Kitabı oku: «Magdalenas Mosaik», sayfa 4

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Mit Herzklopfen ließ sie die Zeremonie über sich ergehen. Ihre beiden Konfirmationssprüche konnte sie natürlich auswendig. Sie waren aus der Offenbarung Johannes 2,10: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben“ und aus Jesaias 41,10: „Fürchte dich nicht, Ich bin bei Dir, weiche nicht, denn ich bin Dein Gott“. An das „fürchte dich nicht“ wollte sie sich halten, das nahm sie sich vor, das passte ihr gut.

Dann war alles überstanden. Unter dröhnend klingendem Glockengeläut traten sie hinaus, der Himmel war hell über den hohen Linden, die Luft frühlingsfrisch und herrlich. Lene atmete auf, hob das Gesicht zum Himmel. Da oben war er auf jeden Fall, der Gott, das spürte sie. Und gleichzeitig also jetzt dicht bei ihr. Naja, irgendwie würde sie es schon schaffen, ihr Versprechen zu halten.

Zu Hause besah sie ihre Konfirmations-Urkunde, die rundum mit feinen, alten und mit kunstvollen Schnörkeln versehenen Zeichnungen in zartem Grün versehen war. Das heilige Abendmahl bildete das Hauptbild unten, an den Ecken und Seiten war die Urkunde mit Geschehnissen aus dem Neuen Testament illustriert. Sie seufzte. Also gut: sie würde „getreu sein“, fürchten tat sie sich sowieso fast nie, bis jetzt jedenfalls nicht. Warum sollte sie jetzt damit anfangen, wenn Gott mit ihr sein würde?

Eine Woche später war die Schulzeit zu Ende.

Und jetzt? Schluss mit Lernen? Nach zehn Schuljahren hielt sie ihr Abgangs-Zeugnis in den Händen. Die Zensuren waren natürlich in Ordnung, aber sie freute sich nicht. Nein, wirklich nicht, war das nicht komisch? Die Klassenkameradinnen machten frohe und glückliche, zumindest zufriedene Gesichter. Sie spekulierten auf Arbeit, vielleicht als Haushaltshilfe oder in der elterlichen Landwirtschaft, vielleicht bei der Post. Und manche dachten sogar schon ans Heiraten. Dachten an den Märchenprinzen? Die große Liebe etwa? Oder schlicht ans Versorgtsein durch einen Ehemann, der Geld für beide verdiente?

Lene konnte es nicht ändern, sie war enttäuscht. Das bisschen Lernen sollte alles gewesen sein? Wieder einmal haderte sie mit ihrem Schicksal als Mädchen auf der Welt zu sein. Schade, schade, dass sie nicht ein Junge geworden war. Dann hätte sie gerade jetzt mehr Möglichkeiten gehabt. Was gab es denn für Mädchen? Gar nichts weiter? Sie war nicht nur enttäuscht, sie war empört.

„Freust dich gar nicht, Lenchen?“ fragten die Freundinnen. Alle umringten sie. „Hast doch die besten Noten!“

„Na und?“ Sie wusste, dass sie zum Erschrecken streng aussehen konnte, und das genau wollte sie jetzt auch. Die anderen Mädchen aber waren so fröhlich, die lachten sie einfach aus. Lene wandte sich ab. So wie die anderen war sie eben nicht. Nein, das würde ihr nicht gelingen, auch wenn sie sich Mühe geben sollte. Aber das wollte sie gar nicht. Nein, sich einfach zufrieden geben mit dem, was andere vielleicht von ihr erwarteten, das kam nicht in Frage. Vater und Mutter würden natürlich die guten Zensuren sehen, die sie so wichtig fanden. Tatsächlich hatte sie „sehr gut“ in Betragen, in Aufmerksamkeit, Fleiß und Ordnungsliebe, in Religion, Deutsch, Englisch, Rechnen, Geschichte und Erdkunde. Ein „gut“ stand da für Französisch, Naturwissenschaften, Singen und Turnen. Das einzige „genügend“ stand da natürlich für das elende „Schreiben“. Ja, das würden die Eltern alles zu sehen bekommen und sie deswegen loben. Sie selbst blieb aber am letzten Satz hängen, der untendrunter stand:

Da Magdalena Wüst jetzt die Schule verlässt, um in das Elternhaus zurückzukehren, so wird sie mit den besten Segenwünschen für die Zukunft entlassen.“

Ins Elternhaus zurück? War das nicht beschämend? Im Elternhaus war sie vor der Schule und während der Schule doch die ganze Zeit schon gewesen. Sie überlegte: Nach Hause, dahin waren die Schwestern nach der Schule zurückgekehrt, hatten sich im Haushalt getummelt und geübt und sich auf Festen vergnügt, lustig und kritisch nach Verehrern Ausschau gehalten und sich erwachsen gefühlt. Mit dem Abgangs-Zeugnis in der Hand galt man als groß und die Kindheit war vorbei. Naja, was die Leute so dachten!

Mit gesenktem Kopf und einer zornigen Falte auf der Stirn kam sie nach Hause, hielt den Eltern ihr Zeugnis entgegen. Gnädig nahm sie Lob und Glückwünsche entgegen, bemühte sich Stolz und Freude zu zeigen. Mutterchen hatte ihr Lieblingsessen gekocht. Das war reizend von ihr.

Zum Glück hatte sie sich bald etwas anderes in den Kopf gesetzt. Etwas, das Vater ja ebenfalls schon vermutet und angedeutet hatte: ein Seminar? Danzig? Wieder zu Hause herumsitzen, das war jedenfalls nichts für sie, nein, bestimmt nicht. Was für Möglichkeiten gab es denn noch?

Freiheiten

Der Kaffee war ein Ritual, das unbedingt eingehalten werden musste. Jedenfalls seit sie zusammen in der Haynstraße wohnten. Oft kam Kaki zum Kaffee herüber, oft trafen sie sich bei ihr in der Husumerstraße drüben. Oft gab es auch Kaffee mit Nachbarn.

Wenn das Wasser im Kessel kochte, der Filter auf der Kanne stand und es bereits betörend duftete, griff Lene eilig im Flur den Schlüssel vom Haken, ließ die Wohnungstür einen Spalt offen und lief die Treppe hoch.

„Frau Zettel? Kaffee ist gleich fertig.“

Oben ging die Wohnungstür. „Ach, Sie Gute! Komme gleich.“

Das war schon früher so gewesen. Schon kurz nachdem sie hier in Hamburg angelangt waren. Während Lene jetzt in ihre Küche zurückeilte, liefen auch ihre Gedanken unversehens zurück. Früher mal…

In den Jahren kurz vor dem Krieg, als sie selbst kaum hier angekommen war, da hatten sie auch schon zusammen Kaffee getrunken. Damals, Mitte der Dreißiger Jahre, war die liebe Nachbarin, Frau Zettel, nicht allein gekommen. „Ich kann die Lütte doch nicht oben lassen.“

Die Kleine knickste artig, spähte durch den Flur zur offenen Stubentür. „Onkel Viva da?“

Der alte Herr, kaffeedurstig wartend in seinem Sessel, war entzückt. „Na, unser Ilschen, was für eine Ehre.“ Er paffte sich in eine Venezuela-Duftwolke und musterte das junge, rotwangig-energische Persönchen. „Kaffee oder Malen?“

„Weißt du doch.“ Ungeduldig zappelte sie vor seinen übereinander geschlagenen Beinen. „Ich trink doch nicht Kaffee.“

„Immer noch nicht? Na, dann zu den Farben.“ Vorsichtig legte er die Zigarre auf den Messing-Ascher. Seine Knie knackten, als er sich erhob. „Lenchen, bringst mir den Muckefuck rüber? Dann habt ihr die Stube für euch.“

Frau Zettel trug schon das Tablett mit Tassen aus der Küche herein. „Machen Sie mir das Kind nicht eitel.“

Er schüttelte den Kopf: „Nee, so ist die nicht.“ Und er folgte der Kleinen, die bereits quer durch den Korridor hüpfte. „Das grüne Zimmer, das mag ich so.“

Er öffnete die Tür. „Ich hör immer Zimmer? Von wegen! Mein Atelier heißt das doch, wie du weißt. So viel Höflichkeit muss sein.“

„Malen Sie wieder, Herr Wüst?“ rief die Nachbarin.

Aber er war schon hinten in der Diele, winkte ab. „Schscht. Verraten wird nichts.“

Frau Zettel hörte ihr Töchterchen kichern und flüstern. Hatten die beiden ein Geheimnis?

„Kaffee kommt gleich.“ Lene schob die Zeitungen auf dem Tisch beiseite. „Immer Platz nehmen, liebe Frau Zettel.“ Sie wies auf das Kanapee, rückte für sich selbst einen Stuhl ab und setzte sich. Nur auf die Kante, denn sie sprang gleich wieder auf, um den Kaffee zu holen. Stillsitzen war nicht ihre Sache. Der Schreibtisch hatte sie lange genug festgehalten. Jetzt war Kaffee dran. Und dafür war auch die liebenswerte Nachbarin immer zu haben.

„Kekse?“ Sie hielt die Schale schon in der Hand. „Kennen Sie ja schon. Nichts Neues. Die Kinder mögen‘s auch mal gern süß.“

„Ihre selbstgebackenen? Ah, die mit ohne alles?“ Sie kicherte, „Nur mit Liebe, weiß ich ja.“

Lene nickte. „Mach‘ ich doch oft. Einfach und schnell.“

„So die Kinder, ja was machen die? Gute Fortschritte?“

„Naja“, Lene zögerte, „Alles ist eben anders. Sehr anders hier.“

Frau Zettel nickte.

Lene war schon wieder auf dem Weg in die Küche. Immer neugierig, die Nachbarin, dachte sie, obwohl von Herzen mitfühlend und aufmerksam. Aber Frau Zettel brauchte nicht alles zu wissen. Georg hatte es nicht leicht. Die Buben waren hier so hanseatisch, arrogant, eben weltoffen, manche eingebildet, wie auch immer, Lene selbst war da noch nicht so ganz im Bilde. Hanna in der Grundschule hatte es besser getroffen.

„Ich bringe den beiden eben was rüber“, rief sie der Nachbarin zu.

Mit der dampfenden Kaffeetasse und einem weiteren Kekstellerchen beladen durchquerte sie den dunklen Korridor und klinkte die Ateliertür mit dem Ellenbogen auf. Da saß der alte Herr vorgebeugt auf seinem Hocker an der Staffelei. Die kleine Ilse hatte er auf einen Stuhl vor den Kleiderschrank beordert. Da thronte sie, stolz und rot, weil sie sich doch so Mühe gab still zu sitzen. Das war nicht einfach. Und dazu noch das ständige „Sitz gerade! Schultern zurück. Hände ruhig, - Meine Güte, bist du zappelig. – Oh, Kaffee, wunderbar. Dank dir.“

„Hilft euch das hier?“ Lene setzte alles auf den Tisch ab und zwinkerte dem Kind zu. „Ich verrat‘ auch nichts.“

Sie ließ die beiden allein und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Frau Zettel gemütlich in der Sofaecke lehnte.

„Nu‘ aber, was?“ Lene goss ein, schob der Nachbarin das Milchkännchen näher und setzte sich endlich. „Was gibt’s denn so Neues?“

Während sie sich bemühte zuzuhören, schweiften ihre Gedanken ab. Frau Zettel merkte es nicht. Lene nahm die Tasse in beide Hände. Der Duft, ah! Sie nahm einen Schluck, lächelte zum Kanapee hinüber, nickte der Nachbarin zu. Dort hatte Paul immer…, Kaffeestunden damals…, nein, sie wollte das jetzt nicht zulassen. Vorbei ist vorbei. Aber das Früher drängte sich immer wieder in die Gegenwart vor. Das war wohl so bei alten Leuten. War sie so alt? Zu alt vielleicht für die Gegenwart? Sie straffte die Schultern, stellte die Tasse ab. „Nehmen Sie Kekse, Frau Zettel, - ach, ich seh‘, Sie haben ja schon.“

Das Lachen der Nachbarin war hell und fast mädchenhaft übermütig. „Wieder in Gedanken? Nein, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. - Wie kommt Hanna denn zurecht?“

Hanna. Ihre allerbeste alte Hanna-Freundin und die junge, tüchtige Hanna, ihre Tochter. Hanna und Georg. Die waren ihr geblieben, und das war die Gegenwart. Haltepunkte.

Lene schüttelte die Vergangenheit in die sauber geputzte Vergangenheits-Gehirn-Schublade. Verstauben sollte hier nichts. Aber alles hatte seine Zeit, und jetzt wollte sie die Nachbarschaft genießen. Die Frauen mochten sich, so unterschiedlich sie auch waren. Zum Kaffee gehörte ein Schwatz und entspannte Leichtigkeit. Eine kleine, kalte Dusche im Kopf, die erfrischte. So eine Abwechslung hatte sie schon immer gebraucht. So einen Plausch, liebe Menschen, mit denen man lachen konnte.

Als Ernst mit Ilschen aus dem Atelier kam, sprang die Kleine mit roten Wangen zu ihrer Mutter. „Du weißt das nicht, du weißt das nicht, Mami, und du darfst das nicht wissen.“

„So? Also doch ein Geheimnis?“

Ernst schmunzelte. „Nichts verraten, Ilschen.“ Und die Kleine legte verschwörerisch den Finger an die Lippen.

Die Kanne war leer. Die große und die kleine Nachbarin verabschiedeten sich dankend, Lene räumte den Tisch ab. Dann eilte sie wieder an den Schreibtisch. „Du hast wohl auch noch zu tun, Enn?“

„Bin schon weg, keine Sorge.“ Er lachte der Schwester ins Gesicht.

„Noch eine halbe Stunde, dann kommt Hanna aus der Schule.“

Ja, so war das früher gewesen. Bald nach ihrer Ankunft hatte sich die Vormittags- Kaffeestunde etabliert. Das war jetzt gute 16 Jahre her, turbulente, schreckliche und inzwischen neue, sehr andere Zeiten. Gewohnheiten waren da zum Anklammern wichtig, das hatten sie alle gemerkt.

Der Schreibtisch war ihr geblieben. Lene ging vor den Schubladen in die Knie. Sie wusste, wonach sie suchte. …

In Elbing gab es ein Lehrerinnen-Seminar in der „Kaiserin-Victoria-Schule“. Vater war Lehrer geworden, warum also sollte Lene das nicht auch fertigbringen? Sie musste ja nicht Gymnasialdirektorin werden, aber Lehrerin, das wäre doch wenigstens etwas.

Es gab auch noch einen weiteren Grund: Erst wenn sie zu Hause auszog, würde sie sich vielleicht mal erwachsen fühlen. Wie mochte das sein?

Sie verlor keine Zeit, meldete sich an mit Vaters Hilfe, und bekam am 11. April 1905 das nötige Führungs-Attest der Polizeiverwaltung zu Osterode ausgehändigt. Nachteiliges über ihre Führung war zum Glück ja nicht bekannt.

Soweit ihr Plan. Und den setzte sie durch. Zog also, schwupps, zu Hause aus. Und bereits nach wenigen Tagen stellte sich auch das ein, was sie selbst und sicherlich die Schwestern von ihr erwarteten: das Erwachsen-Gefühl. Jetzt konnte das richtige Leben losgehen. Jetzt entschied sie selbst weitgehend, wie sie ihre Tage und Nächte einteilte, was sie sonst so trieb. Ein klitzekleiner Haken war nur der Geldbeutel. Mit diesem Haken hing sie noch am Vater fest. Da waren die ehemaligen Schulkameradinnen natürlich besser dran, die jetzt selbst ihr Brot verdienten.

Elbing war nicht weit weg, aber doch weit genug, fand Lene. Nur etwa acht Kilometer vom Frischen Haff entfernt, konnte sie hier schon den Duft der großen weiten Welt schnuppern, oder nicht?

Elbing, das Wort stammte, wie sie lernte, vom ostgermanischen „Albing“, dem „weißen, hellen“ Fluss. Hell und nordisch wirkte auch die Stadt. Schlank wie der Turm der Nikolaikirche waren auch die Fronten der Patrizierhäuser am Hermann-Balk-Ufer, jedes in seiner individuellen, vornehmen Eigenart der Backsteinbaukunst gestaltet, die Fronten zur Straße hin. Der mächtige Bau des Heilig-Geist-Hospitals beeindruckte ebenso wie das schmucke Rathaus am Friedrich-Wilhelm-Platz mitsamt den rund um den viereckigen Marktplatz gelegenen hanseatischen Kaufmanns- und Bürgerhäusern. Hohe Fachwerkspeicherhäuser lagen am Elbingfluss. Die Stadtanlage war der Ostsee zugewandt und spürbar auf Handel ausgerichtet. Wie andere Hafenstädte wurde auch in Elbing der Schutz einer Ordensburg frühzeitig durch den naheliegenden Schutz des Fernhandelsplatzes ersetzt.

Ja, Elbing gefiel Lenchen. Die Stadt stand der schwesterlichen Hansestadt Danzig in nichts nach, fand sie. Noch vor rund 600 Jahren war Elbing die weitaus bedeutendere Hansestadt gewesen. Es hatte eine günstigere handelsgeografische Position. Erst als die Öffnung des Frischen Haffs weitgehend verlandete, verlor auch der Handel an Bedeutung.

Die berühmteste Verbindung zwischen Osterode und Elbing war natürlich der Oberländer Kanal, eine ausgetüftelte technische Meisterleistung. Das wusste jedes ostpreußische Schulkind. 1845, also 44 Jahre vor Lenes Geburt, begann man unter Leitung des Königsberger Ingenieurs Steenke mit dem Bau dieses Kanals. Er sollte eine Schiffsverbindung zwischen den 100 Meter höher gelegenen Seen des Oberlands und dem Drausensee bei Elbing und damit auch zum Frischen Haff werden. Fünf Geländestufen innerhalb der Seenkette wurden durch geneigte Ebenen miteinander verbunden. Auf diesen geneigten Landwegen wurden die Schiffe auf Eisenbahnwagen geladen und auf Schienen jeweils hinaufgezogen. Dampfer rollten so über Land. Es war eine etwa 200 Kilometer lange Verbindung zwischen den Seen, davon 41 Kilometer Kanal. Etwa 1860 war das technische Kunstwerk fertiggestellt. Die neue Schiffsstraße diente zunächst meist dem Güterverkehr. Als 1893 dann die Eisenbahnstrecke zwischen Elbing und Osterode gebaut wurde, verlor der Kanal an Bedeutung für den Handel, entwickelte stattdessen aber als einzigartige Kuriosität eine Anziehungskraft auf Feriengäste zu jeder Jahreszeit.

Lenchen reiste mit der Bahn. Direkt nach den Ferien fing das Lernen in Elbing an. Das war fast wie Schule, nur etwas „erwachsener“ und mit strengerer Beurteilung. Die „sehr gut“ fielen nicht mehr so einfach vom Himmel. Nur im Rechnen und Zeichnen lagen ihre Leistungen an dieser begehrten Spitze. Die Fächer waren ähnlich, Handarbeiten kam dazu und Geigenspiel. Letzteres sollten Lehrer üblicherweise beherrschen. 1905, im ersten Jahr kam sie in Klasse C, Zeugnisse gab es zu Michaelis vor den Herbstferien und zu Ostern 1906, da wurde sie versetzt in Klasse B. Ostern 1907 kam sie in die Klasse A, das war schon die höchste. In den letzten eineinhalb Jahren musste sie auch Lehrproben halten. Die waren dann mit „genügend“ beurteilt worden.

Auch während dieser Zeit blieben Briefe nicht aus. Reichlich kamen die aus dem Elternhaus, aber auch von Freundinnen und Freunden.

Beispielsweise schrieb der gute Freund und Verehrer Max Horn aus Berlin. Am 16. Juni 1906 schickte er eine Postkarte aus Berlin an „Fräulein Maria Magdalena Wüst in Elbing, Westpreußen, Höhere Mädchenschule“ mit umseitig einem romantischem Blick „Partie am neuen See im Tiergarten - Gruss aus Berlin“.

Möchte wieder wallen / hin zu diesem Ort / ist er doch vor allem / meiner Träume Hort.

Unter diesen Zweigen / wonnevoll und traut / hab‘ in Einsamkeiten / diesen Vers gebaut.

Als der Traum geschwunden / musst ich heim zur Stadt. / Hatte Ruh‘ gefunden / die gesucht ich hatt‘./ Möchte wieder wallen / hin zu jenem Ort. / Ist er doch von allen / meiner Träume Hort.

Ja, der gute Max, mit ihm verband Lene mittlerweile eine Freundschaft. Zuletzt hatten sie sich in Berlin getroffen. Lene war dort ja nicht selten in den Ferien zu Besuch bei den Schwestern Dore und Thea. Seit sie selbst nun etwas größer und runder geworden war, meinte Max anscheinend, die Freundschaft könnte sich in etwas mehr wandeln und fortsetzen? Oh, bitte, das ließ sie sich gern gefallen. Ganz was Neues. Es kitzelte auf vergnügliche Weise. Warum also nicht? Er war doch ein lieber Junge.

Das Lernen war allerdings doch die Hauptsache. Deswegen war sie hier in Elbing.

Am 11. Februar 1908 hielt sie ihr „Prüfungs-Zeugnis“ in Händen. Sie wurde, so stand es darin, „nachdem sie ihre sittliche Führung und ihre körperliche Befähigung für den Lehrberuf durch Zeugnisse dargelegt, von der unterzeichneten Kommission am 10. und 11. Februar vorschriftsmäßig geprüft.“ Nun war sie „befähigt zum Unterricht an mittleren und höheren Mädchenschulen“, unterzeichnet von der „Königlichen Prüfungs-Kommission für Lehrerinnen“ des „Königlichen Provinzial-Schul-Kollegs von Westpreußen“.

Soweit, so gut. Inzwischen war sie fast 19 Jahre alt und wirklich erwachsen. Naja, so meinte sie jedenfalls meistens. Aber wie wichtig war das eigentlich? Wichtig für die Menschen um sie herum? Wichtig für sie selbst? Wichtiger war doch wohl das, was sie gelernt hatte, oder?

Jetzt war sie immerhin Lehrerin. Also her mit irgendwelchen Mädchen oder Mädchenschulen, bitteschön, wo sie unterrichten konnte.

Wer ist Magdalena?

Ja, da saß sie also Jahrzehnte später in der Haynstraße. Gerade hatte sie zurückgedacht an ihre Jugend. Jetzt betrachtete sie fast irritiert ihre blau geäderten Hände, die altersgekrümmten Finger, die den Stift hielten. Faltige Haut, sehnige, leberfleckige Hände waren das geworden, an den Knöcheln verdickte Finger. Wie war sie früher stolz gewesen und eitel auf ihre schlanken, biegsamen Hände, jawohl. Und auf ihre Geschicklichkeit damit. Die hatte sie immer wieder gebraucht zum Schreiben, zum Verbände-Anlegen, Klavierspielen, zum Teigkneten, zum behutsamen Streicheln oder Kartenspielen. Verbraucht, abgenutzt sahen sie jetzt aus, diese alten Hände. Sie lächelte unwillkürlich, als sie an ihre damalige Eitelkeit, besonders ausgeprägt in den Jahren in Elbing -, zurückdachte. Zwar hatte sie eigentlich nie so dämlich angepasst gepflegt und auf Äußeres bedacht sein wollen wie ihre Schulkameradinnen, oh nein. Aber, oh ja, genauso angepasst dämlich und naiv war sie doch oft gewesen. Obendrein arrogant und leider besserwisserisch, oft überheblich. Weiß Gottchen, sie hatte sich zeitweise für etwas Besonderes gehalten. Hatte mit hochgereckter Nase ihren Charme in die Freundesrunde gestrahlt und begierig die Hände, Augen und Ohren aufgehalten nach Schmeicheleien. Energiegeladen vom Kopf bis in die Zehenspitzen eben, so war sie immer, und dagegen ließ sich anscheinend nichts tun.

Amüsiert blickte die alte Lene auf ihre wie Leder gegerbten Altershände. Jawohl, die Beweise lagen vor ihr. Meine Güte, damals, besonders zwei Jahre vor dem Abschluss des Seminars in Elbing, war sie diese überspannten, unschuldigen und backfischalbernen Jahre alt gewesen.

Damals also, mit 16 Jahren, war sie allmählich komisch geworden. Ähnlich wie die meistern Mädchen ihres Alters wahrscheinlich. Man nannte sie nicht Teenager, wie es heutzutage hieß, sondern Backfische, das bedeutete, im Laufe des Backvorgangs im „Ofen“ der Umgebung, also noch nicht fertig. Backfisch traf dieses Alter viel besser als das Wort „Teenager“, was ja nur eine zeitliche Einordnung enthielt. Diese Jahre mit all ihren Merkwürdigkeiten, dem Unfertigen, Unsicheren, den vielen Fragen und der Auflehnung gegen alles Alte. Merkwürdigerweise wurden aber früher nur Mädchen so betitelt. Waren Jungens nie im Backfisch-Alter? Weder albern, noch unsicher, weder vorlaut, noch schüchtern, weder aufsässig, noch frech und kratzbürstig? Oder verschwieg man damals etwas und hatte man sich stattdessen wieder einmal nur über Mädchen-Allüren lustig gemacht?

Wieder musste die alte Lene lächeln. Nein, inzwischen wusste sie es in der Tat besser. Wusste, dass Jungen ebensolche Backfische waren, oft dazu besessen von lachhaft tollkühnem Übermut und pfiffigem Erfindungsreichtum oder überspannten Ideen. Hier passte der Ausdruck Teenager jedenfalls besser und galt für beide Geschlechter.

Lenchens Art komisch zu werden, war damals allerdings etwas anders als bei ihren Altersgenossinnen. Obwohl sicherlich jede von ihnen so ihren eigenen krausen Vorstellungen und Träumen nachhing.

Lenchen war nicht mehr das Nesthäkchen, sondern Lene. In Elbing begann sie sich selbst zu entdecken. Vielleicht hatte sie auch ein Inneres und ein Äußeres? So wie sie es früher bei Papa und Mama gemerkt hatte? 0der anders?

Sie war auf jeden Fall nicht so wie ihre Schwestern, nein, da war sie sicher. Sie liebte und bewunderte alle, aber so wie eine von ihnen wollte und könnte sie nie sein, dachte sie. Warum auch? Jede war verschieden, so wie ein farbenprächtiger Blumenstrauß hielten sie deshalb aber umso fester zusammen. Wenn sie beispielsweise an die liebe Lotte, die Älteste, dachte, ach, du liebe Zeit, die Ärmste war mit 14 Jahren von der Schule abgegangen, um zu Hause mit anzupacken und sich nützlich zu machen. Als ihre Mutter schwanger wurde mit Lenchen, brauchten die anderen fünf Geschwister Aufsicht, der Haushalt geschickte Hände. Lotte konnte alles. Anscheinend hatte sie das immer gekonnt. Sie war tüchtig, fleißig, flink, und sie fragte nicht viel, sondern guckte, wo zu helfen war und half. Nach einem Jahr zu Hause fand sie eine Stelle als Hausmädchen bei einer russischen Familie. Ihre Eltern willigten ein, so zog sie mit nach Bialystok und war auch dort bei der Familie und im Haushalt bald nicht mehr wegzudenken. Ja, was einen Haushalt anging, so konnte man sich niemanden vorstellen, der da vorbildlicher sein konnte. Völlig unbegreiflich, fand Lenchen. Hatte Lotte das eigentlich so gewollt? Oder war sie einfach nie auf die Idee gekommen, darüber nachzudenken, was sie eigentlich wollte, sondern hatte alles so genommen, wie es ihr geschah? Und später wurde sie auch noch Krankenschwester. Eine perfekte Hausfrau also, oder? Kein Wunder, dass sie im vorigen Jahr ihren Landvermesser Fritz heiratete. Gleichzeitig als ja auch Dore ihren lustigen Leo heiratete. Dore hatte nach der Schulzeit keine weitere Ausbildung gehabt, sondern stattdessen mal in einem Kaufhaus, mal in einem Versandgeschäft gearbeitet. Da hatte sie gelernt Pakete zu packen. Niemand war so schnell und geschickt, Pakete zu verschnüren wie Dore. Aber ebenso genoss sie, wie alle Kinder des Gymnasialdirektors, viele geistige und kulturelle Anregungen, Dore hatte kunstgewerbliche Dinge hergestellt und auch mit der Malerei angefangen, allerdings nicht so intensiv wie ihr Bruder Ernst. Ihr größtes Interesse galt Konzerten und dem Theater. Dass sie umsichtig, tüchtig und im Nu einen Haushalt führen konnte, schien ihr selbst eine selbstverständliche Nebensache zu sein. Martha, naja, die war meist etwas im Hintergrund der Familie, zurückhaltend, immer liebenswert und sehr auf Tradition bedacht. Und Therese, na, die war ja die fantasiebegabte Dichterin. Zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen zog sie gereimte Verse aus dem Ärmel, gewitzt mit familiären Eigenheiten, Stichworten und Schrullen, für viele Nichteingeweihte völlig unverständlich.

Ihre Schwestern hatten wenig Zeit gehabt, – oder es nicht unbedingt erstrebenswert gefunden? –, sich in erster Linie weiter zu bilden, obwohl keine von ihnen ungebildet war. Papas Verdienst? Stattdessen waren sie, zwar lebhaft und kreativ, aber ziemlich brav in etwa die Rollen geschlüpft, die von ihnen erwartet worden waren. Hatten Papa und Mama das angestrebt? Oder wer sonst? Und warum war das bei ihr selbst anders?

Nein, das kam für Lenchen alles nicht in Frage. In der Schule war sie hier natürlich, ähnlich wie zuvor in Osterode, eine von vielen und eine, der alles leicht fiel. Aber am Nachmittag gab es weder Vaters Kontrollblick, noch Mutters Fürsorge. Nein, jetzt streckte das ehemalige Nesthäkchen seine Erwachsenen-Nase wohin und zu wem es ihm gefiel. Lenes Neugierde war grenzenlos. Ihre meist sehr direkten Fragen wurden mit Lachen, Spott oder mit Ablehnung quittiert. Sie selbst lachte auch immer gern, sogar über sich selbst. Provozierte gern, half aber auch gern jedem, der irgendwie in Nöten war, - meistens bei Dingen, die das Lernen und die Schularbeiten betrafen. Kurz und gut: Sie probierte alles aus, was ihr über den Weg lief. Und das war nicht wenig. Sie hielt wissbegierig nach allem Ausschau, was da so gelaufen kam.

Halb ernsthaft, halb lachend versuchte sie bei jenen „Mädchengesprächen“ zuzuhören und mitzureden: sich über die neuste Mode den Kopf zu zerbrechen, die Pickel im Gesicht zu dramatisieren, die Probleme erster, aussichtsloser Liebe zu beklagen oder die Tricks ausfindig zu machen, wie man sich mit der Brennschere so wahnsinnig engelsgleiches, gelocktes Haar zulegte. Bei all dem versuchte Lene mitzuhalten, - nein, das lohnte meist doch nicht die Zeit, jedenfalls nicht so unendlich, fand sie. Viel lieber diskutierte sie mit Freunden über Politik, das war anregend. Allerdings staunte sie oft heimlich über das eng begrenzte Blickfeld, regte sich auf über die niedrige Horizontlinie, die scheinbar außerhalb Deutschlands oder gar Ostpreußens aufhörte und über die viele anscheinend nicht hinausdenken konnten. Das musste man aber doch. Hatten sie nicht alle wenigstens etwas Englisch und Französisch gelernt? Wozu sollte das gut sein, wenn einen das Land und seine Menschen nicht interessierten? Man denke nur an den eigenen Bruder, der seit Jahren in Venezuela lebte, zuerst fast im Urwald, dann in Maracaibo, das war doch ein bisschen weiter weg als das nächste ostpreußische Dörfchen! Bei solchen Debatten konnte sie sich ereifern, erhitzen und auch laut, direkt und aufbrausend werden. Gar nicht mädchenhaft, geradezu fürchterlich. Im Nachhinein schimpfte und seufzte sie dann manchmal über sich selbst, aber es war nicht zu ändern.

Dagegen konnte sie durchaus auch anders, oh ja. Sie ließ sich gern in Cafés einladen, testete ihren Charme und spielte mit bei allen Vergnügungen. Tanzen war natürlich gefragt, ja, Tanzen mochte sie unbedingt, - jedenfalls, sofern der Partner nicht gegen den Takt herumtrampelte oder ihr mit keuchendem Atem zu nahe kam. Tanzvergnügungen hatten unbedingt einen eigenen Nervenkitzel. Verwundert lächelte sie darüber, wie leicht es war der Männlichkeit den Kopf zu verdrehen, - aber wozu eigentlich? Was den jungen Herrchen so durch die Köpfe gehen mochte, was sie oft lächerlich zappelig, glutrot und komisch werden ließ, das durchschaute sie noch nicht so ganz. Und sie staunte über Oberflächliches, leicht Geplaudertes, was zwar anregend, aber wenig inhaltsreich war.

Fast immer und bei allem behielt sie ihre gute Lach-Laune, eine aus der Tiefe herausschießende Fröhlichkeit, die erstmal nichts allzu ernst nahm.

Natürlich hatte sie Träume, hatte Zukunftsvisionen weit jenseits solcher Tändeleien. Die behielt sie wohlweislich erstmal für sich, wie in einem Brutkasten, so verglich sie das. Sie wollte unbedingt etwas, - ja, was denn? Na, mindestens die Welt verbessern, als erstes die Menschen, vor allem die Kinder aus armseligen Elternhäusern. Denen musste man etwas bieten, die Augen öffnen und ihre kleinen ahnungslosen Köpfe mit spannender Bildung füllen.

Noch etwas entdeckte Lene: Es machte ihr Spaß, die Menschen um sich herum zu beobachten: ihr Aussehen, ihre Bewegungen, ihre Gesichtsausdrücke und wie sie redeten. Sie mochte es, Eigenheiten von Menschen ihrer Umgebung herauszufinden und was dahintersteckte. Ihr Äußeres und ihr Inneres. Oh ja, das Leben in Elbing war ein ungeahnter Reichtum von neuartigen Genuss-Variationen.

Und sie selbst? Sie ertappte sich dabei, auch sich selbst zu beobachten. Dazu genügte aber nicht der kleine Spiegel über dem Waschtisch der Pension. Wer war sie? Was waren ihre Stärken, ihre Schwächen? Wie wurde sie von anderen gesehen und wahrgenommen?

Ein Jahr später wurde sie schon 17. Die Fragen waren geblieben. Wie wirkte sie? Wie und wer wollte sie sein? Ihr Äußeres und ihr Inneres? Klare Zielvorstellungen waren jetzt mal angebracht, fand sie.

Allmählich entstand eine Idee: Charakteristiken ihrer eigenen Person? Das wäre doch etwas, oder nicht? Sie erbat sich Charakteristiken von Freunden und Geschwistern, Menschen, die sie ja gut genug kannten. Schriftlich sollten sie sein, ehrlich und gut überlegt. Würde das funktionieren? Es war wie eine Art Spiel, sie wollte das gar nicht so furchtbar ernst nehmen, oder doch? Na, mal sehen, je nachdem, was da so eintrudelte.

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