Kitabı oku: «Im Reich der hungrigen Geister», sayfa 2

Yazı tipi:

Die Vermeidung und Heilung von Traumata ist ein universelles Thema, das nicht auf eine bestimmte Klasse oder eine bestimmte ethnische Gruppe beschränkt ist. Je mehr ich über die Lebensweise der Ureinwohner erfahre, umso mehr überkommt mich in der Tat oft der Gedanke, dass wir uns selbst schaden, wenn wir Kulturen ablehnen, deren zentrale Lehren und Werte einen Beitrag zur Heilung unserer Welt leisten können, sofern sie von der modernen Gesellschaft geschätzt würden.

Obwohl dieses Buch bei seinem Erscheinen vor zehn Jahren immer noch umstritten war, sind das Konzept und die Praxis der Schadensminderung heute in ganz Kanada weitgehend akzeptiert, wenn auch immer noch nicht umfassend genug. Insite, damals Nordamerikas einziger betreuter Drogenkonsumraum, ist heute das Vorbild für viele solcher Einrichtungen, in denen Klienten ihre illegalen Substanzen ohne Angst vor Verhaftung oder Belästigung mitbringen können, wo sie saubere Nadeln und steriles Wasser zum Injizieren erhalten und wo sie im Falle einer Überdosis von geschultem Personal wiederbelebt werden.* Mehrere Studien haben die Wirksamkeit der Schadensminderung bei der Verhütung von Krankheiten, der Senkung der Gesundheitskosten und der Rettung von Leben nachgewiesen. In den letzten zwei Jahren, in denen ich die „hungrigen Geister“ schrieb, war ich Arzt in einem Entgiftungszentrum, das mit Insite zusammenarbeitet. Der damalige Premierminister Stephen Harper und seine Regierung waren entschlossen, das Zentrum zu schließen, wurden aber durch einen einstimmigen Beschluss des Obersten Gerichtshofs daran gehindert. Die Richter hielten Insite für eine wichtige medizinische Einrichtung.

Die Schadensminderung hat auch in den Vereinigten Staaten erhebliche Fortschritte gemacht. San Francisco wird bald die erste Stadt in den USA sein, die offiziell einen betreuten Drogenkonsumraum eröffnet; inoffiziell gibt es bereits solche Einrichtungen. Wie Dr. Henry, die Gesundheitsbeauftragte der Provinz British Columbia, sagt, besteht die Idee darin, „die Menschen am Leben zu erhalten, bis wir tatsächlich ein System aufbauen können, das Menschen mit Drogenkonsum, Abhängigkeiten und psychischen Gesundheitsproblemen hilft. Wie Ihr Buch aufzeigt, haben wir weder ein System, das verhindern kann, dass Menschen süchtig werden, noch eines, mit dem wir sie auf ihrem Weg ‚abholen‘ und sie in den verschiedenen Phasen der Genesung unterstützen können oder beim Versuch, ihr Leben zu gestalten, wenn sie psychische Probleme haben, süchtig sind oder mit beidem zu kämpfen haben“.

Aber egal, wie viele Einrichtungen es zur Schadensminderung auch geben mag, sie werden nicht ausreichen, um die Flut der Sucht einzudämmen, solange unser System Traumata und soziale Entwurzelung nicht als Ursachen des Problems erkennt und solange sich die Behandlungseinrichtungen hauptsächlich darauf konzentrieren, das Verhalten von süchtigen Menschen zu ändern, anstatt den Schmerz zu heilen, der dieses Verhalten steuert.

Vor vierzig Jahren habe ich mein Medizinstudium an der Universität von British Columbia abgeschlossen, ohne während der vier Studienjahre auch nur einmal etwas über psychische Traumata und ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und Entwicklung gehört zu haben. Einige Jahrzehnte später studierte meine Kollegin Dr. Henry Medizin an der Dalhousie University, an der anderen Küste von Kanada, anschließend in San Diego und Toronto. Auch sie hörte in all den Jahren ihres Studiums kein einziges Wort über Traumata. So schockierend es auch sein mag, es geht den meisten Medizinstudenten auch heute noch so, trotz aller Nachweise, die Traumata mit psychischen und physischen Krankheiten sowie Sucht in Verbindung bringen. Wie sollen Ärzte Menschen helfen, wenn sie keine Ausbildung erhalten, um die Ursachen der Probleme ihrer Patienten zu verstehen? Wie soll das System mit einer Epidemie umgehen, die es falsch einschätzt?

Wenn es um das Verständnis von Sucht geht, ist das Dilemma, die Ursachen nicht wahrhaben zu wollen, groß. Diese Abwehrhaltung verhindert, dass wir uns unserer eigenen Schmerzen und unserer dysfunktionalen Verhaltensweisen, mit denen wir uns vom Schmerz befreien wollen, bewusst werden. Dieses Versagen der Selbsterkenntnis bildet eine unsichtbare Grenze zwischen der Gesellschaft und den sozial ausgegrenzten Suchtkranken, was leider auch oft zwischen den Angehörigen der Gesundheitsberufe und ihren Patienten bzw. Klienten vorkommt.

Aus diesem Grund glaube ich, dass für manche Leser das Kapitel am schwierigsten ist, in dem ich meine eigene Kauf- und Arbeitssucht beschreibe – nur zwei der vielen Formen, wie sich eine Sucht äußern kann. Während viele dieses Kapitel erhellend finden, haben einige wenige negativ darauf reagiert. Jemand hat auf meiner Website gepostet: „Das Buch … fand ich gut, bis [der Autor] anfing, darüber zu reden, wie er Tausende von Dollar für Musik ausgegeben hat … Dadurch hat er bei mir völlig an Glaubwürdigkeit verloren.“ Oder wie ein Rezensent es ausdrückte: „Eine beiläufige Erwähnung dieser Schwächen hätte genügt. Maté ist als Arzt zu reflektierend, um seine Zwänge mit denen der Süchtigen, die er behandelt, auf eine Stufe zu stellen. Aber er siedelt sie mit einem gewissen Abstand auf demselben Kontinuum an und leistet meines Erachtens den Menschen, deren Wohlergehen wirklich durch ihre Süchte bedroht ist, damit einen Bärendienst.“

Auf den ersten Blick mag es für manche seltsam sein, „leichte“ Süchte mit tödlichem Drogenkonsum zu vergleichen, aber es ist in den letzten zehn Jahren allgemein anerkannt worden, dass Sucht viele Erscheinungsformen annehmen kann, von Substanzabhängigkeiten bis hin zu scheinbar „respektablen“ Zwängen, die allesamt der Gesundheit und dem Glück des Menschen schaden. Es gibt keine guten Süchte, keine sind bloße „Schwächen“. Alle Süchte verursachen Schaden. Jede Angewohnheit, die keinen Schaden verursacht, ist per Definition auch keine Sucht. Meine besondere Sucht nach dem zwanghaften Erwerb von klassischer Musik – der Erwerb der Musik, nicht die Liebe zur Musik an sich – hat mich dazu gebracht, Zeit und Geld zu verschwenden, meine Frau zu belügen, meine Kinder zu vernachlässigen und der Verantwortung gegenüber meinen Patienten entgegenzuwirken. Und was habe ich davon gehabt? Denselben dopamingetriebenen Kick aus Erregung, Nervenkitzel und Motivation, nach dem sich auch der Spieler, sex- oder kokainabhängige Süchtige sehnt. Diese vorübergehende Veränderung der neurochemischen Abläufe und des Geisteszustandes charakterisiert alle Arten von Sucht, von Drogen über Essen bis hin zu Selbstverletzungen: Das sind die Versuche, Körper und Geist zu regulieren, auf die Dr. van der Kolk verweist. (Es ist bezeichnend, dass meine crack-, meth- oder heroinabhängigen Patienten den Kopf schüttelten und lachten, als sie von meiner Hilflosigkeit angesichts meiner Kaufsucht hörten: „Hey Doc, ich verstehe, Sie sind genau wie wir anderen auch.“ Die Wahrheit ist, dass wir alle „genau wie wir anderen“ sind.)

Es gibt nur einen universellen Suchtprozess. Seine Erscheinungsformen sind vielfältig, von den sanfteren bis hin zu den lebensbedrohlichen, aber bei allen Süchten werden im Gehirn die gleichen Schaltkreise zur Schmerzlinderung, Belohnung und Motivation genutzt. Es entstehen die gleiche psychologische Dynamik der Scham und Verleugnung, die gleichen Verhaltensweisen der Ausreden und Unehrlichkeit. In allen Fällen fordert die Sucht den Preis des inneren Friedens, der Beschädigung von Beziehungen und des verminderten Selbstwertgefühls. Im Falle von Substanzabhängigen, sei es in der Knechtschaft von Nikotin, Alkohol oder illegalen Drogen, gefährdet die Sucht auch die körperliche Gesundheit. Nur mit einem breiteren Verständnis von Sucht und der Anerkennung ihrer Ursachen, die nicht in den Genen zu suchen sind oder eine Frage des freien Willens sind, sondern im menschlichen Leid liegen, entstehen Behandlungsansätze, die wirklich heilen könnten.

„Wir haben ein sehr fragmentiertes System der psychischen Gesundheit“, stellt Dr. Henry fest – eine Ansicht, die ich leider als nur allzu wahr teile. „[Wenn] die psychische Gesundheit die arme Schwester des Gesundheitssystems ist, dann ist Sucht wahrscheinlich die Cousine zweiten Grades, die in den Slums lebt.“

Voraussetzung für die Behandlung ist ein vielschichtiger Ansatz, der die Menschen so akzeptiert, wie sie sind. Für diejenigen, die nicht zur Abstinenz bereit sind, kann das Konzept der Schadensminderung ein Weg sein, für andere vielleicht ein Zwölf-Schritte-Programm, aber ohne gesetzliche oder moralische Nötigung der Teilnehmer. Wie Michael Pond in seinem ausgezeichneten Buch Wasted: An Alcohol Therapists Fight for Recovery in a Flawed Treatment System hervorhebt: „Verachtung gegenüber Drogenkonsumenten durchdringt unsere Kultur.“ Pond erlebte diese Verachtung selbst bei den Anonymen Alkoholikern (AA) und glaubt, dass dies ein Grund dafür sei, warum das Zwölf-Schritte-Programm bei ihm nie funktioniert hat – trotz der Kameradschaft, der selbstlosen Unterstützung und der Herzlichkeit, die ihm Einzelne in der Organisation entgegenbrachten. Das Konzept der AA war nie als Behandlungsmethode gedacht, sondern als eine Lebensweise für Menschen, die Befreiung aus der Abhängigkeit suchen. Niemand sollte dazu oder zu einer anderen Art der Genesung gezwungen werden.

Wenn Zwölf-Schritte-Programme nicht für jeden hilfreich sind – bei all ihrem Wert helfen sie nur einer Minderheit – was dann? Es gibt keine „Allheilmittel“ für die Herausforderung der Sucht. Für viele Opiatabhängige sind Ersatzbehandlungen mit Drogen wie Suboxon lebensrettend. (In British Columbia wurde den Ärzten ein großer Spielraum für die Verschreibung von Suboxon eingeräumt, das nur ein sehr geringes Risiko birgt.) Für einige Abhängige können Medikamente von Nutzen sein, verschiedene Formen der Beratung für andere, aber kein einzelner Ansatz garantiert den Erfolg. Jeder Abhängige muss genau dort „abgeholt“ und betreut werden, wo er sich in dem Moment befindet.

Die meisten Ärzte werden, wenn überhaupt, nur in geringem Maß zum Thema Sucht ausgebildet, obwohl die Sucht folgenschwere Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit, die Langlebigkeit, die Produktivität und das Familienleben hat. Die wenigen Ausgebildeten haben in Bezug auf die biologischen Zusammenhänge nur begrenzte Kenntnisse erworben. Würde man mich bitten, ein umfassendes System zur Behandlung der heutigen Substanzabhängigkeit zu entwerfen, und zwar auch für die verheerenderen „verhaltensbezogenen Süchte“ wie etwa Glücksspiel oder zwanghafte Sexualität, so würde es folgende Merkmale aufweisen:

• Ärzte, Therapeuten, Psychologen, Pädagogen, Rechtsanwälte, Richter und alle Strafverfolgungsbeamten werden in Denkansätzen geschult, die Informationen über Traumata berücksichtigen.

• Naloxon und andere Maßnahmen der Schadensminderung werden weithin verfügbar sein. Einrichtungen zur Schadensminderung werden in allen größeren Gemeinden eingerichtet. Die Substitutionsbehandlung mit Opiaten wird jedem, der sich dafür qualifiziert, ohne Weiteres angeboten.

• Entgiftungseinrichtungen mit niedrigschwelligem und schnellem Zugang werden in vielen Gemeinden eröffnet.

• Abgestufte Einrichtungen werden etabliert, in denen die Patienten von der Entgiftung zur Traumaheilung übergehen können sowie Beratung und Unterstützung beim Umgang mit persönlichen und sozialen Beziehungen erhalten.

• Die Betroffenen werden in Selbstfürsorge unterrichtet, einschließlich gesunder Ernährung und Körperarbeit wie Yoga oder Kampfsportarten, zusammen mit Achtsamkeitsübungen wie Meditation.

• Die falsche Trennung zwischen Fragen der psychischen Gesundheit und denen der Sucht – die in vielen Einrichtungen und Behandlungszentren praktiziert wird – muss beendet werden. Sie sind untrennbar miteinander verbunden: Oft fungieren Letztere als Selbstmedikation für Erstere. Beide haben ihren Ursprung in einem Trauma und müssen gleichzeitig und gemeinsam angegangen werden.

• Da das süchtige Gehirn von Kindheit an geschädigt wurde und vor allem Drogen das Gehirn weiter schädigen, muss die Rehabilitation als ein langfristiges Unterfangen betrachtet werden, das eine geduldige und mitfühlende Umsetzung erfordert.

• Statt den einzelnen Süchtigen als das Problem zu sehen, werden die Großfamilien ermutigt, die Sucht als Frage eines generationsübergreifenden Traumas zu erkennen und daher als Gelegenheit, viele zu heilen, nicht nur den einen.

• Aus Sicht der Prävention werden gefährdete junge Familien erkannt sowie emotional und, wenn nötig, auch finanziell unterstützt. Wie ich in Appendix III dieses Buches darlege, muss die Prävention bereits bei der ersten Vorsorgeuntersuchung in der Schwangerschaft beginnen. Lehrer und Schulpersonal werden darin geschult, die Anzeichen von frühen Traumata bei Kindern zu erkennen, und von den Schulen werden gefährdeten Kindern und Jugendlichen Hilfsmaßnahmen und -programme angeboten. Alle Mitarbeiter, die mit Kleinkindern zu tun haben, werden darin geschult, die menschliche Entwicklung und psychologischen Grundbedürfnisse zu verstehen.

• Es werden Sozialprogramme eingerichtet, die dem Bedürfnis junger Menschen nach Beziehungen, Anleitung durch Erwachsene und sinnvollen Aktivitäten entsprechen.

Wir könnten viel gewinnen, wenn wir die Widerstandsfähigkeit und die uralten Lehren derer respektieren würden, die am meisten unter Traumata, Entwurzelung und Sucht gelitten haben: der Ureinwohner unter uns. Ihre Werte betonen stets den Gemeinschaftssinn und nicht den rücksichtslosen Individualismus, die Wiedereingliederung des Übeltäters in die Gemeinschaft und nicht die Vergeltung, die Integration und nicht die Trennung und, was am wichtigsten ist, eine Sichtweise des Menschen, die unsere körperlichen mit unseren geistigen, emotionalen und spirituellen Bedürfnissen in Einklang bringt. Je mehr ich die neuesten wissenschaftlichen Forschungen über die menschliche Entwicklung, das Gehirn, die Gesundheit und die Verbindungen zwischen dem Individuum und dem sozialen Milieu verinnerliche, desto größer ist meine Achtung vor den traditionellen Praktiken derer, die wir kolonisiert und deren Kultur wir nach Kräften versucht haben zu zerstören. Bei ihnen gab es vor der Kolonialisierung keine Abhängigkeiten.

Seit der ersten Veröffentlichung dieses Buches vor zehn Jahren habe ich auch über die Heilung von Süchten durch traditionelle Pflanzen der Schamanen und Praktiken aus Südamerika und Afrika wie Ayahuasca und Iboga dazugelernt. Meine Arbeit mit diesen Pflanzen war Gegenstand eines landesweit ausgestrahlten Dokumentarfilmprogramms der CBC über Die Natur der Dinge. In letzter Zeit ist viel über solche Praktiken geschrieben worden, und ich werde in meinem nächsten Buch The Myth of Normal: Being Healthy in an Insane Culture, das gerade in Arbeit ist, mehr zu diesem Thema sagen. Diese Pflanzen sind kein Allheilmittel, aber wir wären töricht, sie zu ignorieren. In einem kurzen Beitrag für The Globe and Mail habe ich es folgendermaßen formuliert: „Viele Weisheitslehren der Ureinwohner beruhen auf einem ganzheitlichen Verständnis. Wie alle auf Pflanzen basierenden indigenen Praktiken auf der ganzen Welt entspringt der Gebrauch von Ayahuasca einer Tradition, in der Geist und Körper als untrennbar angesehen werden. Ich habe miterlebt, wie Menschen ihre Sucht nach Substanzen, Sex und anderen selbstschädigenden Verhaltensweisen … überwunden haben. Im entsprechenden zeremoniellen Rahmen kann Ayahuasca in wenigen Sitzungen erreichen, was in vielen Jahren der Psychotherapie nur angestrebt werden kann.“

Wie ich eingangs erwähnt habe, sind meine Begegnungen mit trauernden Eltern – und es gab viele – für mich persönlich immer am bewegendsten. Da Süchte, sei es nach Substanzen oder Handlungen wie Glücksspiel, Sex, Essen – eigentlich egal wonach – in Schmerzen wurzeln, die in so vielen Fällen durch Leiden in der Kindheit hervorgerufen wurden, erwartet man vielleicht nicht, dass viele Eltern, die erwachsene Kinder durch Sucht verloren haben, Bestätigung für die Inhalte meines Buches geäußert und Verständnis gezeigt haben, statt verletzt oder wütend zu sein oder sich selbst für schuldig zu halten. „Die hungrigen Geister“ soll niemanden beschuldigen, sondern sich mit der gequälten Menschheit verbünden, um zu zeigen, dass Sucht eine der häufigsten und menschlichsten Ausdrucksformen von Leid ist. Es geht nicht darum, Vorwürfe zu machen, sondern nur um die zugrundeliegende Realität, dass Leiden generationsübergreifend ist, dass wir es unwissentlich weitergeben, bis wir es begreifen und die Glieder in der Übertragungskette innerhalb der Familie, Gemeinschaft oder Gesellschaft unterbrechen. Eltern Vorwürfe zu machen, ist in emotionaler Hinsicht herzlos und wissenschaftlich falsch. Alle Eltern tun ihr Bestes, nur ist unser Bestes durch unser eigenes ungelöstes oder unbewusstes Trauma begrenzt. Das ist es, was wir unwissentlich unseren Kindern vererben, so wie ich es selbst getan habe. Die gute Nachricht in diesem Buch, wie auch in vielen anderen Quellen, ist, dass Traumata und Trennungen von der Familie geheilt werden können. Unter den richtigen Bedingungen, so wissen wir heute, kann sich das Gehirn selbst heilen.

Ich vertraue darauf, dass Im Reich der hungrigen Geister auch weiterhin viele Menschen erreicht, um seine heilende Botschaft zu vermitteln, die auf emotionalen, psychologischen, sozialen und wissenschaftlichen Wahrheiten beruht. Wahrheit, wie wir wissen, bringt Freiheit, auch wenn sie Schmerz hervorrufen kann.

Süchte entstehen durch verhinderte Liebe, durch unsere blockierte Fähigkeit, Kinder so zu lieben, wie sie geliebt werden müssen, durch unsere blockierte Fähigkeit, uns selbst und einander so zu lieben, wie wir alle es brauchen. Die Öffnung unserer Herzen ist der Weg zur Heilung von Sucht – die Öffnung unseres Mitgefühls für den Schmerz in uns selbst und den Schmerz um uns herum.

Gabor Maté, Vancouver, April 2018

PS: In Downtown Eastside gehen die Tragödien und Wunder weiter. „Serena“, deren Geschichte in Kapitel 4 erzählt wird, starb kurz nach der Veröffentlichung von Im Reich der hungrigen Geister an einem HIV-induzierten Hirnabszess. „Celia“, die in Kapitel 5 schwanger ist, ist auf wundersame Weise wieder mit einer Tochter zusammengekommen, die sie vor drei Jahrzehnten zur Adoption freigegeben hatte. Es wird niemanden überraschen, dass die Tochter – die das Buch ursprünglich gelesen hatte, ohne zu erkennen, dass ihre Mutter darin dargestellt wurde – selbst mit Sucht zu kämpfen hat. Sie lebt in Ottawa und steht regelmäßig mit mir in Kontakt, während sie Schritte zur Genesung unternimmt. Ich hoffe, dass sie dem Schicksal ihrer Mutter entgehen kann.

* Der weltweit erste betreute Drogenkonsumraum wurde 1986 in Bern eröffnet. Im Jahr 1994 entstand in Hamburg Deutschlands erster Konsumraum, in dem Süchtige mit sauberen Spritzen versorgt werden.

Die hungrigen Geister:
Im Reich der Süchte

Der Cassius dort hat einen hohlen Blick.

WILLIAM SHAKESPEARE

Julius Cäsar


Das buddhistische Lebensrad in Gestalt eines Mandalas durchläuft sechs Bereiche. Jeder Bereich wird von Charakteren bevölkert, die Aspekte der menschlichen Existenz repräsentieren – unsere verschiedenen Wege des Seins. In der Welt der Tiere werden wir von grundlegenden Überlebensinstinkten und Begierden wie physischem Hunger und Sexualität getrieben, dem, was Freud das Es nannte. Die Wesen des Höllenreichs sind in Zuständen unerträglicher Wut und Angst gefangen. In der Welt der Götter transzendieren wir unsere Sorgen und unser Ego durch sinnliche, ästhetische oder religiöse Erfahrungen, aber nur vorübergehend und in Unkenntnis der spirituellen Wahrheit. Selbst dieser beneidenswerte Zustand ist von Verlust und Leid geprägt.

Die Bewohner der Welt der Hungergeister werden als Kreaturen mit dürren Hälsen, kleinen Mündern, abgemagerten Gliedmaßen und großen, aufgeblähten, leeren Bäuchen dargestellt. Dies ist der Bereich der Sucht, in dem wir ständig nach etwas außerhalb von uns selbst suchen, um die unstillbare Sehnsucht nach Erlösung oder Erfüllung zu dämpfen. Die schmerzende Leere ist immerwährend, weil die Substanzen, Objekte oder Bestrebungen, von denen wir hoffen, dass sie sie lindern, nicht das sind, was wir wirklich brauchen. Wir wissen nicht, was wir brauchen, und solange wir uns im Zustand der hungrigen Geister befinden, werden wir es nie wissen. Wir geistern durch unser Leben, ohne vollständig präsent zu sein.

Manche Menschen verbringen einen Großteil ihres Lebens in dem einen oder anderen Bereich. Viele von uns bewegen sich zwischen ihnen hin und her, vielleicht sogar durch alle hindurch, im Laufe eines einzigen Tages.

Meine medizinische Arbeit mit Drogensüchtigen in Vancouvers Stadtteil Downtown Eastside hat mir die einzigartige Gelegenheit gegeben, Menschen kennenzulernen, die fast ihre ganze Zeit als Hungergeister verbringen. Es ist ihr Versuch, so glaube ich, dem Höllenreich mit seiner überwältigenden Angst, Wut und Verzweiflung zu entkommen. Die schmerzhafte Sehnsucht in ihren Herzen spiegelt etwas von der Leere wider, die auch Menschen mit einem scheinbar glücklicheren Leben erfahren können. Diejenigen, die wir als „Junkies“ abtun, sind keine Geschöpfe aus einer anderen Welt, sondern nur Männer und Frauen, die am äußersten Ende eines Kontinuums feststecken, auf dem wir uns alle hier oder dort durchaus wiederfinden könnten. Das kann ich persönlich bezeugen. „Sie schleichen mit einem hungrigen Blick um Ihr Leben herum“, sagte einmal jemand zu mir, der mir nahestand. Angesichts der schädlichen Zwänge meiner Patienten musste ich mich mit meinen eigenen auseinandersetzen.

Keine Gesellschaft kann sich selbst verstehen, ohne ihre Schattenseiten zu betrachten. Ich glaube, dass allen derselbe Suchtprozess zugrunde liegt, sei es der Abhängigkeit meiner Downtown-Eastside-Patienten von tödlichen Substanzen, der verzweifelten Selbstbefriedigung durch übermäßiges Essen oder dem zwanghaften Shoppen, der Besessenheit von Spielern, Sexsüchtigen und zwanghaften Internetnutzern oder dem gesellschaftlich akzeptablen und sogar bewunderten Verhalten von Workaholics. Drogensüchtige werden oft abgelehnt und abgewertet, als verdienten sie kein Mitgefühl und keinen Respekt. Mit dem Erzählen ihrer Geschichten verfolge ich eine doppelte Absicht: Ich möchte dazu beitragen, dass ihre Stimmen gehört werden, und ich möchte Licht bringen in den Ursprung und das Wesen ihres unglückseligen Kampfes um die Überwindung ihres Leidens durch Drogenmissbrauch. Sie haben viel gemeinsam mit der Gesellschaft, die sie ausgrenzt. Auch wenn sie scheinbar einen Weg ins Nichts gewählt haben, haben sie uns anderen noch viel beizubringen. Im dunklen Spiegel ihres Lebens können wir unsere eigenen Umrisse erkennen.

Es gibt eine Reihe von Fragen, die zu berücksichtigen sind, zum Beispiel:

• Was sind die Ursachen von Süchten?

• Was ist das Wesen der suchtgefährdeten Persönlichkeit?

• Was geschieht physiologisch in den Gehirnen von Suchtkranken?

• Wie viele Wahlmöglichkeiten hat der Süchtige wirklich?

• Warum ist der „Kampf gegen Drogen“ ein Fehlschlag und was könnte ein humaner, evidenzbasierter Ansatz zur Behandlung schwerer Drogenabhängigkeit sein?

• Wie könnten einige Süchtige, die nicht von starken Substanzen abhängig sind, erlöst werden – das heißt, wie nähern wir uns der Heilung der vielen Verhaltensabhängigkeiten, die durch unsere Kultur gefördert werden?

Die erzählerischen Passagen in diesem Buch basieren auf meinen Erfahrungen als Arzt im Drogenghetto von Vancouver und auf ausführlichen Interviews mit meinen Patienten – von denen es mehr gibt, als ich anführen kann. Viele von ihnen haben sich freiwillig gemeldet, in der großzügigen Hoffnung, dass ihre Lebensgeschichte anderen helfen könnte, die mit Suchtproblemen zu kämpfen haben, oder dass sie dazu beitragen könnten, die Gesellschaft über Suchterfahrung aufzuklären. Ich präsentiere auch Informationen, Reflexionen und Einsichten, die ich aus vielen anderen Quellen gewonnen habe, einschließlich meines eigenen Suchtmusters. Und schließlich biete ich eine Synthese dessen, was wir aus der Forschungsliteratur über Sucht und die Entwicklung des menschlichen Gehirns und der Persönlichkeit lernen können.

Obwohl die Schlusskapitel Gedanken und Anregungen zur Heilung des süchtigen Geistes bieten, ist dieses Buch keine Anleitung. Ich kann nur sagen, was ich als Mensch gelernt habe, und beschreiben, was ich als Arzt erlebt und begriffen habe. Nicht jede Geschichte hat ein Happy End, wie der Leser herausfinden wird, aber die Entdeckungen der Wissenschaft, die Lehren des Herzens und die Offenbarungen der Seele versichern uns, dass jeder Mensch eine Chance auf Erlösung hat. Die Möglichkeit der Erneuerung besteht, solange es das Leben gibt. Wie wir diese Möglichkeit in anderen und in uns selbst fördern können, ist die ultimative Frage.

Ich widme diese Arbeit all meinen Hungergeister-Gefährten, seien es HIV-infizierte Obdachlose in den Innenstädten, Gefängnisinsassen oder ihre glücklicheren Pendants, die ein Zuhause, eine Familie, einen Arbeitsplatz und eine erfolgreiche Karriere haben. Mögen wir alle Frieden finden.