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4. Chicago - Architekturmuseum unter freiem Himmel
Wer in diesen Tagen nach Chicago kommt, findet als Erinnerung an Al Capone nur noch ein Museumsplakat. Heute präsentiert sich die Stadt vielmehr als ein Architekturmuseum unter freiem Himmel. Die Entwicklung Chicagos auf diesem Gebiet begann bereits nach dem Großen Feuer 1871 und erfuhr durch die World Columbia Exposition 1893 den entscheidenden Impuls. Sie wurde dadurch gefördert, dass die Stadt ihr Image als Porcopolis, als »Stadt der Schweine«, loswerden wollte. Schon damals wurde in Chicagos Wirtschaft gut verdient, wenngleich auf anderen Gebieten als heute. Und man gedachte, das Image der Stadt durch ein Mäzenatentum in verschiedenen Bereichen aufzupolieren. So begann damals neben der großen Tradition des Philharmonischen Orchesters auch Chicagos Ruf als Museumsstadt.
Anlässlich einer Columbus-Ausstellung lud die Stadt den französischen Impressionisten Camille Pissarro ein, um den Rinderbaronen und Schlachthofbesitzern einmal einen echten Künstler zu präsentieren. Als der Maler gefragt wurde, ob er vorhabe, zu dem Weltereignis am Michigan-See zu kommen, soll er allerdings mürrisch geantwortet haben: »Wer zum Teufel will zu diesen Metzgern gehen?!« Andererseits begann mit der Ausstellung in der Stadt eine Epoche klassizistischer Baukunst, und nach dem zweiten Großbrand im Jahre 1874 wurde im Häuserbau eine Technik entwickelt, die es ermöglichte, Gebäude brandsicher und »wolkenhoch« zu bauen - Letzteres auch dank der Erfindung des elektrischen Fahrstuhls. Damit kam ein neuer Stil, rational und ohne Repräsentationspathos, der Utilitarismus, auf. Und schon jetzt entwarf man Neubauten gemäß dem Leitspruch, wonach die Form der Funktion zu folgen habe. Formuliert hat dies Louis Sullivan jedoch erst ein Vierteljahrhundert später. Das Gebäude der Chicago School of Architecture, nach seinem Bauherren Leiter-Building genannt, ist ein gutes Beispiel für die Anfänge dieser Stilepoche. Es ist heute allerdings nur noch auf Fotos zu betrachten, weil es inzwischen wieder abgerissen wurde.
Wer sich einen ersten Eindruck von der Imposanz Chicagos verschaffen will, tut das am Besten von jenen Schiffen aus, die am Navy Pier abgehen. Hier war früher einer der größten Binnenhäfen der Welt. Nach seinem Niedergang hat er einem Freizeitpark Platz gemacht. Das Zentrum, in dem die architektonisch interessantesten Bauten liegen, verdankt seinen Spitznamen Loop jener Schleife, auf der die kürzlich modernisierte Hochbahn »EL« (für Elevated Train) seit etwa hundert Jahren verkehrt. Mit dem Chicago River im Norden und Westen, dem See im Osten und der südlichen Trasse der EL bildet der Loop die Trennungslinie zwischen Downtown und den Vorstädten. In einem Quadrat von anderthalb Kilometern und an den sich nördlich davon anschließenden Vierteln um die Magnificent Mile liegt das wirtschaftliche Zentrum mit den eindrucksvollsten Bauten Chicagos.
Seit es die Schlachthöfe nicht mehr gibt, hat sich Chicago zu einem wichtigen Börsenplatz entwickelt, der im Begriff steht, der Wallstreet ernsthafte Konkurrenz zu machen. Dort, wo 1812 bei einem Überfall der Indianer 350 Siedler getötet wurden, erhebt sich an der Magnificent Mile heute das Wrigley-Building und der Chicago Tribune-Tower. Ersteres wurde 1925 nach dem Vorbild der Kathedrale von Sevilla errichtet und beherbergt das Hauptquartier des Kaugummi-Imperiums. Mit seinem märchenhaften Charakter ist es das vielleicht beliebteste Bauwerk bei den Bürgern der Stadt. Das 1925 vollendete Gebäude der Chicago Tribune orientierte sich ebenfalls an europäischen Vorbildern aus der Vergangenheit: am »Butterturm« der Kathedrale von Rouen. Die Chicago Tribune, angeblich die größte Zeitung der Welt, ließ in das Sockelgeschoss ihres Verwaltungsturms Teile der Burg Ehrenbreitstein, des Louvre, der Chinesischen sowie der Berliner Mauer einfügen.
William Le Baron Jenney, geistiger Vater der modernen Wolkenkratzer, Louis Sullivan mit seinem Schlagwort »form follows function« und Frank Lloyd Wright – ihre Namen stehen für drei Generationen von Architekten, bei denen eine jeweils bei der vorangegangenen ihr Handwerk gelernt hat. Die klaren Linien aus Glas und Stahl, die heute das Bild der Innenstadt prägen, spiegeln das Formempfinden des deutschen Architekten Mies van der Rohe wieder, der in den 30er Jahren auf der Flucht vor den Nazis nach Chicago gelangte und bis zu seinem Tod 1969 in der Stadt lebte.
American Memories
»Die alte Stadt ist das Viertel der Handwerker und Künstler nördlich von Near North. Es hat einen Hauch von Greenwich Village mit Cafes, den Studios von Künstlern, Antiquitätengeschäften, Restaurants und so weiter. Sein phänomenales Wachstum in den 60er Jahren hat The Boys (die Syndikate) angelockt. Offenbar spielt sich da mehr als nur Kitschkultur ab.«
Studs Terkel,
Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen
Heute baut in Chicago schon jene Generation, die bei ihm in die Lehre gegangen ist. Ein Apartment-Haus in Form eines Ypsilon, das beim Spaziergang zwischen Navy Pier und Downtown ins Auge fällt, entwarfen 1968 die beiden Mies van der Rohe-Schüler Schipporeit und Heinrich. Werner Jacob beschreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diese Bauten so: »Mit dem charakteristischen Bronzebraun der Aluminiumfront griffen die Adepten nicht nur die formalen und innovativen Traditionen ihres Mentors auf, sondern entwickelten auch andere neue Qualitäten. Die Ypsilon-Gestalt des mit siebzig Stockwerken höchsten Apartment-Hauses der Stadt und ersten Wolkenkratzers mit gerundeter Metallfassade erlaubt den Bewohnern in allen Wohnungen eine panoramische Sicht auf See und Stadt. Um wie viel eleganter als seine Urväter dieser Mies-Nachkömmling ist, kann man auf der Nordschleife der Bootstour feststellen: Am nördlichen Lake Shore-Drive stehen vier 26 bis 29 Etagen hohe Stahl- und Glastürme des Meisters aus Deutschland. Die beiden Ersten entstanden 1954 und markieren mit ihren streng rechtwinkligen Grundrissen und ebenso gerasterten, die Senkrechte betonenden Fronten Beginn und Durchbruch seiner Maxime des ›Beinahe nichts‹.«
Natürlich fallen dem Besucher zunächst jene Bauten ins Auge, die Rekorde machten. Da ist vor allem das John Hancock-Center am nördlichen Ende der Michigan Avenue und der Sears-Tower am Ostrand des Banken- und Börsenviertels am Loop.
Der Sears-Tower mit seinen 443 Metern Höhe blieb 22 Jahre lang der höchste Bau der Welt. Erst vor Kurzem überflügelten ihn die vom New Yorker Architekten Cesar Pellis entworfenen Zwillingstürme in Kuala Lumpur um sechs Meter und sechzig Zentimeter. Doch schon entsteht, ebenfalls von Pellis entworfen, nicht weit von Sears-Tower ein weiterer Bau, der knapp 800 Meter hoch sein wird, höher als jedes bisher existierende Gebäude. Von diesen beiden Giganten hat man die beste Aussicht auf die Stadt. Nordöstlich davon erhebt sich Big Stan, ein weißer Marmorbau der Standard Oil, und auf der Nordseite der Magnificent Mile gelangt man schließlich zum hundert Stockwerke hohen John Hancock-Center, einer Stadt für sich mit Wohnungen, Geschäften und Garagen. Den Weg in den 94. Stock zum Observatorium im Hancock-Center schafft der schnellste Lift der Welt in 39 Sekunden. Darüber liegt noch das höchste Restaurant Chicagos, von dem man angeblich bei klarem Wetter 130 Kilometer weit nach Wisconsin, Indiana und Michigan sehen kann. Recht verloren unter diesen Riesen nimmt sich der alte Wasserturm aus, eines der wenigen Gebäude, die das Feuer von 1871 unversehrt überstanden haben. An ihm lässt sich die Entwicklung innerhalb der Stadt während nur eines Jahrhunderts eindrucksvoll ablesen.
5. Chicago – Zentrum moderner amerikanischer Literatur
Nach alledem, was wir bisher gehört haben, mag es erstaunen, dass Chicago seit dem 19. Jahrhundert zu einem Zentrum moderner amerikanischer Literatur geworden ist. In seinem 1883 erschienenen Leben auf dem Mississippi nennt Mark Twain die Stadt einen Ort, »wo sie ständig Aladins Wunderlampe reiben, um den Geist zu rufen, wo sie ständig neue Unmöglichkeiten ersinnen und vollbringen«.
Die im Zeichen bürgerlicher Wohlanständigkeit im neuenglischen Osten der USA entstehende Literatur Amerikas stand im krassen Gegensatz zur deprimierenden Kehrseite der Modernität des sich rasch entwickelnden Chicagos, dem Massenelend der Zu-Kurz-Gekommenen, das die theatralische Traumstadtkulisse der großen Ausstellung verbergen sollte. Die Urban Blight, die soziale Verwahrlosung, war in dieser Stadt seit der ersten Industriellen Revolution immer ein Problem. Tausende wurden in ghettoartigen Notquartieren zusammengedrängt. Daher ist es auch kein Wunder, dass die Stadt um die Jahrhundertwende ein Sammelpunkt für politische Radikale wurde. Ein Buch, das diese Problematik eindrucksvoll dokumentiert, stammt von der ebenso streitbaren wie gebildeten Jane Addams aus Cedarville, Illinois, die 1889 südwestlich des Loop in den wüstesten Slums der damaligen Zeit das sogenannte Hull-House gründete, das, wie es Hans Egon Holthusen genannt hat, »eine Art Kombination von Armenasyl, Nachbarschaftsklub und Kulturzentrum mit College-Charakter (bildete) und heute als nationales Kulturobjekt unter Denkmalschutz gestellt ist.« Jane Addams, die sich nicht nur für die Ärmsten der Armen einsetzte, sondern sich auch als Frauenrechtlerin einen Namen machte, wurde 1931 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
American Memories
»Das Outer Drive ist die Durchfahrtsstraße, die sich entlang des Sees fast durch die ganze Stadt hinzieht. Die Stadtväter waren sich bewusst, dass Autofahrer Zeitprobleme haben und bequem fahren wollen. Deswegen ließen sie achthundert Bäume im Jackson Park auf der South Side fällen.«
Studs Terkel,
Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen
Für die Schriftsteller der Gentile Tradition, zu denen im vorigen Jahrhundert die in Deutschland unbekannt gebliebenen Autoren Henry Blake Fuller, Robert Herrick und Hamlin Garland zu rechnen sind, wurden vor allem die Atmosphäre der Chicagoer Gründerjahre, die Aufsteiger und Baulöwen der »windigen Stadt«, die Vergötzung des Erfolgs zu Themen, die sie beschäftigten. Zur nächsten Generation gehört dann schon der auch in Deutschland bekannt gewordene Theodore Dreiser (1871 bis 1945) mit seinem 1900 erschienenen Roman Sister Carrie, der das Schicksal eines naiven Mädchens aus der Provinz, das in die Großstadt Chicago kommt, zum Inhalt hat. Waren die berühmten Schlachthöfe schon 1870 eröffnet worden, so wurde Upton Sinclair (1878 bis 1968) mit seinem Roman Der Dschungel von 1906 zu ihrem kritischen Chronisten. Sein Buch wiederum beeinflusste nachdrücklich Bertolt Brecht und spiegelt sich in dessen Lehrstück Die Heilige Johanna der Schlachthöfe. Upton Sinclair und Theodore Dreiser begründeten letztlich den literarischen Ruf dieser Stadt.
Über der sozialkritischen Literatur, die in Chicago immer eine Heimat hatte, wird leicht vergessen, welcher Einfluss von hier auf die literarische Moderne ausging. Es war Ezra Pound, der in Chicago den Kristallisationspunkt für eine neue amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts – später »Chicagoer Renaissance« genannt – sah. Pound prophezeite, dass im Vergleich mit ihr die italienische Renaissance ein »Sturm im Teekessel« gewesen sei. Seine Hoffnungen setzte Pound vor allem auf die Zeitschrift Poetry, gegründet 1912, und die Little Revue, die die bildschöne Margret Anderson als radikal-avantgardistisches Unternehmen 1914 gestartet hatte. Ab April 1918 erschien in ihr der Ulysses von James Joyce als Vorabdruck, was der Zeitschrift 1920 ein Gerichtsverfahren einbrachte. Beide Zeitschriften spielten eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung dreier bedeutender amerikanischer Lyriker. Da ist zunächst einmal Vachel Lindsay: Ein dichtender Vagabund aus Springfield, Illinois (1879 bis 1931), der 1913 mit dem Gedicht »General William Booth geht in den Himmel« eine Ballade auf den Gründer der Heilsarmee schrieb und dessen vielleicht berühmteste Verse »The Congo« den in dieser Zeit in Chicago aufkommenden Jazzrhythmus in ein episches Gedicht einfließen ließen.
»FAT black bucks in a wine-barrel room,
Barrel-house kings, with feet unstable,
Sagged and reeled and pounded on the table,
Pounded on the table,
Beat an empty barrel with the handle of a broom,
Hard as they were able,
Boom, boom, BOOM,
With a silk umbrella and the handle of a broom,
Boomlay, boomlay, boomlay, BOOM.
THEN I had religion, THEN I had a vision.
I could not turn from their revel in derision.
THEN I SAW THE CONGO, CREEPING THROUGH THE BLACK,
CUTTING THROUGH THE JUNGLE WITH A GOLDEN TRACK ...!«
Heute findet man vor allem seine Absicht, eine mündliche Tradition in der Lyrik wiederzubeleben, interessant. Zwei seiner populärsten Gedichte, »The Congo« und »The Santa Fe-Trail«, hat er selbst als den Versuch bezeichnet, die Vaudeville-Form auf die halb ausgesungene Lyrik der alten Griechen zurückzuführen. Viele seiner Gedichte tragen den Vermerk, man müsse sie unbedingt laut und in einer Art Sprechgesang vortragen.
Der zweite Dichter der Chicago-Renaissance ist Edward Lee Masters. Er wurde 1869 in Garnett, Kansas, geboren, wuchs in Kleinstädten des Mittelwestens auf und war zwischen 1891 und 1920 Anwalt in Chicago. Sein bekanntestes Werk ist der 246 Gedichte in freiem Rhythmus umfassende Zyklus Spoonriver Anthology (deutscher Titel: Die Toten von Spoon River). In seinen Gedichten kommen die Einwohner einer fiktiven amerikanischen Kleinstadt zu Wort, die gewissermaßen aus dem Grab heraus Rückschau auf ihr Leben halten und, indem sie von ihren Frustrationen, ihrer Isolation und der Macht des Neides berichten, den Mythos von der kleinstädtischen Idylle aufheben. Masters ist in der Tradition eines Walt Whitman zu sehen; seine realistische, desillusionierende Lyrik bildet das Verbindungsglied zu Sherwood Anderson und seinem Werk Winesburg, Ohio. In ge-wissem Sinn war dieser, von seinem Schüler allerdings verspottet, Ernest Hemingways Lehrer. Hemingway stammt aus Oakpark, einem vornehmen ländlichen Vorort von Chicago. Die Landschaft der Prärie und des Michigan-Sees bilden die Kulisse für viele seiner Kurzgeschichten.
Die Zeitschrift Poetry war es, die schon 1914 die Eröffnungsverse aus den Chicago Poems von Carl Sandburg ihren Lesern vorstellte. Sandburg, Sohn eines eingewanderten Eisenbahnarbeiters, der später auch durch seine dreibändige Abraham Lincoln-Biographie bekannt wurde, wurde zum repräsentativen Lyriker seiner Generation im Mittelwesten. Auch er kam aus der Tradition eines Walt Whitman und versuchte, aus der Umgangssprache seine Lyrik zu formen. Voller Pathos verstand er sich als der Barde des einfachen Mannes. Verse wie »Schweinemetzger für die Welt // Werkzeugmacher, Weizenstapler, Spieler mit Eisenbahnen und Frachtverteiler der Nation // Stürmisch, rüde, lärmerfüllt // Stadt der breiten Schultern« kennt noch heute jeder lokalpatriotisch gesinnte Einwohner Chicagos auswendig. Dass die akademischen Kritiker in New York über solche Zeilen die Nasen rümpften, focht den Dichter nicht an, der darauf erwiderte: »Hier haben wir den Unterschied zwischen uns und Dante. Dieser schrieb eine Menge über die Hölle, ohne sie je gesehen zu haben. Wir schreiben über Chicago, nachdem wir uns genau dort umgesehen haben.«
Für den berühmten amerikanischen Literaturkritiker Henry Louis Mencken aber war Chicago, und das nicht zuletzt wegen Carl Sandburgs Lyrik, zwischen 1910 und 1920 fast so etwas wie die literarische Hauptstadt der USA. Er schrieb: »Finde einen Schriftsteller, der mit jedem Pulsschlag, jedem Schnaufer, mit all seinen Drüsen ein unzweifelhafter Amerikaner ist. Der etwas Neues und eigentümlich Amerikanisches zu sagen hat, und in neun von zehn Fällen wirst du entdecken, dass er in irgendeiner Art von Beziehung steht zu jenem gargantuanisch-überbordenden Schlachthaus am Michigan-See, dass er dort in die Welt gesetzt wurde oder dort angefangen hat oder durch die Stadt hindurchgegangen ist, in jenen Tagen, da sie jung und biegsam war ...«
Als Carl Sandburg 1967 starb, wurde seine Nachfolgerin als poeta laureatus des Staates Illinois Gwendolyne Brooks, geboren 1917 in Kansas: eine elegante Dichterin aus dem schwarzen Chicago. Die repressive Gesellschaftsordnung der Stadt findet vor allem in der Prosa von Richard Wright (1908 bis 1960) ihren Ausdruck. Man hat seinen bekanntesten Roman Native Son, erschienen 1940, die Geschichte eines jungen Schwarzen von der Südseite, der zum Mörder wird, Dreisers American Tragedy aus der Generation davor gegenübergestellt. In den Elendsquartieren der polnischen Einwanderer Chicagos spielt der bekannteste Roman von Nelson Algren (geboren 1909 in Detroit), Der Mann mit dem goldenen Arm, der zum ersten Mal überzeugend und ohne Beschönigung das Rauschgiftproblem in den amerikanischen Slums darstellte.
Der berühmteste Romancier Chicagos freilich ist der 1976 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete, in Kanada geborene, aber schon als Kind in die Stadt gekommene Saul Bellow. Ein Satz aus seinen Romanen, die die finsteren Seiten der Stadt besingen, gibt überzeugend die Atmosphäre in den schwarzen Ghetto-Vierteln der Südseite während der 50er und 60er Jahre wieder: »Wohnhäuser loderten in Oakwood mit großen Flammenschals, die Sirenen jaulten unheimlich, die Feuerwehr, Krankenautos und Polizeiwagen – eine Tolle-Hunde-, Lange-Messer-, Notzucht- und Mordnacht. Tausende von Hydranten offen, die aus beiden Brüsten Wasser sprühten. Die Ingenieure waren verblüfft, wie der Spiegel des Lake Michigan fiel, als diese Tonnen von Wasser sich ergossen. Kinder lauerten mit Handfeuerwaffen und Messern.«
6. Chicagos Slums in den 60er Jahren
Hier kann ich mit eigenen Erfahrungen aus dem Jahr 1968 aufwarten. In meinem Tagebuch habe ich damals notiert: »... Dann also schon heute hinaus ins Southend, wo ich mich in dem Jugendzentrum eines Ghettoviertels ein paar Tage umsehen soll. Die Entfernungen in dieser Stadt sind gewaltig. Im Bus werden es immer weniger Weiße, immer mehr Schwarze steigen zu. Schließlich bin ich der einzige Hellhäutige hier. Ein seltsames Gefühl, einmal die Minderheit zu sein. Nicht, dass mir Irgendjemand zu nahe treten würde, nicht, dass mich Jemand anstarrt. Es ist viel undramatischer. Man ist ein Einzelner, und die anderen sind viele. Ich begreife auf dieser Busfahrt zum ersten Mal ganz deutlich, was es heißt, zu einer Minderheit zu gehören, die sich schon durch ihre Hautfarbe verrät. Und in dieser Situation sind Schwarze in diesem Land ein ganzes Leben lang.
Das Viertel, in dem das Jugendzentrum liegt, ist zwanzig Minuten vom Stadtzentrum entfernt und längst noch nicht am Stadtrand. Die Häuser sind aus Holz und zerfallen, die Fensterscheiben meist eingeschlagen und durch Pappe, Blech oder Fliegendraht ersetzt. Auf der Straße liegt Unrat. Am Straßenrand noch die ausgebrannten Autowracks von den letzten Unruhen. Es wimmelt von Kindern. Die Menschen sitzen apathisch vor ihren Häusern. Es ist heiß, jetzt im August, über 30 Grad im Schatten. Die Luft ist feucht und stinkt. Der Laden an der Ecke ist ein Schnapsgeschäft, davor torkeln ein paar Betrunkene herum.
Der Leiter des Jugendzentrums sagt: ›Ich kämpfe hier auf verlorenem Posten. Hier ist nichts zu retten. Die Verhältnisse sind stärker als das bisschen Flickwerk, das wir leisten können. Ich weiß nicht, wie lange ich es hier noch aushalte.‹ Dieser junge Schwarze hat mit viel Idealismus seine Tätigkeit als Sozialarbeiter begonnen. Nun ist er am Ende seiner Kräfte. ›Das Beste wäre‹, erklärt er resignierend, ›das ganze Viertel würde eines Tages abbrennen.‹
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»Große Teile der South Side und der Near West-Side umfassen die schwarzen Ghettos, die ausgedehntesten im ganzen Land. Es gibt kleinere Ghetto-Bezirke in anderen Teilen der Stadt. Das ist natürlich inoffiziell. Der (ehemalige) Bürgermeister Richard J. Daley verkündete am 4. Juli 1963: ›Es gibt keine Ghettos in Chicago!‹«
Studs Terkel,
Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen
Etwas tun? Feuer legen vielleicht. Alle Häuser sind überbelegt: Zwischen zwölf und achtzehn Menschen in zwei, manchmal in drei Zimmern zusammengepfercht – das ist die Regel.
Die Zahl der unehelichen Geburten ist hier fast so hoch, wie die der ehelichen. Die Männer kommen und gehen, die Frauen und Kinder bleiben, und es werden immer mehr hungrige Mäuler. Die Arbeitslosenziffer in diesem Bezirk (damals, im Sommer 1968), in dem schätzungsweise zehn- bis zwölftausend Menschen mehr vegetieren als leben, liegt bei 85 Prozent.
Aber in nahezu jeder Wohnung gibt es einen Fernsehapparat, oft ist er fast das einzige Inventar. Meist ist er noch nicht bezahlt, und auf den Raten liegen Wucherzinsen. Auf dem Bildschirm sieht der Slumbewohner fast 24 Stunden am Tag das üppige Angebot der Konsumgesellschaft vorbeiflimmern; Autos, Kühlschränke, Motorboote, ein Grundstück an einem Waldsee – eine narrende, verhöhnende Fata Morgana.
Weil die Schwarzen auf schlechte Wohngebiete verwiesen sind, ist ihre familiäre Situation nicht selten chaotisch. Weil die Familienverhältnisse zerrüttet, die Wohnung miserabel, das Einkommen der Eltern unzureichend ist und somit nicht einmal die nötigsten Kleidungsstücke angeschafft werden können, gehen viele Kinder nur unregelmäßig zur Schule. Manchmal auch gar nicht.
Es ist halb sechs Uhr abends. Der Leiter des Jugendzentrums hat seiner Gruppe versprochen, mit ihr an den Michigan-See zum Baden zu fahren. Er kann mich nicht mit dem Auto in die City zurückbringen. Ich laufe zur Bushaltestelle, und es wird ein Spießrutenlaufen. Ich bin normal gekleidet, nicht auffällig, aber für diese Leute hier ist allein meine ganz normale Kleidung und meine weiße Haut eine unerhörte, mir auch völlig verständliche Provokation. Sie werfen Steine nach mir, sie spucken mich an. Sie brüllen mir Schimpfnamen ins Gesicht. Es würde mich nicht wundern, wenn sie versuchten, mich totzuschlagen. Es ist eine Wegstrecke von fünf oder sechs Minuten vom Jugendzentrum zur Bushaltestelle, aber ich frage mich allen Ernstes, ob ich mein Ziel lebendig erreichen werde.
Ich denke immer wieder: Dieser Zorn ... Sie haben ja recht. Es muss so sein. Es ist zwangsläufig, wenn du hier lebtest, nach ein, zwei Monaten wärst du auch so. ›Du Narr‹, sagt Alice abends zu mir, als ich ihr meine Erlebnisse erzähle, ›du Narr, dort wäre dir niemand zu Hilfe gekommen. Dorthin wagt sich nicht einmal die Polizei.‹«
Als ich 1996 dort draußen vorbeifuhr, blieb nur Zeit für einen flüchtigen Blick auf dieses Viertel. Ich kam mir ziemlich schäbig vor, als ich da hinter Glas vorbeisegelte. Schäbig, weil ich zu feige gewesen war, hinauszufahren und nachzusehen, wie es heute steht.