Kitabı oku: «Magdalenas Mosaik», sayfa 2
Haltepunkte
Der Schreibtisch hatte sie nie wirklich losgelassen. Ein sicherer Platz, der nicht verloren gegangen war. Zumindest nicht in Gedanken. An den Schreibtisch kehrte sie immer zurück. So wie andere Menschen sich zurücksehnen an eine Gartenbank unterm Kirschbaum, an einen Ohrensessel vor dem Radio oder an einen blumenduftenden Kaffeetisch? Bei ihr jedenfalls war es in erster Linie immer der Schreibtisch gewesen. Ein Stück Heimat und wahrscheinlich ein Haltefaden ihres verworren gewebten Lebens-Musters.
Früher hatte er seinen Platz in Vaters Arbeitszimmer vor dem Fenster mit dem weiten Blick über Osterode in Ostpreußen gehabt, später im Arbeitszimmer in den wechselnden Wohnungen beim lebhaften Uni-Zentrum Jenas, noch später in der ostpreußischen Schulstadt im Norden. Und jetzt in Hamburg, drei Stockwerke über dem quirligen Leben an der Ecke der Haynstraße zur Breitenfelder Straße mit Blick auf den kleinen Park vor dem Universitätskrankenhaus. Ein Stückchen Heimat, jawohl, aber Heimat, das war doch mehr. Heimat war, so hatte sie gelernt, mit dem Ort der Kindheit verknüpft. Aber ihr fielen gleich viele Orte ein. Heimat, nein, das war nicht nur das ostpreußische Osterode aus Kinderzeiten, das war auch hier. Ein Ort vieler glücklicher Erinnerungen, bedeutete das nicht Heimat? Ein Ort voller gebündelter Wohlfühl-Momente? Heimat, dachte sie, das muss doch nicht nur ein Ort sein, und es muss auch nicht die Kindheit sein. Heimat war eher an ihr inneres Erleben gebunden, das konnte sie jederzeit hervorkramen. Das war ihr Zuhause, wusste sie: Momente, die ein inneres Lächeln der glücklichen Zufriedenheit bedeuteten. Gab es eine innere Heimat voller Wohlfühl-Erinnerungen?
Sie sah auf ihre sehnigen Altershände, dieselben, die früher, klein und wissbegierig, die Kante des Schreibtisches erreicht hatten. Vorhin das Zusammensein mit der kleinen Enkelin auf der Chaiselongue, die runden Kinderfinger auf den Bilderbuchseiten, war das nicht fast wie eine Wiederholung des Anfangs gewesen?
Ein Leben kann mit der Kindheit beginnen, dachte sie amüsiert. Aber es kann auch, - später? - zwischendurch? - plötzlich? -, neu anfangen. Warum saß sie denn jetzt hier, so weit weg von allen früheren Vorstellungen? Saß also hier, - immerhin an jenem alten Schreibtisch, und stellte Gedanken über das Leben an? Das Leben: Kreuz und quer gestrickt oder zielstrebig geradeaus? Umwege, Sackgassen, Bergpfade und Schluchten, Hohlwege? All das eingearbeitet in ein Gewebe? Oder war es ein Spiel aus bunten Bauklötzen? Abenteuerliche Bauten, die unerwartet zusammenstürzten oder auseinander fallen konnten, auch wenn das Fundament immer ganz ordentlich haltbar ausgesehen hatte?
Ein rauchiges Räuspern riss sie aus ihren Grübeleien. „Kein Kaffee heute?“
Natürlich, da war ja noch jemand. Kaffee? Aber sicher. Schnell schob sie die alten Papiere zusammen, rückte energisch den Stuhl nach hinten und streckte den Rücken gerade. Der alte Herr im grünen Sessel am Spieltischchen hielt schon seine gewohnte Rettung zwischen den Fingern, in der anderen Hand den Zigarren-Schneider aus Messing.
„In Gedanken, Lenchen? Oder hast dich wieder festgelesen?“
Sie brauchten keine Worte. Sein Augenzwinkern, der liebevoll spöttische Mundwinkel. Eines der Fundamente, - oder wenigstens etwas, das zuverlässig davon übrig war. Schnell öffnete Lene die weiß gestrichene Tür, durchquerte den Korridor, der wie so oft kalt und dunkel war. In der Küche machte sie Licht, fingerte den Gasanzünder vom Haken und setzte Wasser im Kessel auf. Hinten vor dem winzigen Eckbalkon stand der Schemel, sie hatte die hölzerne Kaffeemühle schon zwischen den Knien, sog genussvoll den Duft ein. Richtiger Bohnenkaffee, den gab es jetzt zwar seit Jahren wieder, aber sie genoss ihn jedes Mal neu.
Ihr Blick ging hinaus über den viereckigen Hofplatz, von dem im Karree angelegten Klinkerbau eingefasst, hinunter auf die Teppichstangen und den Sandkasten, die Wiese, wo drei Kinder Fußball spielten. Kakis Jungens waren nicht dabei, sah sie. Und Kaki war auch nicht zu entdecken hinter dem Fenster schräg gegenüber. Die saß sicher fleißig an ihrer Nähmaschine in der Stube drüben.
Sie schüttete die kleine Schublade der Mühle in den Filter aus. Das Wasser kochte schon fast. Der Gasherd war immer fix. Während der Kaffee durchlief, füllte sie den blauen Teller aus der alten Blechdose nach, stellte Tassen und den Teller aufs Tablett und kehrte ins Wohnzimmer zurück. „Hab‘ noch Kekse.“
Aber der alte Herr saß nicht mehr dort. Ach, er war natürlich mit seinem neuen Werk beschäftigt. Sie lächelte. Über Langeweile konnten sie sich beide nicht beschweren. Waren wechselnd jeder für sich und auch zusammen zufrieden. Aber der Kaffee zwischendurch, das musste sein, das war ein Ritual.
Sie schob die Zeitungen auf dem runden Esstisch beiseite, setzte das Tablett ab, wandte sich wieder zur Küche. Wie der Kaffee duftete. Dann eilte sie über den Korridor. Hinten rechts war sein Zimmer, sie klinkte die Tür auf. „Ist schon fertig. - Enn? Kommst nu‘?“
Er verbrachte viel Zeit in seinem Atelier, seinem grünen Reich. Alle Besucher, die es zum ersten Mal sahen, blieben unweigerlich überrascht in der Tür stehen. Wie die Schwelle zu einem Märchen, wie Eintauchen in betäubenden Traum, duftend nach Farben, nach Zigarren, oft nach Rosen. Ästhetisches Chaos, genussvoll ausgebreitet, Wohlfühl-Zuhause und erfahrene Weltweite. Ein bisschen Maracaibo hier in Enns Atelier natürlich, dachte Lene, aber die ganze jetzige Wohnung ist auch ein bisschen Ostpreußen, ostpreußisches Osterode, nur nicht so unerreichbar wie das alte Ostpreußen es seit jetzt fast acht Jahren war. Und dann natürlich ein Stückchen Jena. Diese Wohnung wie ein Muster aus kleinen Fixpunkten, Haltepunkten, Erinnerungspunkten. Osterode auf jeden Fall, aber noch viel mehr. Vieles aus der anderen, letzten Heimat im Norden, fast am Haff, - nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.
Ernst saß vor der Staffelei, skizzierte etwas, die Pinsel steckten noch im Glas.
“Was wird das?“
Er schüttelte den Kopf, brummte etwas, stand auf. „Ein Waldstück vielleicht. Im Frühling – ?“
Sie lachte. „Sag nicht, dass ich in Gedanken bin. Du bist es genauso.“
Ernst folgte ihr ins Wohnzimmer, setzte sich aufs Kanapee, bugsierte seine langen Beine hinter den Tisch. Dort hatte Paul immer…, Kaffeestunden damals…, nein, sie wollte das jetzt nicht zulassen. Vorbei ist vorbei. Aber das Früher drängte sich immer wieder in die Gegenwart. Das war wohl so bei alten Leuten. War sie so alt? Mit 63 Jahren zu alt vielleicht für die Gegenwart? Sie straffte die Schultern, setzte sich gegenüber auf einen der hochlehnigen, kunstvoll gedrechselten Holzstühle, - auch die waren aus Osterode, hatten später in Jena gestanden, um den gleichen runden Tisch herum… Sie goss Kaffee ein und rückte den Teller in die Mitte.
„Kekse? Deine selbstgebackenen?“
„Die mit Haferflocken und Rosinen. Heute Morgen waren ja Lilo und Georg hier mit den Kindern.“ Sie lächelte. „Du magst doch auch immer Süßes.“
Er kaute schon. „Prima, fast wie bei Mutter.“
„Niemals.“
Sie lehnte sich zurück, nahm die Tasse in beide Hände, heiß dampfte es heraus. Dieser Duft.
Ernst nickte ihr zu. „Nicht mehr die olle Wasserplörre, was?“
„Oh, nee, wir sind hier vornehm bei den hanseatischen Leuten – Hanseoaten?“ Sie zögerte. Hamburgische Mundart hatte sie ab und an probiert, was meistens misslang. Ernst lachte, schüttelte den Kopf, nahm noch einen Keks und schwieg eine Weile. Seine Meta war ja eine waschechte Hamburger Deern gewesen, von ihr hatte er immer richtiges Hamburgisch mit allen S-pitzen S-teinen gehört. Wie lange war das her. Eine Ewigkeit - mit Südamerika dazwischen. Einen Seufzer konnte er nicht unterdrücken. Und dann die Kinder, als sie noch klein waren. Die inzwischen selbst Kinder hatten. „Wie schnell sie groß werden, die Lütten, die Enkel.“
„Schneller als wir damals auf jeden Fall.“
„Auch schneller als die eigenen Kinder, oder?“
Lene nickte. „Auf jeden Fall.“ Sie drehte die dampfende Kaffeetasse zwischen den Fingern, unversehens schweiften ihre Gedanken ab. Ihre Kinder Georg und Hanna, die waren ihr geblieben. Auch sie unbedingte Haltepunkte in ihrem Leben. Spätere. Es gab ein Noch-Früher. Eine Art Fundament, eine Basis-Linie. Damals im alten Ostpreußen, als alles noch seine Tradition und Ordnung hatte.
Ernst saß ihr gegenüber. Er sah im Geist wieder seinen Frühlingswald vor sich, der auf der Staffelei sein Grün erwartete.
Sie konnten auch zusammen schweigen. Den Gedanken hinterherlaufen. Auch ins Früher. …
Eines Tages ging Lenchens sehnlichster Wunsch in Erfüllung. Am 29. April 1895 wurde sie sechs Jahre alt. Das bedeutete: in diesem April durfte sie endlich zur Schule gehen.
Die alte Lene musste lächeln, wenn sie daran dachte, wie sie damals der Schule entgegengefiebert hatte. Endlich würde sie hinter das Geheimnis der Bücher kommen. Vaters Bücher in dem schwarzen hohen Regal und auf dem Schreibtisch in seinem Studierzimmer und weitere Bücher, die im Haus in verschiedenen Regalen auf sie warteten. Etwas lesen und einige Buchstaben kritzeln konnte sie natürlich längst, wozu hatte man schließlich große Geschwister in reicher Auswahl? Aber das genügte nicht. Die Geschwister waren oft genug hier und da unterwegs. Und der große Bruder Ernst war längst aus dem Haus, hatte sich in Hamburg zum Kaufmann ausbilden lassen und wollte jetzt, 1995, wahrscheinlich sogar nach Südamerika auswandern. Solche Entfernungen musste Lenchen auf dem Atlas suchen, es war ihr unvorstellbar. Sie selbst hatte erstmal hier genug zu tun. Es war üblich, den Geschwistern kleine Grüße auf Postkarten oder Briefen zu schreiben. Ja, das war ein weiterer wichtiger Grund unbedingt schreiben zu lernen.
Vermutlich während des ersten Schuljahrs, sobald sie einige Buchstaben irgendwie zusammenfügen konnte, entstanden spontan erste Briefchen, die sie sichtlich mühevoll zu Papier brachte, in krakeliger, spitzer, noch sehr ungelenker Schrift.
meine liebe mata ich gratuliere dier zum geburztag in der schule geht es mir gut heut hat mir die lote einen bratapwelgemacht grüße die grete auch denhans und den namfe die stubinsind ganz umgeändert ich schlawe mit mama und mit poc poc und lebe den wollen Danzig
(meine liebe Martha, ich gratuliere Dir zum Geburtstag. In der Schule geht es mir gut. Heut hat mir die Lotte einen Bratapfel gemacht. Grüße die Grete, auch den Hans. Und die Namen für die Stuben sind ganz umgeändert. Ich schlafe mit Mama und mit Poc Poc . Und lebe denn wohl in Danzig)
Deineliebelene
Darunter hatte Lenchen zwei weibliche Figuren gezeichnet: trese dore
Auf die Rückseite hatte Bruder Fritz einen kurzen Gruß geschrieben.
Im Herbst 1895 waren ihre Schrift und die Orthographie auch noch nicht viel besser:
Wieder hatte sie drei weibliche Gestalten gezeichnet: „ Trese“ „Dore“ „Lote“ (ihre drei anwesenden Schwestern, Martha war die vierte)
Auf der Rückseite steht krakelig und etwas rätselhaft:
liebe martha ich bin heute krank ich war heute nicht in der schule, ich hate kopfschmerzen
ich war beim geburtstag beinie schka ich gehe balt wieder zum geburtztag fritz ist schoninKöln, erst war er in belien, da hate frau flato iem zwanzich markgeschengt Deine liebe lene wüst
Martha, 1895 schon 20 Jahre alt, war also bereits außer Haus. Lotte mit 21 Jahren zwischenzeitlich zu Hause, Therese, 16 Jahre, und Dorothea, 15 Jahre, wohnten noch zu Hause, Fritz war 18 Jahre alt.
Die „städtische höhere Mädchenschule“ in Osterode war damals in einem alten Mietshaus untergebracht, das früher als Kaserne gedient hatte. Zu der Zeit von Lenes Einschulung war in Osterode das Schulwesen im Um- und Aufbruch. Alte Schulen wurden geändert, neue eingerichtet. Aber die Räumlichkeiten ließen oft noch zu wünschen übrig, die Einrichtung war häufig eher spartanisch, die hygienischen Verhältnisse lagen meist noch im Argen. Seit Lenes Vater 1877 dort in den Schuldienst gekommen war, hatte man bald die Knabenmittelschule aufgelöst und stattdessen unter Vaters Anweisungen und Ratschlägen die „höhere Bürgerschule“ eingerichtet. 1881 wurde diese in ein Real-Progymnasium umgewandelt und 1893 bis 1898 allmählich zu einem richtigen Gymnasium, zum Stolz der Stadt.
Darüber schrieb Lenes Vater, Ernst Leberecht Wüst, selbst in seiner Chronik.
Er besuchte im Spätherbst 1876 seinen schwer erkrankten Vater, den Pfarrer im Ruhestand Carl Theodor Gotthilf Wüst in Güttland. Gerade hatte er die Nachricht erhalten,
„dass ich zum Direktor einer neu zu errichtenden höheren Lehranstalt zu Osterode in Ostpreußen gewählt worden sei und dass ich zu Ostern 1877 mein neues Amt antreten sollte. Auf einem Lehnstuhle in der „Schlafstube“ dem nach Nordwesten gerichteten Eckzimmer, an dem Sophatische sitzend, sorgsam eingehüllt in wärmende Decken, besprach er (sein Vater) mit mir lebhaft und sachlich die neuen mich erwartenden Aufgaben, und als er die Schmerzen wiederkommen fühlte, bat er mich wohl im Bewusstsein, dass es hinnieden der letzte Abschied von ihm sein werde, vor seinem Sessel niederzuknieen, damit er mich segne, was er mit schlichten und einfachen aber umso eindringlicheren Worten tat, die auf mich, meine Mutter und Schwager Franz einen tiefen Eindruck machten.“
Im Dezember desselben Jahres starb der geliebte, verehrte Vater.
„Ostern 1877 brachen wir (die Familie lebte seit 1871 in Danzig und war inzwischen um Lotte und Martha, geboren 1874 und 1875, vergrößert, hatte also mit Ernst jetzt drei Kinder) also wieder einmal unser Zelt ab und verließen das uns so werte und liebe Danzig und zogen zurück nach dem kälteren Ostpreußen, nach dem kleinen Osterode, das nun bestimmt war, die Arbeit meines Lebens zu empfangen. 33 ½ Jahre habe ich in Osterode gewirkt und meine Aufgabe gelöst, die Mühe und Ausdauer erforderte, mit deren Lösung aber auch Freude, Anerkennung und erhebendes Selbstbewusstsein in reichem Maße verknüpft war. Ich habe in Osterode eine gehobene Mittelschule, die ich vorfand, in eine höhere Bürgerschule, diese in ein Real-Progymnasium, dieses in ein Realgymnasium und dieses schließlich in ein humanistisches Gymnasium umgewandelt, ich habe für die Schaffung eines Pensionsfonds für die Lehrer der neuen Anstalt gesorgt, habe es dahin gebracht, dass für die Witwen und Waisen der Lehrer durch Anschluss an die Provinzial Witwen- und Waisenkasse gesorgt wurde, ich habe darauf gedrungen, dass für die von Jahr zu Jahr an Schüler- und Klassenzahl wachsende junge Anstalt ein neues schönes Haus an der Hohensteiner Chaussee gebaut wurde und habe es schließlich durchgesetzt, dass die Anstalt, die städtisch war, obschon reich unterstützt durch Mittel des Staates, von diesem übernommen wurde, sodass ich bei meinem Scheiden aus dem Amt am 1. Mai 1911 als königlicher Gymnasialdirektor in den Ruhestand trat. Dass ich diese Erfolge nur mit Unterstützung aller beteiligten Kreise, der städtischen Behörde, der Bürgermeister Kotze, Frede, Demsky und namentlich Elwenspoer, der Mitglieder des Lehrkörpers und zuletzt aber in allererster Reihe durch die Förderung meiner Arbeit von Seiten der staatlichen Behörden, habe erreichen können, bedarf nicht des Nachweises….
Die Stadt Osterode, die nun unsere Heimat wurde, hat eine günstige Lage. Zwischen zwei Seen, dem Drewenz- und dem Pausensee, sich weit hinstreckend, von dem Drewenzflusse durchflossen, ist die Stadt auf sanft sich erhebenden Hügeln und in den Niederungen zwischen jenen aufgebaut, sodass ihre Straßen ansteigen und sich senken und man von den höheren Punkten einen freundlichen Blick über die tiefer liegenden Teile genießt. Besonders ruht das Auge mit Entzücken auf dem Drewenzsee mit seinen Einbuchtungen und seinen bewaldeten Ufern, wenn man sich in Straßen befindet oder auf Plätzen, die einen freieren Blick gewähren. Wer auf der Uferpromenade wandert und hinüberschaut nach Winchertsruh und dem Stadtpark und dem Walde bei Grünortspitze, wird immer wieder von der Schönheit des Bildes ergriffen werden, ob dunkler Himmel sich über dem Wasser wölbt oder die helle Sonne lacht, ob er bei Sonnenuntergang die wechselnden Beleuchtungen beobachtet oder am frühen Morgen die wallenden Nebel aus den Fluten auftauchen sieht. Unter den Häusern der Stadt, die dereinst im 13. Jahrhundert zur Zeit der Herrschaft des deutschen Ritterordens gegründet worden ist, ragten durch Größe und Bedeutung vor anderen hervor das Schloss, die alte Komturei, das Rathaus, die evangelische und die katholische Kirche, das Königliche Seminar, das Schulhaus für die neue Schule und einige wenige Privatgebäude. Im Ganzen waren, zumal in der ersten Zeit unseres Dortseins, die Häuser der Stadt unansehnlich und zum Teil in sehr schlechtem baulichem Zustand, was einen besonderen Grund hatte. Die Stadt war im Jahre 1788 am 21. Juli bis auf wenige Häuser durch eine furchtbare Feuersbrunst vernichtet worden, und der Neubau der Häuser hatte mit geringen Mitteln erfolgen müssen, sodass niedrig und dürftig gebaut wurde. Als wir im Frühjahr 1877 nach Osterode kamen, hatte die Stadt etwa 5000 Einwohner, als wir 1910 die Stadt verließen, war ihre Zahl auf 15000 gestiegen. Namentlich als Osterode Garnison erhielt und ein ganzes Regiment und ein Bataillon in die Stadt gelegt wurde, nahm die Einwohnerzahl schnell zu, da nun Kaufleute und Handwerker besseren und sicheren Verdienst erhielten. In den 33 Jahren, die wir in Osterode zugebracht haben, hat die Stadt ihr Aussehen ganz und gar geändert, sodass der Ort, der früher einen ärmlichen und schmutzigen Charakter zeigte, sich zu einer freundlichen und sauberen Landstadt entwickelt hat, eine Folge vor allen Dingen der unermüdlichen Tätigkeit des Bürgermeisters Elwenspoer, der in jeder Weise die Stadt zu heben bemüht gewesen ist.“
Die damals fünfköpfige Familie bezog eine geräumige Dienstwohnung im östlichen Anbau desselben mächtig großen Hauses, in welchem die neu gegründete Schule ihr Heim hatte. Hier wurden 1877 der Sohn Fritz, dann 1879 und 1880 die Töchter Therese und Dorothea geboren. Und hier erblickte Lenchen als Jüngste 1889 das Licht der Familien- und dann der größeren Welt.
Das Familien-Nest
Umgeben von Papieren und Büchern hatte Lene sich noch nie allein gefühlt. Auch jetzt in Hamburg nicht. Nein, das Leben war noch nicht vorbei, sondern voller unerledigter Aufgaben. Da lag die Tageszeitung, das neue Merian-Heft, der aufgeschlagene Artikel zu den Eigenheiten und Charakteristiken ostpreußischer Stadtanlagen, der Artikel zur Frauenbewegung, und im Hintergrund der Stapel alter Briefe. Die hatte sie sich vorhin herausgesucht. Obenauf ein vergilbter Umschlag mit der sorgfältigen, ordentlichen, aber ausgeschriebenen Lehrer-Schnellschrift ihres Vaters. Wie sich die Familie in Osterode wohlfühlte, wurde nicht nur in der Chronik, sondern auch in diesem Brief ihres Vaters deutlich. Und hier zeigte sich, - anders als in der Chronik -, eine ungemein sympathische Seite des Vaters, nämlich seine Liebe zur Familie, zu seinen Kindern.
Behutsam strich Lene mit den Fingern darüber, zog das dünne Papier aus dem Umschlag. Ihr Vaters, Ernst Leberecht Wüst, schrieb an seine Mutter Paulina Mathilda, also Lenes Großmutter. Ein Brief von 1893, mitten aus dem Leben ihres Vaters heraus. Er war damals 49, seine Mutter 83 Jahre, sie selbst, Lenchen, vier Jahre alt.
Eine wohl später notierte Bemerkung oben drüber lautete:
der letzte Brief, den ich an meine Mutter geschrieben
Osterode, den 11. Juni 1893
Meine liebe Mama!
Sonntag-Morgen. Die Kinder sind teils im Walde, teils im Garten, ich sitze bei offenen Fenstern, und wenn ich hinausblicke auf die rotblühenden jetzt schon ganz stattlichen Kastanienbäume, die grünen Hecken und dahinter auf den von Wald bekränzten See, dann
Kommt es wie Freude über einen, und man ist fast versucht zu glauben, dass das Gezwitscher der unzähligen Schwalben Glück verkündigt und heitere Zukunft. Aber es wird Dich mehr interessieren, wenn ich Dir Gegenwärtiges berichte. Lenchen ist nun schon wieder auf, freilich recht elend und schwach auf den Beinen, also dass sie zu rüstigem Schreiten sich unfähig fühlt, doch unzweifelhaft auf dem Wege der Besserung. Dorchen, im übrigen flink wie ein Wiesel, ist das alte Piepsküken, seit Ostern Schülerin der ersten (also obersten) Klasse, schließt Freundschaften und fährt, da ihre „beste“ Freundin so verständig ist ein Ponyfuhrwerk zu besitzen, fast täglich in den Wald. Fritz feilt und schlossert nach wie vor, geht zum Konfirmandenunterricht und soll zum Herbst eingesegnet werden. Die beiden großen Töchter machen sich in der Wirtschaft nützlich und denken, wenn sie dazu Zeit haben, darüber nach, wie sie als alte Jungfern ihr Leben fristen werden. Enn, der Krieger, malt augenblicklich im Walde, hat sonst ziemlich viel Dienst, wird zum 1. Juli Unteroffizier werden und thut im übrigen Schritte, um am 1. Oktober irgendwo eine Stelle zu erhalten. Und wir, die Alten? So wie ein Stoppelfeld, über das im Herbste die kalten Nordwinde fegen, sich ausbreitet, ab und zu mahnen späte Blumen und grüne Halme noch an den Sommer – also wir und unsere Stimmung. Aber der Vergleich hinkt wie alle Vergleiche. Euch aber in Danzig und Dir, liebste Mama; in Sonderheit, geht es hoffentlich gut. Mit dieser Hoffnung und den herzlichsten Grüßen von uns allen an alle, Dein dankbarer
Ernst Leberecht
Lene sah auf. Das herbstgelbe Laub der Ahornbäume im Park glänzte, noch nass vom Regenschauer, in den Strahlen der Abendsonne. Der Verkehrslärm schallte gedämpft herauf, das Bimmeln der Straßenbahn, dann wieder die eilig aufheulende Sirene eines Krankenwagens, der mit Blaulicht in die Krankenhauseinfahrt lenkte.
Die Geschwister, ja, sie lächelte in Gedanken, die waren wie eine Art Girlande, die ihr eigenes Lebensgewebe immer umschlungen hielt. Kitschig so ein Vergleich, der, wie der in Vaters Brief, natürlich auch hinkte, aber doch Wahres enthielt. Sie selbst fühlte sich mittendrin in dieser Girlande. Oder, als Jüngste, an deren Ende?
Als Vater jenen Brief schrieb und sie selbst vier Jahre alt war, da war von Dore, dem „Piepsküken“ die Rede, damals schon stolze 13 Jahre alt. Therese, 14 Jahre, wurde aus irgendwelchen Gründen ausgelassen. Sicher gab es von ihr gerade nichts Bemerkenswertes zu berichten. Vergessen hatte Papa sie bestimmt nicht. Fritz war 16 Jahre, die beiden großen Schwestern Martha und Lotte 18 und 19 Jahre alt. Ernst, der Älteste, zählte sogar bereits 22 Jahre. Schon damals malte er in jeder freien Minute, wenn er nicht gerade wie ein Weltmeister turnte, ritt oder schwamm. Ernst konnte anscheinend alles. Er hatte in Stettin eine Kaufmannslehre absolviert und war Angestellter einer Hamburger Kaufmannsfirma, hatte aber zwischendurch auch Kriegsdienste geleistet. Lotte, ebenso bewundernswert, hatte 1888, 14jährig, schon die Schule beendet, war ein Jahr lang zu Hause geblieben, hatte gerade die Geburt ihrer jüngsten Schwester miterlebt und war dann vier Jahre lang als Haushaltshilfe mit einer russischen Familie nach Bialystok gegangen. Nach dem Brief zu urteilen, war sie 1893 wieder zu Hause.
Die Geschwister waren immer groß gewesen. Fast oder dann ganz erwachsen, fand sie früher aus ihrer niedrigen Kinderperspektive heraus. Sie selbst war leider die Kleinste und leider ein Mädchen. Mädchen mussten Kleider tragen, sie durften sich weniger schmutzig machen und weniger herumtoben als Jungen. Mädchen waren kaum irgendwelche Abenteuer und spannende Erlebnisse vergönnt. Jungen dagegen konnten sich ohne große, nachwirkende Probleme gern mal ihre Hosen zerreißen, sie durften sich prügeln, schnell rennen, und sie mussten sich auch nicht ständig dieses „das schickt sich nicht“ anhören. Sie selbst hatte immer versucht dieses ganze Mädchen-Getue möglichst zu überhören und zu übergehen. Die großen Schwestern waren natürlich vorbildliche Mädchen. Sie selbst hatte aber schnell entdeckt, dass sie als Jüngste doch einige Vorteile hatte und oft versucht, diesen Bonus heraus zu kitzeln. Die Großen fanden sie „niedlich“, verwöhnten sie oft. Und beim Vater fand sie immer ein offenes Ohr für ihre Fragen, Anliegen und Extrawünsche. Als Kleinste Papas Liebling zu sein, das war nicht schwierig.
Als sie geboren wurde, war ihr Vater immerhin schon 45 Jahre alt. Einen lieberen Vater konnte sie sich gar nicht vorstellen. Und eine liebere Mutter, bei Lenchens Geburt schon 38 Jahre alt, ebenso wenig.