Kitabı oku: «Aufrichten in Würde», sayfa 4
3.2 Bedeutungsräume
3.2.1 Der Intime Raum, der Persönliche Raum und der Öffentliche Raum
Einer mehrfach traumatisierten Klientin geht es sehr schlecht. Sie wagt sich kaum noch vor die Tür ihrer Wohnung. Sie ist kaum in der Lage, mit mir über ihren Zustand zu reden, sie weiß nur, dass sie ihn irgendwie als depressiv bezeichnen würde, ihr versagt die Stimme und ihr fehlen die Worte.
Ich bitte sie: „Wenn es mit dem Reden nicht so klappt, versuchen Sie doch, ein Bild zu malen, wie es Ihnen geht.“ Sie greift zu den Ölkreiden und skizziert sehr schnell ein Bild. „Da unten der kleine, schwarze Punkt, das bin ich. So klein.“ Das Malen hat ihre Worte gelöst. „Und die schwarzen Striche, das sind die Mauern um mich herum. Da ganz draußen ist die Öffentlichkeit. Da komme ich gar nicht in die Nähe. Da sind immer mehrere Mauern um mich herum, durch die ich durch muss. Aber zur Zeit ist es ganz besonders schlimm. Da ist schon die erste Mauer undurchdringlich, die ist ganz nah bei mir … Die roten Pfeile, das ist meine Sehnsucht, mein Wunsch nach draußen zu kommen. Aber: keine Chance!“
In diesen Äußerungen der Klientin spiegelt sich auf geradezu idealtypische Art und Weise das Erleben unter dem Gesichtspunkt der Bedeutungsräume: Räume, die nicht in Metern oder Zentimetern zu messen sind, sondern subjektiv erfahrene Räume, die eine individuelle Bedeutung für das Erleben eines Menschen haben. Unser Modell der Bedeutungsräume (Baer 2001/2008) dient der gemeinsamen Einsicht in die Verletzungen der Klient/innen und zugleich der Orientierung, wie und wo Heilung geschehen kann.
In der Sozialpsychologie Curt Lewins und der Ökologischen Psychologie wurde und wird die Bedeutung von Räumen untersucht (Lewin 1982). Auch die Leibphänomenologische Philosophie geht davon aus, dass das Erleben eines jeden Menschen und damit sein Leib immer von räumlicher Qualität ist (Fuchs 2000). Bedeutungsräume sind die Räume, die für eine einzelne Person in ihrem Erleben spezifische Bedeutungen beinhalten. Da jedes Erleben subjektiv und individuell ist, sind letztlich Bedeutungsräume nur für eine Person konkret und genau zu beschreiben. Erfahrungen und wissenschaftliche Untersuchungen zeigen allerdings, dass bestimmte Bedeutungsräume beschrieben werden können, die für die meisten Menschen ähnliche Erlebnisqualitäten beinhalten, auch wenn diese kulturell und individuell variieren können. So ist es möglich, verschiedene Bedeutungsräume zu unterscheiden, die diagnostisch relevant sind und in kreativen Therapien in unterschiedlicher Hinsicht tänzerisch, musikalisch, gestalterisch, poetisch usw. ausgedrückt und experimentell verändert werden können.
Bedeutungsräume, die im therapeutischen Kontext relevant sind, sind vor allem: Intimer Raum, Persönlicher Raum, Raum der Begegnung, Öffentlicher Raum und Zentraler Raum bzw. Zentraler Ort. Auf den Raum der Begegnung gehe ich in Kapitel 6 im Zusammenhang mit der therapeutischen Beziehung ein, auf den Zentralen Ort in Kap. 3.2.2.
Alles, was innerhalb des menschlichen Körpers empfunden wird, gehört zum Körperraum und wird als Intimer Raum erlebt. Bei den genaueren Grenzen des Intimen Raums gibt es individuelle Unterschiede. Für manche Menschen kann der Intime Raum einige Zentimeter oberhalb der Haut beginnen, für andere unmittelbar auf der Hautoberfläche, wieder andere erleben ihn unterschiedlich in verschiedenen Körperregionen. Der Intime Raum umfasst all das, was für einen Menschen existenziell und in besonderer Weise schützenswert ist, was ihm besonders eigen ist. Dazu können neben dem Körpererleben wichtige Erfahrungen, Gedanken, Meinungen, Gefühle usw. zählen. Wird der Intime Raum verletzt, wird der Mensch in seinem Intimsten verletzt, was Narben hinterlässt und die Leiberfahrung und das Körperbild eines Menschen verändern kann und die Scham auf den Plan ruft.
Die Wächterin des Intimen Raums ist die Scham. Die natürliche Scham tritt auf, wenn der Intime Raum droht, anderen Menschen preisgegeben zu werden. Die Scham warnt und schützt. Sie ist nützlich. Die Beschämung allerdings, die sich zunächst genauso wie die Scham anfühlt, hat keine Schutzfunktion, sondern ist eine Reaktion auf Verletzungen des Intimen Raums.
Die sexuelle Gewalt verletzt die Grenzen des Intimen Raums und beinhaltet eine existenzielle Beschämung. Dies erklärt die Scham der Opfer und die nachhaltige Scham derjenigen, deren Traumaerleben sich chronifiziert hat. Manche betroffenen Menschen bauen um sich herum eine Mauer, um niemanden in Reichweite des Intimen Raums kommen zu lassen und so neue Verletzungen zu vermeiden. Anderen ist das Gefühl für die Grenzen des Intimen Raums, seine Schutzwürdigkeit und ihre Fähigkeit, ihn zu schützen, verloren gegangen, sie werden schamlos (s.a.: Baer, Frick-Baer 2008d).
Die Klientin, die am Anfang dieses Kapitels zu Wort kam, spürte eine „undurchdringliche Mauer“ schon in und an den Grenzen dieses Intimen Raums. Zu oft und zu intensiv war ihr Intimer Raum verletzt worden, als dass er seine Schutzfunktion wahrnehmen konnte. In manchen Zeiten verbarg sie sich in ihrer Hilflosigkeit und Angst hinter einer „dicken Mauer“, die die Stelle des Intimen Raums annahm. An einen Kontakt mit der Öffentlichkeit war dann nicht zu denken.
Für manche Menschen ist der Persönliche Raum identisch mit der Kinesphäre, also dem Raumvolumen, das ein Mensch mit seinen ausgebreiteten Armen und Beinen um sich herum ausfüllen kann. Für die meisten Menschen ist er ein unterschiedlich geformter Raum um den Intimen Raum herum, der vor allem eine besondere Bedeutung des Privaten, des Schutzes und des Erreichten hat. In Situationen des Gedrängels, z. B. im Fahrstuhl, in denen sich Menschen ungewollt in diesen Persönlichen Raum anderer hineinbegeben oder andere in den eigenen hineinlassen müssen, entsteht Unbehagen. Menschen, die sich in den eigenen Persönlichen Raum hineinbewegen dürfen, sind Menschen, in deren Reichweite man sich begibt, was eine erhöhte Verletzungsgefahr bedeutet. Der Schutz des Persönlichen Raums ist folglich von besonderer Bedeutung, er wird deswegen unter anderem als Pufferzone um den eigenen Leib bezeichnet. Für viele Menschen hat dieser Raum auch die Bedeutung eines Raumes des Reichtums, er beschreibt das persönliche „Reich“, das, was man „erreicht“ hat und „erreichen“ kann, all die persönlichen Erfahrungen, Kompetenzen und anderen Schätze, die für einen Menschen kostbar sind.
Die Erfahrung von Gewalt und anderer traumatischer Ereignisse sind gleichzeitig eine Erfahrung, dass der Persönliche Raum, sein Reichtum und seine Schutzwürdigkeit, negiert werden. Wiegt die Verletzung des Intimen Raums auch schwerwiegender und nachhaltiger, so wird bei Erfahrungen von Gewalt doch auch der Persönliche Raum durchstoßen und damit erschüttert. Das grundlegende Recht auf die Wahlmöglichkeit, darüber zu entscheiden, wer sich in den Persönlichen Raum begeben darf und wer nicht, wird in Frage gestellt und erschüttert.
Menschen, die Opfer traumatischer Gewalt geworden sind, reagieren oft so darauf, dass ihr Selbstwertgefühl, also ihr Gefühl für sich und ihr Reich, brüchig wird. Manche Opfer verlieren das Gefühl für die Grenzen des Persönlichen Raums, lassen andere Menschen zu nahe an sich heran (was scheinbar einladend wirken kann), da all ihre Energie auf die Verteidigung der Grenzen des Intimen Raums konzentriert ist. Andere verlegen ihre Verteidigungslinie weiter nach außen an die Grenzen des Persönlichen Raums, die oft sehr ausgeweitet werden. Niemand darf näher als an diese Grenze herankommen, niemand darf in ihre Reichweite treten. Geschieht dies doch, wirken sie sehr verletzlich und verletzt, da hinter dem Wall, an den Grenzen des Persönlichen Raums, die Grenzen des Intimen Raums kaum gespürt werden können und so als Schutz nicht wirken.
Die Sehnsucht vieler Menschen mit traumatischen Erfahrungen richtet sich darauf, die Mauern und Wälle zu überwinden und die Begegnung mit anderen Menschen zu suchen bzw. in die Öffentlichkeit zu gehen. Die großen roten Pfeile der Klientin, die anfangs zu Wort kam, drücken diese Sehnsucht aus.
Der Öffentliche Raum ist der Raum, in dem sich Menschen präsentieren können bzw. wollen. Der Öffentliche Raum fordert heraus, kann Angst hervorrufen oder positiv erregen. Der Öffentliche Raum bietet auch Chancen der Zugehörigkeit und kann die Umgebung bieten, in der Räume der Begegnung (s. Kap. 6) entstehen können. Viele Opfer sexueller Gewalt oder anderer traumatischer Ereignisse, die ihre Erfahrungen nicht verarbeiten konnten, meiden den Öffentlichen Raum. Dies ist verständlich. Wenn die Grenzen des Intimen und Persönlichen Raums erschüttert, gebrochen, gefährdet sind, fehlt die grundlegende Sicherheit, sich im Öffentlichen Raum frei bewegen zu können. Öffentlichkeit wird als Bedrohung erlebt und folglich gemieden.
Andere Opfer traumatischer Erfahrungen wiederum, vor allem solche, die ihre Scham als Wächterin des Intimen Raums verloren haben, bewegen sich bevorzugt im Öffentlichen Raum und spüren sich nur, wenn sie sich in der Öffentlichkeit präsentieren. Dort erleben sie sich als Person. Sie brauchen die öffentliche Resonanz, da Privates mit Schlimmem verbunden ist. Sie benötigen, von anderen gesehen zu werden, um sich selbst als Mensch zu spüren. Öffentlichkeit verbirgt und erregt zugleich – und birgt in sich die Gefahr, dass sich Menschen mit diesem Erleben in der Öffentlichkeit suchtartig verlieren.
Klient/innen leiden oft darunter, dass sie sich in der Öffentlichkeit verlieren oder aber – zumeist – die Öffentlichkeit scheuen. Wenn man daran therapeutisch arbeitet, muss das Augenmerk auf den Schutz und die Stabilisierung des Intimen Raums und des Persönlichen Raums gelegt werden, nicht darauf, ob und wie sich Menschen in der Öffentlichkeit bewegen. Erst der Schutz und die Stabilisierung des Intimen und Persönlichen Raums schaffen den Boden dafür, dass Menschen mehr Wahlmöglichkeiten hinsichtlich ihres Verhaltens in der Öffentlichkeit entwickeln und wahrnehmen können. Das war auch der Weg, den die Klientin, die das Bild malte, mit meiner Unterstützung schon mehrmals beschritten hatte und immer wieder beschreiten musste, weil die traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit so vielschichtige und tiefe Verletzungen bewirkt hatten, dass sich ihr Erleben, ihre Lebendigkeit immer wieder in den kleinen schwarzen Punkt zurückzog.
3.2.2 Der Zentrale Ort, der Unzerstörbare Kern
Wenn Menschen in der Therapie in ihren Körper hineinspüren können, entdecken sie, gefragt oder ungefragt, häufig in sich einen Zentralen Ort oder Zentralen Raum, und damit einen weiteren der Bedeutungsräume. Dieser Zentrale Ort ist ein Ort des Erlebens. Er kann körperlich häufig lokalisiert werden, im Bauchraum, in der Herzgegend, aber auch an anderen, häufig unvermutet wahrgenommenen Stellen des Körpers wie z. B. in den Füßen. Immer hat er den Charakter eines Kerns und auch eines Ortes der Bewertung und der Maßstäbe. Er ist der Zentrale Ausgangspunkt, von dem aus der Intime Raum und der Persönliche Raum strukturiert, gestaltet und gefestigt werden. Wie konkret seine Bedeutung erlebt wird, ist wie bei allen Bedeutungsräumen individuell unterschiedlich. Erleben Menschen sexuelle Gewalt oder andere traumatische Erfahrungen, versuchen sie unwillkürlich, ihren Zentralen Ort zu schützen. Den meisten gelingt dies, indem sie sich mit ihm „wegbeamen“.
Er wird betäubt (freeze) oder spaltet sich dissoziierend in Splitter auf (fragment). Dies ist eine notwendige und sinnvolle Schutzreaktion im Moment des traumatischen Erlebens, die Chronifizierung kann aber dazu führen, dass auch spätere bedrohlich erscheinende Situationen, durch Trigger ausgelöst, ein ähnliches Verhalten wieder hervorrufen, was zum Erleben der Verwirrung, Betäubung, Desorganisation, mangelnder Impulskontrolle und Koordination führen kann. Schlimmere Folgen ruft es hervor, wenn der Schutz des Zentralen Ortes auch durch Wegbeamen nicht gelingt, sondern dieser selbst beschädigt wird, wie z. B bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen (worauf genauer einzugehen, allerdings den Rahmen dieses Buches sprengen würde).
Skizze 1

In dieser Skizze wird der Zentrale Ort „weggebeamt“, ganz oder in Einzelteilen nach außen verlagert. Manche Opfer sexueller Gewalt beschreiben ihr Erleben so, als würden sie sich „von außen“ betrachten, als seien nicht sie es, denen die Gewalt widerfährt.

Skizze 2
Bei vielen Opfern sexueller Gewalt ist der Zentrale Ort so gefährdet und der Intime Raum so verletzt, dass zum Schutz eine Mauer der Unzugänglichkeit aufgebaut wird. Das schützt zwar, schränkt aber soziale Kontakte oft sehr ein.

Skizze 3
Wieder andere verlegen die Verteidigung „nach vorn“, greifen vorsorglich andere Menschen an, die ihnen zu nahe kommen könnten. Der Zentrale Ort ist kein generell körperlich zu lokalisierendes Organ, sondern ein Bedeutungsraum, ein Raum bzw. Ort des Erlebens, und damit ein Bild von großer Kraft zum Verständnis und zur Veränderung menschlichen Erlebens.
Jede Therapie mit Opfern sexueller Gewalt muss darauf ausgerichtet sein, den Zentralen Ort der betreffenden Menschen zu würdigen, zu schützen und zu stärken. Manchmal drängt sich dieses Thema gleich zu Beginn eines therapeutisches Prozesses in den Vordergrund, oft gilt es zuerst den Intimen und den Persönlichen Raum zu stärken, bevor der Zentrale Ort überhaupt erspürt und danach gesucht werden kann, was ihn fördert, heilt, seine Koordinationsfunktion wieder einsetzt bzw. ihn stabilisiert.
Die meisten Opfer sexueller Gewalt, die therapeutische Hilfe benötigen, leiden darunter, dass das Traumaerleben ihren Zentralen Ort bzw. dessen Funktionsweise beeinträchtigt oder beschädigt hat. Das kann von andauernden Entscheidungsunsicherheiten („Ist es richtig, was ich mache?“) über chronische Selbstzweifel („Bin ich richtig?“) bis zu massiven Schädigungen reichen, die als existenzbelastend erlebt werden. Deswegen stehen wir in fast jedem therapeutischen Prozess mit traumatisierten Menschen vor der Notwendigkeit, dem Zentralen Ort Aufmerksamkeit zu schenken und uns seiner Kräftigung und Entfaltung zu widmen.
Wir bitten die Klient/innen, ihren Zentralen Ort in ihrem Körper zu spüren, ihn sich bildlich vorzustellen, ihn zu malen oder als Objekt zu gestalten, ihm einen Klang zu geben oder in einer Geste oder kleinen Bewegung Ausdruck zu verleihen. Auch wenn dies manchmal anfangs nicht oder nur schwer gelingt, ist es immer einen Versuch wert. Wer kein inneres Bild hat, malt die Vermutungen über ein mögliches Bild, wer keine Bewegungen findet, folgt dem ersten Impuls, wer sich kein Objekt vorstellen kann, lässt seine Finger in Stoff oder Papier greifen und diese etwas gestalten, was dann sicherlich mit dem Zentralen Ort zu tun hat. Der Weg ist zweitrangig, wichtig ist, dass die Klient/innen sich mit ihrem Zentralen Ort beschäftigen, dass sie ihn sich ausmalen, in ihn hineinhören, ihn mit allen Sinnen erfassen und ihn ernst nehmen. Dabei kann er nicht nur unterschiedliche Farben und Formen annehmen, sondern auch verschieden bezeichnet werden.
Für viele Menschen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, ist er ein Innerer Ort der Werte. Eine Klientin geriet wiederholt in die Situation, dass sie bei Begegnungen mit einer Arbeitskollegin erstarrte und innerlich vor Angst zu schlottern begann. Sie meinte: „Das liegt nur an meiner Geschichte, dass ich so reagiere. Ich muss das aushalten lernen, unbedingt.“ Die Kollegin war eine Frau, die nur ihre eigenen Auffassungen gelten ließ und die Meinungen anderer nicht respektierte. Dass die Klientin so stark auf sie reagierte, hatte sicherlich mit ihren Traumaerfahrungen zu tun. V.a. aber war sie dafür sensibilisiert, ob Menschen andere (und sie!) respektierten oder nicht. Sie lernte in der Therapie ihren Inneren Ort der Werte schätzen und nahm ihn als Maß für die Beantwortung der Frage: Mit welchen Menschen will ich zusammen sein und mit welchen nicht? Diesen Inneren Ort der Werte nannte sie Oskar: „Der Hund meiner Freundin heißt Oskar. Der weiß ganz genau, wen er mag und wen er nicht mag. Und die, die er nicht mag, bellt er an oder meidet sie.“ Sie nahm sich das Recht, auf ihren „inneren Oskar“ zu hören.
Oft bezeichne ich den Zentralen Ort in der Arbeit mit traumatisierten Menschen als Unzerstörbaren Kern. Wenn Klient/innen davon berichten, dass sie das Gefühl haben, sich in ihre Umgebung hinein aufzulösen, dann frage ich sie nach ihrem Unzerstörbaren Kern. Die Aufmerksamkeit geht dadurch vom Außen (des Verschwindens, s. auch Kap. 7.2) zum Innen, zum Unzerstörbaren Kern. „Jeder lebendige Mensch hat einen unzerstörbaren Kern. Auch Sie. Spüren Sie in sich hinein: Wo ist er? Oder wo könnte er sein?“ Manche Menschen finden ihn schnell, andere müssen mehr oder weniger lange suchen. Dann bin ich beharrlich und begleite sie auf ihrer Suche. Das gilt erst recht, wenn eine Klientin oder ein Klient sagt: „Ich habe keinen Unzerstörbaren Kern“, oder meint, er sei nicht auffindbar. Ich bleibe sicher und manchmal stur dabei: „Sie haben einen. Wenn Sie ihn jetzt nicht finden, dann finden Sie ihn später. Aber Sie finden ihn. Und ich helfe Ihnen dabei.“
Hilfreich sind Fragen danach, wann der Unzerstörbare Kern denn das letzte Mal bemerkt wurde und wobei er geholfen hat. Oder Annäherungsfragen wie: „Wenn er da wäre, welche Farbe hätte er? Welche Konsistenz? Woraus würde er bestehen? …“ Und: „Wo in Ihrem Körper hätte er sein Zuhause?“ Mit Geduld und Fantasie hat jede/r Klient/in den Unzerstörbaren Kern gefunden – wenn er auch immer wieder droht, in Vergessenheit zu geraten. Ihn zu spüren und sich immer wieder (angeregt durch den Therapeuten oder die Therapeutin) daran zu erinnern, sich darauf zu beziehen, gibt Sicherheit. Letzten Endes ist der Unzerstörbare Kern der innere sichere Ort. Ihn zu suchen und zu finden bzw. sich seiner zu vergegenwärtigen, ist eine der wichtigsten Vorbereitungen, damit Opfer sexueller Gewalt ihren traumatischen Erfahrungen begegnen und sie bewältigen können.
Für manche Klient/innen ist der Zentrale Ort identisch mit ihrem Inneren Ort des Glaubens. Entweder sind sie schon lange gläubig oder sie werden es, weil sie merken, dass ihnen neben der Begegnung mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten, die in manchen Phasen manchmal die einzigen Menschen sind, denen sie ihr innerstes Erleben mitteilen, die Begegnung mit einer höheren Macht wichtig ist, der sie sich anvertrauen können.
Die Namen für den Zentralen Ort sind unterschiedlich, da folge ich, wie gesagt, den Bedürfnissen der Klient/innen. Wesentlich ist, dass sie ihren Zentralen Ort entdecken und sich mit ihm beschäftigen. Die Arbeit mit diesem Zentralen Ort zieht sich wie ein Faden durch die Therapie, immer wieder wird darauf Bezug genommen. Auch bei (scheinbaren) Kleinigkeiten frage ich z. B.: „Was sagt Ihr Herz dazu?“ Auch mit dieser Formulierung wird der Innere Ort der Werte angesprochen. Wenn die Not groß ist, die Not sich aufzulösen, die Not, nicht in die Welt gehen oder gar nicht mehr leben zu können, dann ist der Bezug auf den Unzerstörbaren Kern zwingend notwendig und hilfreich.
3.3 Primäre Leibbewegungen – vom Gehört-Werden und Hinschauen über das Greifen zum (misstrauischen) Lehnen ...
Fast jede therapeutische Arbeit mit traumatisierten Menschen mündet in die Arbeit mit den Primären Leibbewegungen oder bezieht sie zumindest mit ein.
Mit Primären Leibbewegungen bezeichnen wir in der Kreativen Leibtherapie grundlegende Bewegungen des Erlebens, innere (eventuell eingefrorene, erstarrte) Bewegungen, die körperlich sichtbar sein können, aber nicht müssen (Baer, Frick-Baer 2001/2008). Primär sind sie in doppelter Hinsicht: Sie sind die ersten Lebens- und Erlebensäußerungen von Säuglingen und sie prägen für viele Menschen, gerade wenn sie viele Störungen und Kränkungen erfahren haben, in „erstrangiger“ Weise ihr Erleben.
Die fünf Primären Leibbewegungen sind das Schauen, Tönen, Greifen, Drücken und Lehnen:
Menschen begegnen sich über das Schauen: Blicke begegnen sich, nehmen Kontakt auf, weichen aus, senden Signale, spielen miteinander, tanzen miteinander. Das Schauen ist wichtig, aber auch das Gesehen-Werden. Wer nicht gesehen wird, verkümmert und zweifelt an sich. Wer nicht würdigend, sondern missachtend und verachtend gesehen wird, wird verletzt.
Mit ihren Tönen geben Menschen ihr Innerstes nach außen, sie werden hörbar und suchen danach, gehört zu werden, manchmal erhört … Zum Tönen gehört auch das Hören: das Bedrohliche einer Atmosphäre, die Stimmung in einer Stimme, die Lautstärke und den Rhythmus eines Atems oder den Klang des Schweigens.
Menschen greifen in die Welt hinaus. Kleine Kinder begreifen über das Greifen. Menschen greifen nach anderen Menschen und werden von ihnen ergriffen, im positiven Sinn – der Menschen hilft, sich zu spüren –, wie auch verletzend und entwürdigend.
Menschen fühlen sich unter Druck oder spüren inneren Druck bzw. üben Druck aus. Druck ist ein Erleben und eine Bewegung, eine körperliche Aktion, in der man andere von sich wegdrückt oder heranzieht, von an deren weggedrückt oder herangezogen wird, oder in der man einen Händedruck erfährt oder eine Hand oder ein Stück Ton drückt usw.
Menschen brauchen es, sich anzulehnen. So hingebungsvoll, wie sich Säuglinge und Kleinkinder anlehnen und anschmiegen können, gelingt dies Erwachsenen nur noch selten. Umso größer ist die Sehnsucht danach. Menschen brauchen es auch, dass andere sich an sie anlehnen, dass sie Halt geben können und dürfen.
Erfahrungen sexueller Gewalt und andere Traumaerfahrungen beeinflussen die Primären Leibbewegungen eines Menschen in vielerlei Hinsicht. Vor allem, wenn sich das Traumaerleben chronifiziert hat, kann dies nachhaltige Folgen haben.
Zum Beispiel:
Die Hilferufe eines Menschen, der Opfer einer Gewalttat geworden ist, sind nicht erhört worden. Er verstummt, schreit nur noch innerlich – und erlebt sich so dauerhaft als „unhörbar“ und „unerhört“.
Opfer sind verletzend im traumatischen Ereignis angegriffen und ergriffen worden. Sie trauen sich nun nicht mehr, sich liebevoll ergreifen zu lassen oder andere zu greifen.
Das Grundvertrauen in ihre Sicherheit wurde durch das traumatische Ereignis gebrochen. Ein Anlehnen und Hingabe ruft in der Folge sofort tiefe existenzielle Ängste, Flashbacks usw. hervor.
Wesentlich für die therapeutische Arbeit ist, dass gemeinsam mit der Klientin oder dem Klienten ein Blick der Einsicht auf die Primären Leibbewegungen gerichtet werden muss. Werden solche Zusammenhänge den Klient/innen bewusst, verstehen sie mehr, wie es ihnen geht und warum das so ist, wie es ist. Sie erhalten die Chance, weniger Energie darauf zu verwenden, mit sich zu hadern, und sich mehr den Veränderungsmöglichkeiten zuzuwenden. In der Therapie verknüpfen sich diagnostische Einsicht und das Ausprobieren, ja Wagen von Veränderungsmöglichkeiten.
Ein Beispiel zum Thema „Gehört-Werden“:
Eine Klientin ist völlig verstummt. Jeder Versuch, ein Wort zu äußern, bleibt ihr im Hals stecken. Ich versuche, ihr eine Brücke zu bauen: „Suchen Sie sich ein Instrument aus, das für Sie sprechen kann.“
Sie greift zu einer schweren Eisenglocke. Hält sie im Stehen. Lässt einen Ton erklingen. Hält inne. Lässt dann noch einen Ton erklingen. Dann mehrere. Bim bam, bim bam. Sie sinkt vornüber. Ich fürchte, sie könne hinfallen und sich weh tun, und halte sie fest, nehme sie in den Arm und bitte sie, sich an mir festzuhalten. Ich spüre, wie es in ihr arbeitet, sie aber innerlich feststeckt und einen Anstoß von mir benötigt. Ich frage sie: „Darf ich Ihnen sagen, was ich gehört habe?“ Sie nickt. „Ich habe Kirchenglocken gehört.“ Sie beginnt zu schluchzen und schüttelt sich. Dabei erzählt sie – die Worte kommen wieder –, was ihr Schreckliches geschehen sei, als sie sehr jung war, in der Sakristei, während die Kirchenglocken erklangen.
Wie bei dieser Klientin sind die traumatischen Erfahrungen bei vielen Opfern sexueller Gewalt mit Geräuschen und anderen Begleitklängen verbunden, die große und lang anhaltende Kraft besitzen. Die Klientin wollte sprechen, aber sie konnte nicht. Der Weg, sich hörbar zu machen, erfolgte über die Glocke, über den Klang dessen, was sie gehört hatte. Dieser Klang hatte sie zum Verstummen gebracht und das, was sie mitteilen wollte, übertönt.
Dem Klang dieser Kirchenglocken, der für diese Klientin so schreckliche Bedeutung hatte, einen anderen Klang entgegenzusetzen, kann zumeist nicht gelingen. Was hier (und meistens) entgegengesetzt werden kann, ist eine Veränderung auf der Ebene einer der anderen Primären Leibbewegungen. Hier hilft das Halten bzw. Drücken, das, während die Klientin erzählt, in ein Lehnen übergeht.
Die Klientin hat in dieser kleinen Sequenz noch etwas anderes „geleistet“: Sie, die den mit den Kirchenglocken verbundenen Schrecken allein überleben musste, hat die Klänge der Glocken und die Worte des Erzählens über die Geschehnisse mit der Therapeutin und damit zum ersten Mal mit einem anderen Menschen geteilt. In der weiteren Arbeit erzählt sie, dass sie immer die Worte in sich hatte: „Nicht machen! Nicht machen!“ Nie wurde sie mit diesen Worten erhört oder gehört. Sie teilt mit vielen Opfern sexueller Gewalt die tiefe Sehnsucht, mit solchen Worten und in ihren Hilferufen endlich gehört zu werden, zu hören: „Ich höre dich.“ Dieser Satz dringt, von Mitgefühl und Wahrhaftigkeit begleitet, am ehesten durch den Horror und das Verstummen.
Was hier zum Hören und Gehört-Werden gesagt wurde, ließe sich ähnlich für die anderen Primären Leibbewegungen beschreiben. Auf einige komme ich in anderen Kapiteln zurück, z. B. auf den Tanz der Augen (Kap. 6.4). Fast immer sind die ersten Impulse und Bedürfnisse der traumatisierten Menschen widersprüchlich. Besonders wenn sie mehrfach Opfer sexueller Gewalt waren, entwickelten sie meist eine Strategie, sich zu verstecken, aus der Aufmerksamkeit der Täter/innen zu verschwinden, um ja nicht wieder ergriffen zu werden. Sie wollten nicht gesehen oder gehört werden. Gleichzeitig hatten sie große Sehnsucht danach, von Menschen gesehen und gehört zu werden, die ihre Verletzungen bemerkt, ihre Not wahrgenommen und ihnen geholfen hätten. Diese Widersprüchlichkeit bzw. Zwei-Spurigkeit des Erlebens gilt es zu kennen.
Besondere Aufmerksamkeit verdient auch die Primäre Leibbewegung Greifen. Vielen Opfern sexueller Gewalt, v.a. solchen, die dieser wiederholt ausgesetzt waren, ist das Greifen abhanden gekommen. Sie wurden ergriffen und deshalb ist für die meisten von ihnen das Greifen etwas Schlimmes oder Böses. Sie packen nicht an, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn, und können ihr Leben nicht „in die Hand nehmen“. Oft bitte ich sie, sich selbst aus Zeitungspapier zu gestalten. Oder den Schmerz aus Ton. Oder ihre Sehnsucht aus Stoff … Wichtig ist, dass sie das Greifen üben und sinnlich erfahren, dass es auch eine andere, positive Qualität haben kann. Manchmal ist es auch ganz egal, wonach sie greifen, die Hauptsache ist, sie greifen. Wenn z. B. eine Klientin oder ein Klient völlig erstarrt ist, fordere ich oft auf, nach irgendetwas zu greifen, irgendetwas in die Hand zu nehmen – fast immer ist dies ein erster Schritt aus der Starre.
An dieser Stelle ist noch einmal zu wiederholen, dass für viele Opfer das traumatische Ereignis nicht mit dem Akt der sexuellen Gewalt beendet ist. Einen Abschluss des traumatischen Ereignisses nach der Tat kann es nur geben, wenn das Opfer unmittelbar danach Hilfe erfährt, Trost, Unterstützung, parteiliche Verteidigung und Ähnliches mehr. Doch bei vielen Menschen, die Opfer einer Gewalttat geworden sind, ist dies nicht der Fall, sie bleiben mit ihrer traumatischen Erfahrung allein, ihnen wird nicht geglaubt, das traumatische Ereignis wird nicht gesehen, sie werden nicht erhört, sie werden nicht getröstet und gehalten. Folglich dauert das Erleben des traumatischen Ereignisses für diese Menschen noch weit über die Tat hinaus an.
Die Phase der Tabuisierung, der Bedrohung („Wenn du etwas erzählst, dann ...“), des Vertuschens nach der sexuellen Gewalttat ist für die Opfer, denen ich begegnet bin, ein wichtiger und oft besonders nachhaltiger Teil ihrer traumatischen Erfahrung. In dieser Phase entstehen viele musterbildende und nachhaltig wirkende Erfahrungen mit den Primären Leibbewegungen. Viele sind verzweifelt darüber, dass sie nicht gesehen und nicht gehört wurden. In der therapeutischen Begegnung gilt es, dafür den Raum bereit zu stellen, Zeuge zu sein, hinzuschauen, hinzuhören. Viele Opfer brauchten es, hätten es gebraucht, nach der Tat umarmt zu werden und getröstet, also im Sinne der Primären Leibbewegungen schützend und tröstend ergriffen zu werden und sich anzulehnen. Geschah dies nicht, können sie in der Therapie eine Haltung des Schutzes und Trostes von Seiten der Therapeut/innen erfahren, um sich so die Fähigkeit des Anlehnens an andere Menschen wieder anzueignen. Dies wird und muss immer wieder oder noch lange Zeit oder dauerhaft von Misstrauen begleitet sein, von der Überprüfung, ob wir, ob der Mensch, an den sich das jeweilige Opfer anlehnen möchte, wirklich vertrauenswürdig ist oder nicht.
Abgesehen davon, dass sich die Primären Leibbewegungen durch künstlerische Prozesse ziehen, können wir mit ihnen in unterschiedlicher Weise kreativ arbeiten. Dass das Tönen und das Wiederbeleben der „eigenen Stimme“ als Quelle für ein Aufrichten in Würde musiktherapeutisch mit zahlreichen kleinschrittigen Experimenten gefördert werden können, liegt auf der Hand. Das Greifen ist ein Grundelement der Kunst- und Gestaltungstherapie, in der nicht nur nach dem Pinsel gegriffen wird, sondern auch nach Zeitungspapier und Ton, nach Holz und Stein und anderen Materialien mehr. Tanz- und bewegungstherapeutisch kann mit allen Primären Leibbewegungen auf vielfältige Weise gearbeitet werden vor allem in tänzerischen Dialogen. Eine Primäre Leibbewegung kommt selten allein, verdient aber oft besondere Aufmerksamkeit, bevor sie der Einbeziehung anderer Primärer Leibbewegungen bedarf, um in Heilungsprozessen veränderbar zu werden.
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