fand man auch in seinem Bett. Aber wegen der Beleidigung der Kinder ist er so gut wie nie belangt worden. Sie wissen schon, Paragraf 175. Aber da kann man tricksen und schon geht man straffrei aus.«
»Und nun diese Schädel?«, keuchte Ludwig.
»Eben. Ich habe schon vor drei Jahren einen Privatdetektiv beauftragt herauszufinden, wo mein Sohn abgeblieben ist. Ich weiß, dass der Haarmann ihn umgebracht hat. Der Detektiv sollte Beweise finden. Und das hat er auch getan! Wir sind inzwischen eine ganze Gruppe von Eltern, in deren Auftrag er Nachforschungen anstellt. Tatsache ist, dass uns niemand zuhören will!«
»Er hat also noch mehr getötet?« Oh Gott, wie erkläre ich das den Lamms, drehte sich als beängstigender Gedanke wie ein Mühlrad hinter seiner Stirn.
»Natürlich kommt es vor, dass Heranwachsende von zu Hause weglaufen. Alles zu eng, zu reglementiert. Nicht jeder junge Mann der verschwunden ist, wurde auch getötet, viele sind nach einigen Wochen plötzlich wieder zu Hause. Zerknirscht und hungrig. Manche aber nicht. So wie mein Sohn Hermann. Hermann Koch.« Er zog ein Foto aus der Brieftasche, hielt es Ludwig mit zitternden Fingern hin. »Das ist er. Mein Hermann.«
»So ähnlich sieht Theo auch aus. Ein bisschen älter«, flüsterte er betroffen. »Aber die Polizei ist ihm doch gewiss auf der Spur!« Ludwig stockte. »Ach – Theo hat ja auch geglaubt, der Mann sei Polizist. Kriminaler. Und das …«
»Genau, das ist er eben nicht! Das erzählt er nur. Und die Leute fallen drauf rein.« Die Stimme des Vaters klang rau und heiser. »Hat meinen Sohn sicher auch damit beeindruckt. In dem Alter gelingt das leicht. Da fehlt es an Lebenserfahrung.« Der Vater seufzte schwer. »Die Jungs, die den Haarmann begleitet haben, waren nicht alle homosexuell. Die wollten nur Geld und eine gute Mahlzeit. Viele Eltern meinen, ihr Sohn könne gar nicht … Aber das ist natürlich Unsinn, soll nur der eigenen Beruhigung dienen. Tja.« Er breitete die Arme zur Seite aus, zuckte mit den Schultern.
»Und er hat die Körper in die Leine geworfen?«, wisperte Ludwig, starrte mit Ekel auf das dunkle Wasser.
»Nun, ich würde denken, dass er sie nicht in einem Stück …« Der Mann schlug mit der Faust auf das Geländer, rieb sich dann mit schmerzverzerrtem Ausdruck die Außenkante der Hand. »Ich mag mir gar nicht vorstellen, was genau er mit den Toten angestellt hat. Wirklich nicht! Das bringt mich sonst noch um den Verstand!« Er verstummte. Setzte trübsinnig hinzu: »Man hat keinen der verschwundenen Jungs wiedergefunden. Und wir kennen wahrscheinlich nicht einmal alle. Manche Eltern melden sich nicht bei der Polizei. Naja. Die Zeiten eben. Man darf es ihnen wohl nicht verdenken.«
Sie schwiegen nebeneinander her.
Die Stille hielt so lange an, dass Ludwig aufschrak, als Koch plötzlich wieder zu sprechen begann. »Der Hermann war ein guter Junge. Seiner Mutter bricht es das Herz, dass er nicht mehr nach Hause kommt.«
»Die Eltern von Theo werden entsetzt sein. Er ist das einzige Kind.« Nach einer Pause ergänzte er: »So wie ich auch. Ich bin ein bisschen älter, also trug man mir auf, ihn zu beschützen. Nun kehre ich nach Hause zurück: allein!« Plötzlich liefen Tränen über das schmale Gesicht des jungen Mannes, und Herr Koch legte tröstend seinen Arm um ihn.
»Du konntest nichts dafür, Junge. Wenn er ein Opfer des Mörders wurde, so ist es allein dessen Verantwortung, nicht deine!«
»Ich fürchte, das werden seine Eltern nicht ganz so sehen.«
Ludwig wartete vergeblich.
Er stieg erst in den Zug, als der Schaffner ihn schon fast am Kragen packen wollte, um ihn die Stufen hinaufzuschieben. Kein Theo. Kein Fahrrad. Kein Lebenszeichen.
Deprimiert setzte er sich und stierte die lange Fahrt über auf einen graubraunen schmierigen Fleck zwischen seinen Schuhen. Stöhnte gelegentlich, flüsterte Unverständliches vor sich hin.
Die kritischen Blicke der Mitfahrenden bemerkte er nicht. Um ihn herum begann man, sich um den Geisteszustand des jungen Mannes zu sorgen.
»Für einen Kriegsversehrten ist er noch zu jung. Aber sein Hirn hat vielleicht doch irgendwie was abgekriegt«, murmelte der Alte von gegenüber seiner Frau ins Ohr.
»Wenigstens ist es keiner dieser Schüttler und Zitterer. Manche von denen können nicht einmal mehr die Tasse zum Mund führen, ohne zu kleckern.«
»Der braucht dennoch einen, der sich um ihn kümmert. Sie dir mal die Augen an. Zugeschwollen und entzündet. Wenn das ein Weibsbild wäre würde man denken, es habe ein paar Tage durchgeheult. Aber bei einem jungen Mann …«
»Könnte doch einen Trauerfall in der Familie gegeben haben!«, meinte die Gattin fast ein wenig pikiert. »Wenn ich plötzlich meine Seele aushauche, wirst du ja wohl auch ein bisschen traurig sein!«
Der Alte musterte die Gattin und grinste zahnlos. »Och ja. Schon.«
»So klingt es aber nicht!«, zickte sie zurück. »Ganz und gar nicht!«
»Was soll ich sagen? Du wirst nicht so bald kalt werden. Dazu siehst du viel zu gesund aus. Rund und eine Portion verfressen! Warum solltest du also demnächst eingehen?«, fragte er logisch.
»Wegen Lieblosigkeit!«, schluchzte sie und suchte in der ausladenden Handtasche nach einem Taschentuch, tupfte mit dem weißen Stoff anklagend unter den Augen entlang. »Es wäre dir also gleichgültig. Du bist herzlos!«
»Aber! Lieblosigkeit! Als ob nicht der fette getigerte Kater vor lauter Liebe zu dir sogar das Bett mit dir teilt. Und was heißt da gleichgültig! Wenn du plötzlich das Lebenslicht ausknipst, muss ich mir jemanden suchen, der den Haushalt führt, das Essen kocht, die Einkäufe erledigt und sich um die Wäsche kümmert. Was glaubst du wohl, was das kostet! Und schmecken würde mir das vielleicht auch nicht, was die Haushälterin kocht.«
»Ach, einer Fremden würdest du Lohn bezahlen für das, was ich unbezahlt schon mein halbes Leben lang für dich erledige? Das merke ich mir. Du nutzt mich aus, so ist das!«, giftete die Gattin. »Behandelst mich wie eine Leibeigene!«
Es war seine Pflicht, mochte sie auch noch so erschreckend und belastend sein. Er musste also nun den Lamms diese unglaubliche Nachricht überbringen.
Aber wie? So sehr er sich das Hirn zermarterte, ihm wollte keine elegante sprachliche Wendung einfallen, die den Schock der Eltern hätte mindern können.
Da es unausweichlich war, beschloss er, den schweren Gang sofort nach der Ankunft zu erledigen.
»Wie? Er hat alles mitgenommen und ist allein aufgebrochen?«, schluchzte Theos Mutter laut auf. »Und wollte nun ausgerechnet nach Hannover!«
Ludwigs Stimme hörte man die Tränen deutlich an, die auch er gern geweint hätte. »Ja, er war am Abend gereizt – er muss mitten in der Nacht heimlich davongeschlichen sein.«
»Ludwig!«, bohrte Frau Lamm inquisitorisch, »nun sag schon die Wahrheit! Ihr habt euch gestritten, nicht wahr? Manchmal kann man leicht mit Theo in einen Disput geraten. So war es doch!«
»Aber nein. Es gab keinen Streit. Nicht einmal ein böses Wort. Auf der ganzen Fahrt nicht. Nein, nein, es war anders. Er hatte jemanden getroffen, der ihm Arbeit besorgen wollte. Der hatte behauptet, man könne in Hannover ganz einfach viel Geld verdienen. Und Theo gefiel die Idee. Als ich versuchte, ihn zu warnen, ihm sagte, das sei sicher eine illegale Arbeit, reagierte er verschnupft. Er wollte gern an die Worte des Fremden glauben und dachte, ich wolle ihm das Ganze nur madigmachen. Das war alles!« Ludwig senkte den Blick, fühlte sich unsäglich schuldig. Wusste, wenn er in dieser Nacht besser aufgepasst hätte, wäre dem Freund dieses stille Verschwinden nicht gelungen. Und, nahm er sich fest vor, über die möglichen genaueren Einzelheiten dieser versprochenen Arbeit und die damit verbundenen Dienste würde er schweigen!
»Aber er wird doch wiederkommen? Nicht wahr?«, flüsterte die Mutter verzagt.
Ludwig schlich sich nach Hause wie ein geprügelter Hund.
Schob das Rad mit dem Anhänger neben sich her, fühlte sich schwach, schaffte es kaum, alles bis auf den Hof des elterlichen Hauses zu bugsieren.
»Mein Gott! Einfach abgehauen, verschwunden? Wie fürchterlich für dich! Was hast du getan, nachdem er weg war?«, erkundigte sich seine Mutter mitfühlend und setzte einen Topf Milch auf.
»Erst habe ich in der Nähe gesucht. Dann war ich in Hannover, habe dort rum gefragt. Auch nach diesem Kriminalbeamten, der ihm eine Stelle verschaffen wollte. Und am Bahnhof bestätigte man mir, der heiße Fritz oder Fritze, wohne Rote Reihe. Man könne ihn aber auch hinter dem Café ›Kröpke‹ treffen. Dort bin ich hingegangen, nachdem ich ihn in seiner Wohnung nicht antreffen konnte. Ist ein Treffpunkt für Homosexuelle. Junge Männer warten dort auf zahlungskräftige Kunden.«
»Ach herrje! Nun dort wirst du Theo wohl kaum angetroffen haben. So ist er nicht!«
»Das ist sicher wahr. Aber leider fand ich diesen Fritz da auch nicht.«
»Ach mein armer Junge! Was für eine grauenhafte Situation für dich. Daran hat der Theo sicher nicht einen Augenblick gedacht, als er weggefahren ist.« Die Mutter stellte einen dampfenden Kakao vor ihrem Sohn ab, fuhr ihm tröstend mit ihren immer kalten Fingern durch die Haare.
»Ich verstehe nicht, wie er so etwas tun konnte. Zwei brechen zusammen auf – und kommen natürlich auch gemeinsam zurück!«, schimpfte Dr. Meinrad. »Das ist schon viel mehr als nur ungezogen!«
»Er war an jenem Abend sonderbar. Vielleicht hätte ich nicht einschlafen sollen.«
Die Mutter setzte sich mit an den Küchentisch, stellte ein paar Kekse vor Ludwig ab.
»Ludwig! Du musst dir keine Vorwürfe machen. Der Theo hat das selbst für sich so entschieden!«
»Ja sicher. Aber vielleicht … wer weiß, möglich dass ich seine Entscheidung hätte beeinflussen können.«
Der Vater warf dem Sohn einen strengen Blick zu. »Hör mir gut zu! Der Theo hat einen Entschluss gefasst, der dich stark in Mitleidenschaft zieht. Und das hat er auch sehr genau gewusst. Der Theo ist schließlich kein Idiot! Ihm muss bewusst gewesen sein, dass es dich belastet, wenn er einfach so wegläuft. Du hast ihm erzählt, dass seine Eltern dir aufgetragen haben, ein Auge auf ihn zu haben! Das Wichtigste, was du verstehen musst, ist aber das: Er hat es dennoch getan! Aus eigennützigen Gründen! Aus grenzenlosem Egoismus, dem Markenzeichen unserer Zeit. Hat dich nicht informiert, sondern sich fortgeschlichen wie ein Verbrecher! Ihm war es gleichgültig, dass du darunter leiden würdest Dass du es seinen Eltern würdest erklären müssen! Das musst du begreifen, Junge! Meiner Meinung nach hast du allen Grund, furchtbar wütend auf deinen Freund Theo zu sein! Das wäre die richtige Reaktion auf solch einen Verrat!«
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